Späte Blüte: Chandler Six und Eight 1926-29

Manche Dinge brauchen ihre Zeit, um zur Blüte zu gelangen, andere blühen noch einmal auf, bevor es mit ihnen zuendegeht.

Im Fall des Apfelbaums auf dem Nachbargrundstück, dessen Zweige auf das unsere hinüberreichen, bin ich nicht sicher, was hier eher zutrifft. Schon der Name der heute raren Sorte – Kaiser Wilhelm – verrät, dass es sich um ein älteres Semester handelt.

Nachdem der Baum die letzten Jahre eher mäßig blühte und die Äpfel oft angegriffen waren, erfreut er uns diesen Frühling durch eine Masse und Pracht an Blüten, die man ihm nicht mehr zugetraut hatte.

Ob es sich um eine späte Blüte kurz vor dem Niedergang handelt, bliebt abzuwarten. Ich bilde mir ein, dass das Phänomen damit zu tun hat, dass ich den Baum letztes Jahr kurzerhand eigenmächtig von teils armdicken Efeuranken befreit hatte.

Die Nachbarn, überfordert von dem gigantischen Grundstück, das über Jahrzehnte von pseudoökologischen Besitzern vernachlässigt worden war, nahmen es wohlwollend zur Kenntnis. Man besucht sich ebenso zwanglos, wie das unsere Katzen auch tun.

Lassen wir uns also überraschen – ich werde vielleicht zur Erntezeit berichten. In einem anderen Fall ist hingegen klar, dass der späten Blüte ein baldiges Ende folgte – die Rede ist von der US-Marke Chandler.

Sie war erst 1914 in Cleveland (Ohio) gegründet worden und hatte sich auf Anhieb einen Ruf als Hersteller grundsolider Mittelklassewagen mit 6-Zylindermotor erworben.

Besonderen Charakter erlangten die Wagen erst 1926 mit der Einführung eines auffallend gestalteten Kühlergrills. Ein Beispiel dafür habe ich vor einigen Jahren hier vorgestellt:

Chandler „Comrade Roadster“ von 1926/27; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dieses im August 1928 auf Usedom aufgenommene Prachtstück war ein Chandler von 1926/27 in der besonders attraktiven Ausführung als „Comrade Roadster“.

Dass selbst eine solche Nischenmarke (wie etliche andere) auf dem deutschen Markt präsent war, ist ein weiterer Beleg für das Angebotsdefizit der produktionstechnisch rückständigen deutschen Hersteller, die der steigenden Nachfrage nicht gerecht werden konnten – speziell im Segment leistungsfähiger und gut ausgestatteter 6-Zylinderautos.

Die senkrechten Haubenschlitze scheinen nach dem Modelljahr 1926 (evtl. noch 1927) keine Anwendung mehr gefunden zu haben. Stattdessen verbaute man Hauben mit horizontalen Schlitzen die auf anfänglich zwei Gruppen verteilt waren.

Man erkennt dieses Detail auf der nachfolgenden Aufnahme eines in Hamburg zugelassenen Chandler, der sich uns hier mit dem erwähnten typischen Kühlergrill darbietet:

Chandler ab 1927; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Dieser Tourer war in den frühen 1930er Jahren im Alpenraum unterwegs. Der Hakenkreuzwimpel muss nicht auf nationalsozialistische Gesinnung der Insassen hindeuten. Bekanntlich hatten die letzten freien Wahlen in Deutschland keine Mehrheit für diese Ideologie unter den Wählern ergeben.

Es kann sich auch schlicht um das damalige deutsche Hoheitszeichen handeln, das auf Auslandsreisen gezeigt wurde. Sie sehen: Die zwanghafte „Nazi“-Riecherei missfällt mir – leider genügt oft schon eine gut organisierte Minderheit (und ihre willige Gefolgschaft), um totalitäre Herrschaft auszuüben.

