Typ mit dem gewissen Etwas: Graham-Paige von 1929

Heute werden auf den ersten Blick Frauenwünsche wahr – denn wer von den Damen suchte nicht (meist vergebens) nach einem „Typ mit dem gewissen Etwas“?

Was genau das ist, weiß von jeher niemand genau zu sagen. Die unzureichende Definition, was das gewisse Etwas ausmacht, könnte dazu beitragen, warum so viele Ladies in Beziehungen verharren, die ihnen schaden. So jedenfalls meine Wahrnehmung.

Mag sein, dass sich das in der Menschheitsgeschichte überwiegend als vorteilhaft erwiesen hat, da es in der Natur nicht darum geht, dass die aktuelle Generation glücklich ist, sondern dass sie sich idealerweise für die nächste aufopfert.

So bleibt der Wunsch nach dem Typ mit dem gewissen Etwas meist auf der Strecke. Besser haben es die Buben – jedenfalls gilt das heute für die männlichen Leser meines Blogs, die ich ohne besondere Kühnheit zu beanspruchen, in der Überzahl wähne.

Denn den Herren mit Vorliebe für gediegene Vorkriegs-Limousinen mit reichlich Platz für Kind und Kegel kann ich heute ein Beispiel dafür präsentieren, was einen Typ mit dem gewissen Etwas ganz konkret auszeichnet.

Um die Sache anschaulich zu machen, beginnen wir mit einem Typ, dem das gewisse Etwas ohne Zweifel abgeht, so solide und freundlich er auch zu wirken sich bemüht:

Graham-Paige Sedan-Cabriolet von 1929; aufgenommen in Berlin „Unter den Linden“ vor der Humboldt-Universität; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diesen etwas kastig-unbeholfen wirkenden Typ habe ich bereits vor Jahren identifiziert – jedenfalls was das Auto betrifft.

Die Gestaltung der Hauben und Kühlerpartie findet sich so beim 1929er Modell der erst 1928 gegründeten US-Marke Graham-Paige.

Der Hersteller war, wie das bei den meisterhaft organisierten Ami-Fabrikaten die Regel war, sofort auch in Europa präsent, insbesondere in Deutschland, wo Ende der 1920er Jahre ausländische Fabrikate ein Viertel des Gesamtmarkts abdeckten.

Erst recht in der deutschen Hauptstadt Berlin war ein Graham-Paige kein Exot – dort entfiel damals sogar ein Drittel der Neuzulassungen auf nicht-deutsche Hersteller.

Der Hintergrund der obigen Aufnahme passt perfekt dazu – als einstmals Berlin-Begeisterter erkannte ich auf Anhieb das Universitätsgebäude „Unter den Linden“ lange bevor ich herausfand, was für ein Wagen dort abgelichtet wurde.

Für das Folgende prägen Sie sich bitte die schroff wirkende Frontscheibe und die banalen Scheibenräder ein – und die Haubengestaltung natürlich.

Schon etwas besser als das wuchtige Sedan-Cabrio aus Berlin wirkt der folgende Graham-Paige mit nur zweitürigem Cabrio-Aufbau, den Holszpeichenrädern und dem deutlich geschmeidiger wirkenden Typen davor:

Graham-Paige Cabriolet von 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Was auch immer der ein wenig zu charmant dreinblickende Herr vor dem Auto in seiner Hosentasche zu suchen hatte – er hatte sich die Unsitte wohl einem Filmstar abgeschaut – es war noch nicht das gewisse Etwas, das ich in Aussicht gestellt habe.

Nein, das gewisse Extra, das einen sonst eher konventionellen Typ in einen faszinierenden Charakter verwandelt, das war nicht auf so billige Weise zu bekommen.

Zwar musste man dafür ebenfalls tief in die Tasche greifen, aber nun bekam man eine wahrlich stattliche Erscheinung präsentiert, welche das vollendete Auftreten des Gentleman mit den verführerischen Accessoires des Lebemanns verband.

Genug der zweifelhaften Andeutungen – hier ist er dank Leser Matthias Schmidt (Dresden) – der Typ aus dem Hause Graham-Paige mit dem gewissen Etwas:

Graham-Paige Limousine von 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wer die Qualitäten dieses Typs nicht auf Anhieb erkennt, dem empfehle ich, noch einmal kurz zum ersten Foto zurückzukehren.

Na, sehen Sie jetzt, was ich meine?

Trotz des massigen Aufbaus als 6-Fenster-Limousine, lassen die Drahtspeichenräder den Wagen, der standesgemäß mit potenten 6- und 8-Zylindermotoren verkauft wurde, dennoch leichter erscheinen als die eingangs gezeigte viertürige Cabrioletversion.

Für mich ist das gewisse Etwas an diesem Typ aber etwas anderes. Fällt Ihnen auf, wie spannungsreich die Dachpartie gestaltet ist? Nichts wäre öder gewesen als eine Dachlinie, die parallel der Gürtellinie folgt.