Die erwähnten horizontalen Luftschlitze begegnen uns wieder, diesmal im April 1933 in Bad Oeynhausen – nun in Verbindung mit einer ziemlich exaltierten Karosserie:

Chandler „Special Six Sportster“ von 1928; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Als ich diese Aufnahme für einen symbolischen Betrag an Land zog, erkannte ich nicht nur, dass es sich wiederum um einen „Chandler“ handeln musste – die Mittelstreben im Kühler gab es damals so nirgends sonst.

Ich meinte auch, dass es sich um eine Spezialkarosserie handeln müsse, wahrscheinlich sogar eine, die in Deutschland geschneidert worden war.

So etwas war seinerzeit keineswegs ungewöhnlich, weil in Deutschland die Käufer solcher US-Mittelklassewagen einkommensmäßig zur Oberschicht gehörten und sich oft auch einen teuren Sonderaufbau leisten konnten.

Umso größer war meine Überraschung, dass genau diese Ausführung mit dem eigenwilligen Zierstreifen an der Hintertür und der separaten Windschutzscheibe für die rückwärtigen Passagiere zum Werksangebot an Karosserien bei Chandler gehörte.

Genau diese Ausführung wurde 1928 als „Special Six Sportster“ angeboten und ist sogar als eine der rund zwei Dutzend Ausführungen des Chandler im legendären „Standard Catalog of American Cars“ abgebildet – auf S. 277 meiner Ausgabe des über 1.500 Seiten starken Opus aus den Händen von Beverly R. Kimes und Henry A. Clark.

Das ist ein hübsches Beispiel für eine späte Blüte der Marke, meine ich. Es geht aber noch besser und wie so oft verdanke ich das Beweisfoto einem meiner Leser:

Chandler „Eight“ von 1928/29; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Auch diese Aufnahme zeigt einen in Deutschland zugelassenen Chandler – festgehalten auf der Fahrt von Hamburg nach Wilsede, wie es in diesem Fall überliefert ist.

Der trinkfreudige Herr auf dem Rücksitz hatte wohl einen Halt angeordnet, um sich mit Harburger Pilsener zu versorgen, das in dem reetgedeckten Haus im Hintergrund ausgeschenkt wurde.

In diesem Fall scheinen wir es wirklich mit einem in Deutschland karossierten Chandler zu tun haben – diese stets etwas schwerfällig wirkenden Vierfenster-Cabriolets mit erhöhter Seitenlinie sind mir bei US-Werksausführungen noch nicht begegnet.

Interessanter ist aber etwas anderes: Die nunmehr drei Gruppen an horizontalen Haubenschlitzen sind nämlich ein Hinweis auf den für das Modelljahr 1928 neu eingeführten Achtzylinder-Chandler.

Dieser war in zwei Versionen mit 80 bzw. 95 PS verfügbar – für US-Mittelklassefabrikate völlig normal, im damaligen Deutschland dagegen nur im Luxussegment verfügbar.

Mit dieser späten Blüte endete anno 1929 die Chandler-Historie.

Das seit 1927 defizitäre Unternehmen war in der Zwischenzeit von der Hupp Motor Car Corporation übernommen worden, die an den Fabrikkapazitäten von Chandler zum Ausbau seiner „Hupmobile“-Produktion interessiert war.

Angesichts der erstaunlichen Präsenz der kurzlebigen Marke von Chandler am deutschen Markt, wie sie die zahlreichen Fotos jener Zeit belegen, wäre es reizvoll zu wissen, ob sich noch irgendwo in deutschen Landen ein solcher Wagen als Zeuge einer letzten späten Blüte befindet, auf die dann nichts mehr folgen sollte…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Auch dafür gab es einst ’nen Händler – der Chandler

Als ich 2015 damit begann, in diesem Blog die Welt der Vorkriegsautos im deutschen Sprachraum anhand zeitgenössischer Fotografien wiederauferstehen zu lassen, hatte ich keine Vorstellung davon, auf welche Entdeckungsreise ich aufgebrochen war.

Am überraschendsten für mich war die Präsenz von Autos amerikanischer Hersteller in den späten 1920er und frühen 1930er Jahren. Keines der gängigen „Oldtimer“-Magazine und auch keine einschlägige Veranstaltung hierzulande spiegelt das annähernd wider.

Dabei reden wir nicht nur von Fahrzeugen bekannter Fabrikate wie Chevrolet, Ford, Nash oder Packard. Auf Tritt und Schritt begegnen einem auch Wagen von weniger bis kaum bekannten Herstellern, die gleichwohl Käufer in deutschen Landen fanden.

Der Nachfrageüberhang am hiesigen Markt war damals so groß, dass selbst heute völlig vergessene US-Marken erfolgreich Autos an den Mann bringen konnten. Die Wagen von Chandler aus Cleveland in Ohio, um die es heute (wieder einmal) geht, sind ein Paradebeispiel dafür.

Der eigentümliche Name der kurz vor dem 1. Weltkrieg gegründeten Firma ist für sich bereits interessant. Zurückführen lässt er sich auf den spätantiken „candelarius“ – eine Person, die in betuchten Haushalten für die Beleuchtung (mit Kerzen oder Öllampen) zuständig war, später ein Händler in entsprechenden Waren.

Im neuzeitlichen Englisch ist ein „chandler“ ein Kaufmann, der verschiedene Produkte oder Ausrüstungsgegenstände im Angebot hat. Ob unser Wort „Händler“ damit verwandt ist, konnte ich spontan nicht klären, der Gleichklang kann auch Zufall sein.

Nur eines ist klar: Selbst für den exotischen Chandler aus Übersee gab es einst bei uns einen Händler – oder gleich mehrere. Denn Chandler-Automobilen begegnet man auf Fotos der Vorkriegszeit an ganz unterschiedlichen Orten, etwa diesem in der Hansestadt Wismar:

Chandler um 1927; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Langjährige Leser meines Blogs kennen die Aufnahme bereits und sind mit der einzigartigen Kühlermaske des Chandler sicher vertraut. Mancher mag sie für ein wenig überladen halten – aber sie gab dem Wagen ein unverwechselbares Gesicht.

Bei der Gelegenheit sei auf die kleinen Positionsleuchten direkt vor der Windschutzscheibe verwiesen, die nach meinem Eindruck nur Chandler-Wagen um 1927 besaßen. Bei den bis zur Liquidierung der Firma 1929 gebauten Modelle sah dieses Detail ganz anders aus.

Somit dürfte auch der Chandler auf ca. 1927 zu datieren sein, welcher auf dieser Aufnahme aus der Sammlung von Leser Klaas Dierks fotografisch verewigt ist:

Chandler um 1927; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der in Hamburg zugelassene Wagen mit Tourenwagenaufbau wurde auf einer Urlaubsreise aufgenommen, eventuell in der Schweiz oder in Österreich.

Ob die hier dreiteilige Stoßstange auf einen Achtzylinder hinweist (daneben gab es zwei Sechszylinderversionen), konnte ich nicht in Erfahrung bringen, eventuell war dies bloß ein auf Wunsch verfügbares Zubehör oder ein Nachrüstteil.

Vermutlich lässt sich das nicht mehr klären – die Präsenz der Marke Chandler am deutschen Markt dürfte nirgends mehr dokumentiert sein und in den Staaten weiß man meist nicht einmal, dass viele US-Marken einst in Deutschland ein Standbein hatten.

Dass es für den Chandler mehr als nur einen Händler hierzulande gegeben haben dürfte, dafür spricht aus meiner Sicht ein weiteres Foto, das einen solchen Wagen zeigt – diesmal mit Zulassung im Raum Rochlitz in Sachsen:

Chandler von 1926/27; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses schöne Foto ist mir erst kürzlich „zugelaufen“, und obwohl ich eigentlich anderes vorhatte, bot es eine willkommene Gelegenheit, es zusammen mit dem ebenfalls „neuen“ obigen Foto aus der Sammlung von Klaas Dierks zu präsentieren.