Verfechter des Funktionalismus – in meinen Augen bedauernswerte Zeitgenossen ohne Sinn für unser an der Natur geschultes Formverständnis – mögen jetzt als „Erklärung“ anbringen, dass bei so einer Pullman-Limousine hinten ja die feinen Herrschaften mit hoch aufragenden Zylinderhüten und aufwendigem Kopfputz saßen, während vorne der Chauffeur mit Schirmmütze platziert war – ergo konnte die Dachlinie nach vorn abfallen.

Das ist natürlich Unsinn, man hätte die Dachlinie ja trotzdem waagerecht verlaufen lassen können – Maß nehmend an den „großkopfeten“ rückwärtigen Passagieren.

Nein, hier waren allein ästhetische Prinzipien ausschlaggebend – eine spannende Spiegelung waren nebenbei die späteren Dachlinien von Pinin-Farina, die allein um der Wirkung willen nach hinten abfielen. Noch mein 1974er MGB GT profitierte davon…

Ohnehin ist beim heutigen Typ mit dem gewissen Etwas ein weiteres Element weit wichtiger für den Effekt dieser so auffallend gefällig daherkommenden Limousine:

Sehen Sie hier, was ich meine?

Ist das nicht genial, wie die Halterung der nachgerüsteten Sonnnenblende Bezug nimmt auf die nach oben schießende Zierlinie vor dem vorderen Fensterpfosten?

Selbige Linie endet bei den anderen gezeigten Versionen im Nichts. Hier aber wird sie wie ein Staffelstab aufgenommen und sie führt den Schwung übermütig nach oben wie ein Flugzeug, das zum Looping ansetzt.

Auch die Sonnenblende selbst, welche die nach vorne abfallende Dachlinie fortsetzt und sich mit feinen Zierlinien der übrigen Gestaltung der Karosserie anpasst, ist ein kleines Meisterwerk.

Ob nun Werksextra oder ein außergewöhnlich stimmiges Zubehör – es ist dieses Teil, welches die oben erwähnte schroffe Scheibenpartie förmlich verwandelt.

Ganz genau kann ich es nicht beschreiben – es grenzt an Magie, was hier einst jemand vollbrachte, um diesem Typ das gewisse Etwas hinzuzuzaubern, was eine Standard-Limousine aus Großserienproduktion in einen attraktiven Charakter verwandelte…

Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Für Kenner eine Kleinigkeit: Graham-Paige von 1929

War ich im letzten Blog-Eintrag noch in galaktischen Sphären unterwegs – auch wenn wir letztlich auf dem Boden der Tatsachen landeten, den man für Vortrieb auf vier Rädern braucht – geht es heute in die Gegenwelt des Mikrokosmos.

Wem das noch zu abgehoben klingt, dem sei versichert: Heute befassen wir uns wieder einmal mit reizvollen Kleinigkeiten, die für viele Kenner zum Reiz historischer Automobile gehören.

Mancher landet hier ja, um sich in dieser Hinsicht weiterzubilden, und meinen diesbezüglichen Erziehungsauftrag habe ich in letzter Zeit etwas vernachlässigt. Das liegt aber nur darin, dass diese Fernuniversität für vorgestrige Mobilität keine Gebühren erhebt.

Der Leiter des Janzen lässt sich infolgedessen gern von spontanen Impulsen zu abwegigen Vorträgen verleiten, die vor allem seine eigene Interessenlage widerspiegeln.

Heute sehe ich mich aber wieder einmal dazu imstande, eine Lektion in Kleinigkeiten abzuhalten, an denen sich der Kenner in Sachen Vorkriegswagen erbauen kann, so hoffe ich.

Wie wichtig es ist, seine Lektion gelernt zu haben, das ist mir als altem Lateiner nur zu bewusst. So begegnete mir kürzlich im Nachbarort Butzbach – mit obligatem Römerkastell wie in dem von mir bewohnten Zipfel des Imperiums einst üblich – dieses Gefährt:

Graham Brothers-Lieferwagen in Butzbach, 2024; Bildrechte: Michael Schlenger

Ich stand dort mit einem anderen Altauto-Enthusiasten, als dieser offenbar amerikanische Wagen langsam vorbeirollte. „GB“ war dem Kühler und auf den Nabenkappen zu lesen.

Geschult in antiken Akronymen wie „SC (senatus consultu – auf Senatsbeschluss), „DM“ (dis manibus – den Totengöttern) oder auch „PM“ (pontifex maximus – Oberpriester) kam ich nach kurzem Nachdenken auf die Lösung.

„GB“ steht mitnichten für „Germania Barbarica“, zumal die hessische Wetterau auf der richtigen Seite der römischen Reichsgrenze lag, also in der Provinz Germania Superior.

Nein, „GB“ ist das Kürzel für „Graham Brothers“. Für Kenner ist das eine Kleinigkeit, während mir Fortuna ad hoc zuhilfekam, denn das „GB“-Emblem hatte ich noch nie gesehen.

Gleichwohl hatte ich mich bereits mit einigen automobilen Gewächsen der Gebrüder Graham befasst, die ursprünglich aus dem Nutzfahrzeug-Geschäft kamen. Sie verbauten in ihren Lieferwagen und LKWs vor allem Dodge-Motoren.

Dodge übernahm 1926 diese Sparte und die Graham Brothers ließen sich in bester Kapitalistenmanier etwas Neues einfallen. So kauften sie 1927 die in Schwierigkeiten befindliche Marke Paige aus Detroit.

1928 brachte man den ersten Graham-Paige heraus, der sich für einen Debütanten unglaublich gut verkaufte, nämlich über 70.000mal – im ersten Jahr wohlgemerkt.

Angeboten wurden Modelle mit vier, sechs und acht Zylindern – Kenner wissen, dass das keine Kleinigkeit war, vom Start weg eine derartige Modellvielfalt (mit rund zehn verschiedenen Aufbauten) in Großserie herzustellen.

Wie war das möglich? Die Antwort mag angestellte „Manager“ im Deutschland des 21. Jh. verunsichern: Weil man es sich zutraute, nicht nur Risiken diskutierte, nicht auf staatliche Parolen und Subventionen schielte und: weil man das eigene Kapital eingesetzt hatte.

Das Selbstbewusstsein des Herstellers scheint sich auf diesen von sich eingenommenen Besitzer eines Graham-Paige Cabriolets von anno 1929 übertragen zu haben:

Graham-Paige Cabriolet, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

So sehr der wie ein Filmstar seiner Zeit posierende junge Mann hier das Auge fesselt – man sieht an solchen Ausnahmen, dass doch nicht nur Griesgrame (m(w/d) hierzulande Autos besaßen – so sehr stellt sich die Frage:

Das ist doch auch für Kenner gewiss keine Kleinigkeit, Hersteller und Modelljahr zu ermitteln, oder?

Tatsächlich ist genau das der Fall – denn die Kleinigkeiten liefern dem Kenner oft genug die Anhaltspunkte, die er benötigt.

Das eigenwillige geometrische Emblem auf der Radkappe des Ersatzrads ist typisch für die Marke Graham-Paige und die Anordnung der Luftschlitze auf der Motorhaube liefert den Hinweis auf das Baujahr (wer sich näher für solche Kleinigkeiten interessiert, siehe hier).

Die markante Anordnung der Haubenschlitze findet sich auch an diesem Fahrzeug – offenbar ein zweitüriges Cabriolet, diesmal mit Scheibenrädern:

Graham-Paige Cabriolet, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Mein Verdacht ist, dass wir es mit einem 1929er Graham-Paige mit in Deutschland angefertigter Cabriolet-Karosserie zu haben – damals keine seltene Kombination.

Kenner werden sich hier für Kleinigkeiten wie die Anbringung des Winkers an der Frontscheibenecke interessieren, vielleicht sogar für das in natura vermutlich farbenfrohe Rautenmuster des Pullunders, den dieser gertenschlanke junge Herr trägt:

Auch das dezente Karo der Hose mag Spezialisten Anlass zu einigen Überlegungen geben – immerhin gibt es nach meiner Wahrnehmung eine einschlägige Szene in modischer Hinsicht, wenngleich ich deren Größe auf eine sehr niedrige vierstellige Zahl schätze.

Egal, wahre Kennerschaft braucht keine großen Zahlen, schon gar keine Mehrheitsvoten, sondern nur die nötigen Kleinigkeiten an Informationen und gewachsene Expertise, um ein fundiertes Urteil treffen zu können.

Das gilt nicht nur für den Graham-Paige des Modelljahrs 1929, sondern auch für das Objekt, welches einst auf dem Kotflügel dieses Exemplars abgelichtet wurde:

Als Besitzer einer ziemlich abgerockten, aber noch funktionsfähigen Leica-Kamera der 1930er Jahre würde ich spontan darauf tippen, dass hier eine solche zu sehen ist.

Allerdings bin ich kein Kenner in dieser Hinsicht – ich fand stets die konkurrierende Contax die ästhetisch wie funktionell attraktivere Alternative.

Somit überlasse ich es heute den Kennern, anhand von Kleinigkeiten, welche mir vielleicht nicht zugänglich sind, genau zu sagen, was das für eine Kamera war, die kurioserweise zum Zeitpunkt einer fotografischen Aufnahme eines Graham-Paige dort pausierte…

Sie sehen: Je nach Laune und spontaner Eingebung kann auch einmal das große Ganze aus dem Fokus geraten und man kann sich in Kleinigkeiten verlieren. Mir gefallen beide Perspektiven und so kann ich heute noch nicht sagen, was mich morgen inspiriert.

Material gibt es dermaßen viel, das ich auf individuelle Befindlichkeiten keine Rücksicht nehmen muss. Das hat den Vorteil, dass hier alles möglich ist – vom galaktischen Großdenker-Ansatz bis hin zur mikroskopischen Kenner-Perspektive…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Stets ein treuer Diener: Graham-Paige von 1929

„Wieder einmal ein Graham-Paige, naja…“ mögen verwöhnte Leser meines Blogs nun denken. Dabei sollten sie sich ihrer Privilegien bewusst sein, wenn ihnen dieser kurzlebige US-Hersteller überhaupt bekannt ist.