Hier sehen wir übrigens ein weiteres Merkmal, das die Abgrenzung von Chandler-Wagen der letzten Baujahre 1928/29 erlaubt, und zwar die trommelförmigen Scheinwerfer. Sie wichen anschließend solchen mit schüsselförmigem Gehäuse.

Von den Abmessungen des Vorderwagens her würde ich hier ein Sechszylindermodell (55 bzw. 80 PS) vermuten, der noch längere Reihenachter hätte mehr Platz beansprucht.

Was den Aufbau betrifft, geht es vielleicht manchem Leser so wie mir: Die Gestaltung des Passagierabteils – speziell die doppelten Zierleisten unterhalb der Seitenfenster – erinnert an die von Ambi-Budd (Berlin) für den Adler „Favorit“ bzw. „Standard 6“ Ganzstahlkarosserie.

Doch insbesondere der geschwungene Abschluss der hinteren Seitenfenster verrät bei näherer Betrachtung, dass dies nicht der Fall sein kann. Dieser Chandler wurde höchstwahrscheinlich in dieser Form aus den USA geliefert.

Vermutlich hatten die Arbeiter im Chandler-Werk in Cleveland keine Vorstellung davon, dass ihr Werk in einem Fachwerkidyll in Sachsen landen würde, wo man die Pflege eines solchen exklusiven Wagens offenbar ernster nahm als die Instandhaltung der Gebäude…

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Vor 90 Jahren: Ein Chandler „Comrade Roadster“

Heute präsentiere ich einen besonders schönen Vertreter einer US-Marke, die trotz kurzer Lebensdauer und niedriger Stückzahlen auch im Deutschland der 1920er Jahre einige Fahrzeuge absetzen konnte.

Die Rede ist vom 1914 gegründeten Hersteller Chandler aus Cleveland/Ohio, der nur bis 1929 existierte. Die wertigen Mittelklassewagen errangen auf Anhieb das Vertrauen der Käufer, dennoch spielten sie auch in den USA nur ein Nischendasein.

Eigentlich erstaunlich, dass sich Exemplare davon nach Europa verirrten. Doch speziell der von den einheimischen Herstellern unterversorgte deutsche Markt sog Importwagen ab Mitte der 1920er Jahre auf wie ein Schwamm.

An das folgende Beispiel eines Chandler, der einst hierzulande unterwegs war, erinnert sich vielleicht der eine oder andere Leser:

Chandler „Six“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf dieser Aufnahme, die auf dem Marktplatz der alten Hansestadt Wismar in Mecklenburg entstand, sieht man den erst 1926 eingeführten Kühlergrill mit drei Mittelstreben, die dem Chandler ein unverwechselbares Gesicht gab.

Dieses Detail ermöglicht auch auf Anhieb die Ansprache und Datierung eines weiteren Chandler, der einst ebenfalls in deutschen Landen unterwegs war.

Abgelichtet wurde er an einem idyllischen Waldsee und sein Konterfei reiste als Postkarte vom Seebad Ahlbeck auf Usedom nach Berlin:

Chandler „Comrade Roadster“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Oben links sieht man übrigens den Abdruck des Briefmarkenstempels.

Vermutlich haben sich die beiden zufrieden in die Kamera schauenden Insassen des offenen Zweisitzers sich von einem professionellen Fotografen haben aufnehmen lassen. Der händigte ihnen nach ein, zwei Tagen entsprechende Abzüge im Postkartenformat aus – damals gängige Praxis an Urlaubsorten.

Das war gewissermaßen das „Selfie“ der Vorkriegszeit, nur dass es ein paar Tage länger zu den Empfängern unterwegs war als das heute via Internet geht – doch der Gedanke dahinter war ein ähnlicher.

Nun aber zu dem prachtvollen Wagen mit der schönen Bezeichnung „Comrade Roadster“. Dass es tatsächlich ein Chandler ist, verrät die Gestaltung des Kühlergrills:

Man kann hier gerade noch die erwähnten drei Mittelstreben des ab 1926 modifizierten Chandler-Kühlergrills erkennen.