Tatsächlich wird man einem Graham-Paige in deutschen Landen heute nur sehr selten begegnen – sei es in natura, sei es in irgendeinem der gängigen „Oldtimer“magazine. Aber bei mir spielen US-Fabrikate die Rolle, die ihnen zukommt – eine sehr prominente.

So häufig wie sie im Deutschland der 1920/30er Jahre anzutreffen waren, so häufig werden sie auch hier anhand zeitgenössischer Fotos besprochen, möglichst mit deutscher Zulassung.

Man lernt dabei schnell dazu, doch vor Hochmut sei gewarnt, denn die Welt der US-Vorkriegswagen hat einschüchternde Dimensionen. Egal, wieviel man meint zu wissen, immer wieder stößt man auf Situationen, in denen Demut angezeigt ist:

Graham-Paige Sedan-Cabriolet; Originalabzug aus Sammlung Klaas Dierks

Auf dieser köstlichen Aufnahme, die uns Leser Klaas Dierks zur Verfügung gestellt hat, ist die Rollenverteilung klar ersichtlich: Wer sich mit diesem Auto auskennt, verdient Respekt, und zum illustren Kreis der Kenner zu gehören, dafür muss man dankbar sein.

„Wo wir sind, ist oben“, das ist die Botschaft der Besitzer und des Wagens, der sich auf den ersten Blick als Graham-Paige zu erkennen gibt. Ohne den entsprechenden Schriftzug auf dem Kühlergrill wäre das kein so klarer Fall, denn das Auto könnte sonst als verkleinerter Cadillac des Modelljahrs 1929 durchgehen.

Dabei hatte die erst 1928 gegründete Marke Graham-Paige mit der Cadillac-Mutter General Motor herzlich wenig zu tun – die namengebenden Graham-Brüder kamen aus dem Nutzfahrzeuggeschäft, das sie 1926 an Dodge verkauft hatten.

Doch kam man Ende der 1920er Jahre am GM-Styling schwer vorbei, wenn man auf den Massenmarkt abzielte. Und so folgen Kühlergestaltung und die Anordnung der Luftschlitze in den hinteren zwei Dritteln der Motorhaube dem Vorbild von Cadillac:

Selbst solche schlichten Scheibenräder waren beim Cadillac ebenfalls verfügbar.

Eine Besonderheit des Graham-Paige von 1929 war der „Kamm“ oben auf den Scheinwerfergehäusen, der die Gestaltung des Kühlerdeckels aufnahm. Auch die Doppelstoßstange des Wagens ist etwas anders ausgeführt als beim zeitgleichen Cadillac.

Wie man es bei Graham-Paige fertigbrachte, im selben Modelljahr die wichtigsten Erkennungsmerkmale des Cadillac zu kopieren, wirft Fragen auf. Möglicherweise zirkulierten frühzeitig Zeichnungen von Prototypen in einer Branche, in der man sich infolge von Kooperationen und häufigem Arbeitgeberwechsel gut kannte.

Ansonsten stellt uns dieser Graham-Paige vor keine besonderen Herausforderungen. Das Nummernschild sagt alles über die Zulassung – in der Handels- und Hansestadt Hamburg waren US-Fabrikate kaum weniger gängig als in Berlin.

Apropos Berlin: Dort war einst genau solch ein Graham-Paige des Modelljahrs 1929 unterwegs, den ich bereits vor längerem (hier) vorgestellt habe:

Graham-Paige, Sedan-Cabriolet, Modelljahr 1929; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Identifikation dieses Wagens hatte mich seinerzeit viel Zeit gekostet – mit dem Wissen von heute wäre das dagegen ein Kinderspiel. Hier kann man auch die gegenüber den mächtigen Cadillacs moderateren Proportionen nachvollziehen.

Noch etwas ist aufschlussreich: Man erkennt nämlich, dass das Auto Kurbelscheiben und ein niederlegbares Verdeck besitzt. Dennoch ist es kein Cabriolet, denn dann dürfte es keine feststehenden Türpfosten haben, von denen eine sichtbar ist.

Genau dasselbe Detail findet sich an dem Graham-Paige aus Hamburg:

Einen solchen Aufbau mit Cabriolet-Verdeck und feststehenden Türsäulen bezeichnete man damals als Sedan-Cabriolet – Vorläufer der später in Deutschland so beliebten Cabriolimousine.

Doch solches Detailwissen ist es noch nicht, was einen so demütig stimmen sollte wie den Hund, der hier „Männchen“ gegenüber seiner Herrin macht. So etwas weiß man einfach, spätestens dann, wenn man einige Jahre diesen Blog verfolgt hat.

Doch erst heute grub ich ein weiteres Detail zu Graham-Paige aus, das bestimmt nicht jedem geläufig ist, egal wie lange man sich schon dem alten Blech widmet.

Stets auf der Suche nach Wortspielen und Sprachbildern für den Einstieg in den jüngsten Blog-Eintrag sinnierte ich darüber, was sich der Rolle des prächtigen Hundes abgewinnen ließe, der sich hier scheinbar vollkommen in die Hierarchie einfügt.

Dabei kam mir der Gedanke, dass wir es hier in zweifacher Hinsicht mit einem treuen Diener des Menschen zu tun haben – einem vierbeinigen und einem vierrädrigen. Dann sagte mir mein Sprachgefühl, dass so etwas im Namen des Wagens anklingt.

Tatsächlich passt der Namensbestandteil „Paige“ genau dazu. Denn dieser geht auf die spätlateinische Bezeichnung „pagius“ für einen jungen Diener zurück, die im Mittelalter auf Umwegen ins Englische Einzug hielt. Jetzt weiß man nebenbei auch, woher der „Page“ im Deutschen kommt, auch wenn der es nicht in einen Autonamen geschafft hat.

Doch ist es nicht meine Schuld, wenn Sie bei „Graham-Paige“ jetzt immer an den Hochstapler Felix Krull denken, der seine Karriere ebenfalls als Page begann…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Auch mit 90 ganz schön rüstig: Graham „Opera Coupé“

Nicht rostig, sondern rüstig – das ist das Motto meines heutigen Blog-Eintrags und zugleich ein Plädoyer für einen konservatorischen Ansatz bei Vorkriegsautos im unberührten Originalzustand.

Im Mittelpunkt steht ein Wagen, der auch nach 90 Jahren noch weit davon entfernt ist, auf’s Altenteil geschickt zu werden.

Nahezu alles an ihm ist wie im Jahr seiner Entstehung – 1929. Lediglich eine über Jahrzehnte behutsamer Nutzung entstandene feine Patina unterscheidet ihn vom damaligen Auslieferungszustand.

Die Rede ist von einem Graham-Paige, wie er auch in Deutschland in etlichen Exemplaren präsent war. Eines davon habe ich hier anhand dieses Fotos besprochen, das in Berlin „Unter den Linden“ vor der Humboldt-Universität entstand:

Graham-Paige von 1929; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Seinerzeit hatte es mich einige Zeit gekostet, Hersteller und Typ dieses Sedan-Cabriolets herauszufinden. Die Zahl der in Frage kommenden Marken ist atemberaubend, wenn man feststellt, das es sich um ein US-Fahrzeug handelt.

Besucht man dagegen zeitgenössische Klassikerveranstaltungen, hat man es natürlich einfacher.

Sieht man von Neurotikern ab, die Schilder wie „Fotografieren und Berühren verboten“ aufstellen, geizen die meisten Besitzer von Vorkriegswagen in der Öffentlichkeit nicht mit Informationen über ihre automobilen Schätze.

Erfreulich in dieser Hinsicht waren auch 2019 die bei den Classic Days auf Schloss Dyck am Niederrhein ausgestellten Automobile der Zwischenkriegszeit.

Es gäbe viele Fahrzeuge, die dort zu sehen waren und eine Besprechung verdient hätten. Hier einige Schnappschüsse, die eine Vorstellung von der gebotenen Qualität vermitteln:

Doch neben diesen Klassikern war es ein von vielen Besuchern kaum beachteter Wagen, der für mich die Magie des Vorkriegsautomobils perfekt verkörperte.

Es handelte sich um einen Wagen der erwähnten US-Marke Graham-Paige aus Dearborn im Bundesstaat Michigan, die nur von 1928 bis 1941 existierte. Dort entstand im Jahr 1929 das Auto, um das es heute geht – oder besser: das Chassis und der Motor.

Denn außer dem Fahrwerk und dem Reihenachtzylinder mit satten 120 PS sowie dem Vorderwagen hatte dieser Graham-Paige nur wenig mit den übrigen damals ausgelieferten Fahrzeugen der Marke zu tun:

Graham-Paige „Opera Coupé“; Bildrechte: Michael Schlenger

Der Wagen erhielt vom Karosseriewerk Briggs einen von LeBaron gezeichneten hocheleganten Spezialaufbau als „Opera Coupé“.

Das majestätische Automobil wurde demnach mit einem zweitürigen Aufbau versehen, der außer dem Fahrer lediglich einer weiteren Person Platz bot – einer Dame in opulentem Abendkleid, die hinten quer sitzend die Beine ausstrecken konnte.

Graham-Paige „Opera Coupé“; Bildrechte: Michael Schlenger

Dies war ein Fahrzeug, das für betuchte alleinstehende Frauen gedacht war, die damit zu gesellschaftlichen Veranstaltungen fuhren – vielleicht in der Hoffnung, auf dem Rückweg, von einem Herrn in ebenso angemessenem Automobil „verfolgt“ zu werden…

Der exklusive Aufbau als Coupé verleiht dem Graham-Paige in der Tat femininen Charme und man vergisst glatt die schiere Größe diese Oberklassewagens:

Graham-Paige „Opera Coupé“; Bildrechte: Michael Schlenger

Bemerkenswert, wie hier die Zweifarblackierung die Struktur des Aufbaus betont und wie harmonisch die Farbgebung auf das Auge wirkt.