Sehr geschmackvoll ausgeführt sind die Scheibenräder, deren Zweifarblackierung für eine reizvolle Struktur sorgt. Auf zeitgenössischen Fotos von Chandler-Wagen sieht man meist rustikal wirkende Holzspeichenräder.

Das Zweifarbschema findet sich auch an der Karosserie wieder: Schutzbleche, Schwellerpartie und „Sattel“ (oberhalb der Gürtellinie) sind dunkel gehalten, während die Flanke heller ausgeführt ist.

Dieser Kunstgriff betont die Länge des Wagens und lässt ihn weniger wuchtig erscheinen. Bei der mir nicht mehr verständlichen „Gestaltung“ moderner Fahrzeuge funktioniert so etwas natürlich nicht.

Worauf das Emblem mit dem in Frakturschrift gehaltenen „D“ am Schwellerblech hinweist, kann vielleicht ein Leser sagen. Mir kommt das Logo zwar bekannt vor, doch konnte ich es bislang keiner (Karosserie-)Firma zuordnen.

Unter der langen Haube mit den dezent nach innen statt meist nach außen gepressten Luftschlitzen arbeitete der bewährte Chandler Sechszylinder mit 55 PS. Kurz vor Ende der Produktion 1929 sollte es noch Achtzylinder mit 80 bis 95 PS geben.

Den gehobenen Anspruch von Chandler unterstreicht die sehr gelungene Karosserie im typischen Stil eines „Rumbleseat-Roadsters“:

Hier sind Details wie die dezent am unteren Scheibenrahmen angebrachten Positionsleuchten oder die seitlichen Windabweiser zu erkennen.

Typisch für amerikanische Wagen dieses Typs ist das hinter der Tür angebrachte Fach für Golfgepäck und andere Sportutensilien.

Hinter dem Verdeck dürfen wir noch die ausklappbare Notsitzbank vermuten, für die der Volksmund die boshafte Bezeichnung Schwiegermuttersitz geprägt hat. Dort ließ sich aber auch Reisegepäck verstauen, wenn man zu zweit unterwegs war.

Mit einem solchen feinen „Comrade-Roadster“ von Chandler hatte man allen Grund, sich glücklich zu schätzen. Man sieht dem Paar darin an, dass die beiden wussten, was sie an dem schönen und leistungsfähigen Wagen hatten.

Vermutlich handelte es sich bei den Insassen um gutsituierte Leute aus Berlin, die den Chandler zu einer Urlaubsreise an die Ostsee nach Usedom genutzt hatten. In Berlin standen jedenfalls die Chancen am besten, dass Teile und Wartungsleistungen für solche eher seltenen US-Fahrzeuge verfügbar waren.

Bedenkt man, dass der Chandler auf dem Foto frühestens 1926 enstanden sein kann, die Postkarte aber bereits von August 1928 stammt, sieht der Wagen schon ziemlich mitgenommen aus.

Offenbar waren die beiden damit viel unterwegs. Diese heute meist sorgsam gehüteten und gefahrenen Vorkriegsschätze wurden damals bei jedem Wetter „rangenommen“ und das auch auf oft kaum befestigten Straßen.

Natürlich wussten die Besitzer, wie privilegiert sie mit solchen hochwertigen Fahrzeugen waren, doch deren Sinn bestand weniger im glanzvollen Repräsentieren denn darin,  Mobilität unabhängig von Schienennetzen und Fahrplänen zu ermöglichen.

Das sieht man den Autos auf solchen alten Fotos oft an, wenn es sich nicht gerade um (meist) sterile Werksfotos oder Aufnahmen von Concours-Fahrzeugen handelte.

Umso authentischer wirken heutzutage Vorkriegswagen, die die Spuren eines langen Lebens mit Würde tragen.

Sie besitzen dadurch einen Charakter, der sich nicht mehr herbei“restaurieren“ lässt, wenn der verblichene Lack erst einmal entfernt und das brüchige Leder der Sitze herausgerissen ist, wie das in vielen Fällen leider immer noch ohne Not geschieht…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

Exot aus Ohio unterwegs in Europa: Der Chandler

Mit einem Oldtimerblog für Vorkriegswagen bewegt man sich in einer engen Nische. Da wäre es nicht klug, sich auf nur einen Hersteller oder Typ zu fixieren.