Das fast immer stilsichere Zusammenspiel der Farben geht den Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Vorkriegszeit, die ich hier sonst zeige, natürlich ab. Der Effekt ist hier umso reizvoller, als es sich um die originale Lackierung von 1929 handelt.

Zur Klarstellung: Dieser Graham-Paige wurde nicht im Stil seiner Zeit neu lackiert – das würde an der anderen Zusammsensetzung der heutigen Lacke scheitern. Nein, er zeigt noch genau die Farben, die vor 90 Jahren aufs Blech aufgetragen wurden.

Dass die Lackierung hier und da Spuren der Zeit aufweist – von Wind und Wetter, aber auch von übereifrigen Polierversuchen früherer Besitzer, das erschließt sich dem Betrachter erst nach und nach:

Graham-Paige „Opera Coupé“; Bildrechte: Michael Schlenger

Hier haben wir die Partie am hinteren Ende der Motorhaube, wo die Positionsleuchten angebracht sind.

Die verchromte Oberfläche weist dezentes „Pitting“ auf, möglicherweise hat sich hier während längerer Standzeiten Flugrost eingenistet, der später wieder wegpoliert wurde.

Sehr schön sind die von Hand gezogenen Linien entlang der seitlichen Zierleisten – dass die US-Hersteller dies trotz industrieller Produktionsweise beibehielten, ist bemerkenswert. Möglicherweise war dies als Zeichen von Manufakturarbeit wichtig.

Am Heck schließlich zeigt sich, dass dieser Wagen tatsächlich ausgiebig benutzt wurde – immerhin hat er seit 1929 rund 100.000 Kilometer zurückgelegt:

Hand auf’s Herz – wer würde angesichts dieses Zustands auch nur einen Moment an eine konventionelle „Restaurierung“ denken, bei der die wunderbar erhaltene Originalsubstanz unwiederbringlich zerstört würde?

Mag sein, dass in weiteren 90 Jahren ein zukünftiger Besitzer sich doch für eine Neulackierung entscheidet. Doch auch dann wird der geschmeidige Reihenachtzylinder nicht mehr als eine gewöhnliche Motorenüberholung benötigen, Chassis und Bleche werden weiterhin von vertrauenerweckender Stärke sein.

Das Beispiel dieses herrlichen Graham-Paige „Opera Coupé“ von 1929 zeigt, wie dauerhaft und ressourcenschonend historische Technik bei umsichtiger Nutzung und sorgfältiger Pflege sein kann.

In Zeiten, in denen gern von Nachhaltigkeit schwadroniert wird, es dabei aber praktisch immer um den Verkauf oder gar die Subvention neuer Produkte geht, machen einen speziell die kaum zerstörbaren Wagen der Vorkriegszeit nachdenklich.

Eventuell wird das letzte dereinst mit Benzin aus der Apotheke betriebene Automobil ein US-Fabrikat der Zwischenkriegszeit sein, während Fahrzeugen mit alternativen Antrieben von grün-roten Fanatikern längst „der Strom“ abgestellt wurde…

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Typisch deutsch: Ein Graham-Paige von 1929 in Berlin

Was in der englischsprachigen Welt als „typisch deutsch“ wahrgenommen wird, spiegelt sich unter anderem in den Wörtern wider, die man mangels eigener Begriffe aus dem Deutschen übernommen hat.

An der Spitze dürfte die „German Angst“ stehen, die in Zeiten bizarrer Phobien gegenüber Elektrosmog, Feinstaub, Gluten usw. fröhliche Urständ zeitigt.

Neben fragwürdigen „Errungenschaften“ wie Blitzkrieg, Oktoberfest und Passivhaus haben es auch romantische Befindlichkeiten wie Gemütlichkeit, Sehnsucht und Weltschmerz in die englische Sprache geschafft.

Selbst die Frage, was eigentlich einen Deutschen ausmacht, ist bereits „typisch deutsch“. In Italien, der Schweiz oder den Niederlanden hat man solche Probleme nicht – man spürt und weiß einfach, wer Landsmann ist und wer nicht.

Diese gut deutsche Vorrede hat viel mit dem eigenwilligen Vorkriegswagen zu tun, den wir heute vorstellen:

Graham-Paige; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Historische Aufnahmen wie diese erklären, weshalb hier mitunter zwei, drei Tage bis zum nächsten Blogeintrag vergehen.

Das in Berlin „Unter den Linden“ vor der ehrwürdigen Humboldt-Universität entstandene Foto hat den Verfasser lange Zeit wieder und wieder beschäftigt.

Dass es sich dabei um kein Modell eines deutschen Herstellers handeln kann, war frühzeitig klar. Zwar waren auch beim Horch 8 Typ 400 die Luftschlitze in der Haube nach hinten versetzt, aber ansonsten gibt es praktisch keine Übereinstimmung.

Die auffallend große Bodenfreiheit lässt einen an einen amerikanischen Wagen denken. In den Vereinigten Staaten musste ein Automobil darauf ausgelegt sein, längere Strecken gegebenenfalls auch ohne befestigte Straße zurücklegen zu können.

So fallen amerikanische Serienfahrzeuge der Vorkriegszeit durch ihre breite Spur und die Auslegung als „high rider“ auf. Letzteres scheint auch hier der Fall zu sein

Leider erkennt man außer Scheibenrädern mit konzentrischer Linierung, eher kleiner Nabenkappe, ausladender Doppelstoßstange und vollverchromten Scheinwerfern nicht viel. Dennoch lässt die Ausführung eine Recherche bei US-Marken vielversprechend erscheinen.

Mangels Hinweisen auf die Markenidentität bleibt einem nur das geduldige Durcharbeiten des über 1.600 Seiten starken, bis 1942 reichenden Standard Catalog of American Cars von Kimes/Clark.

Trotz weit geringerer Zahl an Vorkriegsmarken gibt es für die Hersteller im deutschsprachigen Raum bis heute keine Publikation, die dem nahekommt – wo ist eigentlich die typisch deutsche Gründlichkeit geblieben?

Ein Grund mehr, im Netz zu zeigen, was mit heutigen Publikationsformaten möglich ist. So haben wir vor nicht allzulanger Zeit einen Cadillac von 1928 präsentiert, der auf den ersten Blick Ähnlichkeiten mit dem Wagen aus Berlin aufweist:

Allerdings können wir einen Cadillac aufgrund der schieren Größe des Vorderwagens ausschließen – auch die Gestaltung der Räder passt nicht.

Es gibt aber eine Marke, die sich anno 1929 an der Anordnung der Haubenschlitze am Cadillac des Vorjahrs orientiert zu haben scheint – Graham-Paige.

Tatsächlich bot die 1927 von den Gebrüdern Graham gegründete Firma, deren Basis die seit 1908 bestehende Marke Paige war, im Modelljahr 1929/30 einen Wagen an, dessen Haubengestaltung an Cadillac erinnert.

So einen Graham-Paige, der mit unterschiedlichen Radständen sowie mit Reihensechs- bzw. -achtzylinder verfügbar war, sehen wir höchstwahrscheinlich auf dem eingangs gezeigten Foto.

Verwunderlich ist das nicht. Ende der 1920er Jahre hatten amerikanische Wagen einen Marktanteil von über einem Drittel in Deutschland. Einige Modelle wurden sogar hierzulande in Serie gefertigt oder aus zugelieferten Teilen montiert.

Doch wie sieht es mit der Karosserie unseres Graham-Paige aus Berlin aus?

Auf den ersten Blick meint man ein viersitziges Vollcabriolet zu sehen, bei dem die Seitenscheiben heraufgekurbelt sind.

Doch scheint es sich eher um die sehr deutsche Ausführung als Sedan-Cabriolet zu handeln, das über eine feste B-Säule verfügte und vielleicht einem subjektiven  Sicherheitsbedürfnis entsprang, das man heute ebenfalls als typisch deutsch bezeichnen würde. Vergleichbares gab es in den USA nach Ansicht des Verfassers nicht.

Verfügbar war der Graham-Paige von 1929/30 ab Werk außer als Roadster, Zweisitzer-Cabriolet, Tourenwagen, Coupé und Limousine lediglich als Convertible Sedan. Das war aber weder eine (ebenfalls typisch deutsche) Cabriolimousine, noch ein Sedan-Cabriolet.

Somit dürfen wir annehmen, dass eine unbekannte deutsche Karosseriebaufirma einst den Aufbau des Graham-Paige ab der Schottwand besorgte.

Der großgewachsene Besitzer, der uns hier etwas bemüht anlächelt – der unbeholfene Auftritt galt bei benachbarten Kulturnationen lange ebenfalls als typisch deutsch – kann uns leider nichts mehr zu seinem Auto sagen.

Auf jeden Fall handelt es sich um eines von vielen Beispielen für die hochindividuellen Fahrzeuge, die in der Zwischenkriegszeit deutsche Straßen bevölkerten. 

Oft wissen selbst amerikanische Enthusiasten nicht, welche Verbreitung US-Marken im deutschsprachigen Raum einst genossen und welche bedeutende Rolle dabei einheimische Importeure, Produzenten und Karosserielieferanten spielten.

An sich wäre das ein markenübergreifendes Thema, das eine eigenständige Publikation verdiente. Doch dem scheint ein auffallendes Desinteresse der Deutschen an ihrer Vorkriegsgeschichte – nicht nur in automobiler Hinsicht – entgegenzustehen…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

 

Schon sehr speziell: Ein Graham-Paige von 1928

Es soll Leute geben, die US-Automobile der Vorkriegszeit für langweilige Massenware halten. Primitive Motoren, schlechte Fahrwerke und einfallslose Optik, so lauten gängige Vorurteile.

Ignoriert wird dabei: Ohne die Konkurrenz der modernen, robusten und erschwinglichen US-Wagen der 1920er Jahre hätten die deutschen Hersteller an überholten Konzepten festgehalten und weiter in Manufaktur produziert.