Man würde sich selbst und die Leser auch um das Vergnügen bringen, unerwartete Aha-Effekte zu erleben. Lässt man sich dagegen einfach vom Angebot alter Originalfotos leiten, gelingen immer wieder bemerkenswerte Entdeckungen.

Heute geht es um einen der Kleinserienhersteller aus den USA, die in Europa vermutlich keiner mehr kennt, obwohl sie ihre Wagen einst sogar bei uns verkauften.

Dabei ist Kleinserie relativ zu verstehen. In Amerika galt schon als Nischenproduzent, wer nicht Wagen im sechsstelligen Bereich pro Jahr fertigte.

Ein schönes Beispiel dafür sehen wir auf der folgenden – leicht verwackelten, doch perfekt komponierten – Aufnahme:

Chandler, Bauzeit: 1927-29; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ein solchermaßen inszeniertes Auto Foto verdient höchste Anerkennung.

Die Gebäude im Hintergrund mit ihrer abwechslungsreichen und doch harmonischen Architektur sind unverkennbar mitteleuropäisch.

Leser Thomas Reichl konnte inzwischen die Örtlichkeit näher bestimmen: Es ist der Marktplatz der alten Hansestadt Wismar in Mecklenburg. Dazu passt auch das Nummernschild mit der Kennung MI für Mecklenburg-Schwerin.

Doch der Wagen ist eindeutig amerikanisch. Der stämmige Auftritt mit breiter Spur und kräftiger Stoßstange war nach dem 1. Weltkrieg typisch für viele US-PKW. Erst gegen Ende der 1920er Jahre übernahmen deutsche Hersteller wie Adler und Opel diesen Stil.

Zwar ist der Schriftzug auf dem Kühlergrill nicht leserlich, aber die Marke lässt sich auch so eindeutig identifizieren. Eine derartig markante Kühlermaske mit filigranen Mittelstreben gab es nur bei „Chandler“:

Die Chandler Motor Car Company wurde kurz vor dem 1. Weltkrieg in Cleveland (Ohio) gegründet und sollte nur ein kurzes Leben haben.

Mit preisgünstigen Mittelklassewagen war man in den 1920er Jahren eine Weile recht erfolgreich. Den höchsten Absatz erzielte man 1927 mit dem Modell, das auf unserem Foto zu sehen ist: Rund 18.500 dieser Wagen fanden damals einen Käufer.

Für US-Verhältnisse war das zwar verschwindend gering. Doch gemessen an der Gesamtproduktion deutscher Hersteller (1927: ca. 85.000) war es enorm viel. Und so wundert es nicht, dass einige Chandler auf den europäischen Markt gelangten.

Ihre Attraktivität lag in der Kombination aus günstigem Preis und großzügiger Motorisierung, wie sie in Europa praktisch kein Hersteller bieten konnte.

Bereits die Basisausführung „Six“ des Chandler kam ab 1927 mit einem 6-Zylindermotor daher, der aus knapp 3 Liter Hubraum 55 PS leistete. In der Version“Big Six“ wurde ein über 80 PS starker 4,4-Liter Motor verbaut. Alternativ war der Chandler auch mit 8-Zylindern verfügbar.

Nach dem Rekordjahr 1927 investierte Chalmers in weitere Expansion, übernahm sich dabei aber finanziell. 1929 wurde das Unternehmen von der Hupp Motor Company aus Detroit geschluckt, die an den Fertigungsanlagen interessiert war.

Damit war die Marke Chandler Geschichte – zehn Jahre später musste auch Hupp aufgeben, aber das ist eine andere Geschichte…

Reizvoll wäre es zu wissen, ob heute noch ein Chandler wie auf unserem Foto in Europa erhalten ist. Entsprechende Hinweise aus der Leserschaft sind willkommen!