Die „Amerikaner-Wagen“ waren damals in jeder Hinsicht das Vorbild, an dem man sich orientierte, und sei es erst einmal mit gekonnten Nachbauten wie im Fall des Adler Standard 6.

Die deutschen Hersteller holten zwar allmählich auf, doch noch in den 1930er Jahren kamen die entscheidenden Impulse aus den USA. Zu den Höhepunkten gehörte nicht nur nach Ansicht des Verfassers dieses Fahrzeug:

Graham Blue Streak; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist keine Stilikone aus einer französischen Karosserieschmiede, sondern ein eigenständiges Modell eines amerikanischen Nischenherstellers.

Mit dem „Blue Streak“ landete die gerade einmal fünf Jahre alte Firma Graham-Paige 1932 zwar wirtschaftlich keinen großen Erfolg – dafür waren die Stückzahlen zu gering – doch kein Wagen hatte größeren Einfluss auf die Automobilgestaltung jener Zeit.

Nebenbei ein Beispiel dafür, dass die großen Entwicklungsschübe oft nicht von etablierten, bequem gewordenen Herstellern kommen. Die ganze Geschichte des auch technisch fulminanten Modells ist auf diesem Blog hier zu lesen.

Gegen den „Blue Streak“ mutet der eigentliche Gegenstand des heutigen Blog-Eintrags bieder und belanglos an – auf den ersten Blick:

Graham-Paige von 1928; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer bei Vorkriegsautos nicht nur Karosseriedetails und technische Daten im Sinn hat, sondern das gesamte damalige Umfeld faszinierend findet, wird schon die drei Herren mit zeittypischem Gummimantel wohlwollend registrieren.

Dieses klassische Kleidungsstück bieten hervorragenden Regen- und Windschutz, wie der Verfasser aus einer Ausfahrt in einem Cadillac 30 von 1912 weiß.

Immer wieder herrlich zu sehen, zu welchen Kabinettstückchen diese heute so sorgsam gehüteten Vorkriegswagen einst ihre Zeitgenossen veranlassten:

Anders als mancher heutige Besitzer, der verbiestert dem „Besser als neu“-Zustand seines Vehikels hinterherputzt, hatten unsere Vorfahren Freude an ihren Gefährten.

Auch sonst wird sich diese Aufnahme in punkto „authentischer Originalzustand“ noch als überraschend erweisen. Doch erst einmal zur Identifikation des Wagens, an der der Verfasser längere Zeit scheiterte.

Nach Erwerb der US-Vorkriegsautobibel „Standard Catalog of American Cars“ von B.R. Kimes & H.A. Clark gelang es aber, das Rätsel zu lösen – zumindest das des Typs.

Es handelt sich um einen Wagen der erst 1927 entstandenen Marke Graham-Paige. Die markanten Nabenkappen, die Scheibenräder und die leicht spitz zulaufende Kühlermaske passen zum Modelljahr 1928.

Über 70.000 Sechs- und Achtzylinder konnten die aus dem LKW-Geschäft stammenden Gebrüder Graham von ihrem Erstling absetzen – in einem Jahr! Damit hätten sie 1928 70 % der Neuzulassungen im Deutschen Reich abdecken können…

Tatsächlich besaß der Graham-Paige auf dem Foto eine deutsche Zulassung. Doch jenseits der Vorderpartie wirft der Wagen Rätsel auf:

Da wäre zunächst der in der Mitte unterteilte Holzrahmen, der vor dem ursprünglichen Frontscheibenrahmen angebracht wurde. War die durchgehende Originalscheibe geborsten und hatte man sie durch zwei kleinere Scheiben ersetzt?

Warum sind im Innenraum keine gepolsterten Sitze zu sehen und was ist mit der im Original vorn angeschlagenen Tür passiert? Eine diagonal angebrachte Holzlatte scheint stattdessen montiert zu sein.

Der kurze Rahmen des Wagens lässt vermuten, dass wir es mit einem ursprünglich zweitürigen Cabriolet- oder Roadster-Aufbau zu tun haben. Wie es scheint, wurde dieser Graham-Paige nach nur wenigen Jahren in eine Spezialversion verwandelt.

Über die Gründe können wir nur spekulieren. Vielleicht hatte der Wagen einen Unfall und jemand nahm sich des Wracks an, um daraus ein Spaßgefährt zu bauen.

Belegt sind Autos aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg, die in der Zwischenkriegszeit bei deutschen Segelflugclubs als umgebaute Anschleppfahrzeuge landeten. Irgendwie mutet der Graham-Paige wie solch ein zweckentfremdetes Vehikel an.

Über Ideen aus der Leserschaft, was es mit diesem speziellen Graham-Paige auf sich hat, freut sich der Verfasser. Überzeugende Erklärungen werden dann in den Blogeintrag eingearbeitet.

Noch etwas: Zwischen dem Graham-Paige auf dem ersten und demjenigen auf dem zweiten Foto liegen gerade einmal vier Jahredas war Fortschrittsdynamik!

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.