Voilá une voiture familiale! Ein Darracq von 1906/07

Heute gibt es eine kleine Französisch-Lektion, wie der Titel schon anklingen lässt. Wer sich da an öde Schulstunden mit überfordertem Lehrpersonal erinnert fühlt, kann beruhigt sein.

Die Beschäftigung mit unseren linksrheinischen Nachbarn kann viel Freude machen, wenn nicht gerade eine Seite der anderen feindlich gesinnt ist – ein leidiges Dauerthema seit Jahrhunderten. Heute geht es versöhnlich zu, versprochen!

Eine kleine Spitze kann ich mir dennoch nicht verkneifen. Die Franzosen mögen sich ja mit den Italienern den Rang der klangvollsten europäischen Sprache teilen – aber für mich als alten Lateiner sind beide letztlich barbarische Dialekte.

So löst sich der Wohlklang von „Voilá une voiture familiale! – in Wohlgefallen auf, wenn man es ins Lateinische zurück“übersetzt“. Bevor das römische Imperium nämlich einer Übermacht von Kulturbanausen erlag, klang das noch sachlich und ohne Schwulst einfach so: „Vedi, vectura familiaris!

Das parfümiert daherkommende „Voilá“ ist ja nur eine Variante des lateinischen „vedi“ und bedeutet einfach „Siehe da!“ oder „Hier haben wir…“. Und das gespreizt klingende „voiture“ ist bloß eine „Fuhre“ – lateinisch „vectura“. Der Rest mit der Familie versteht sich von selbst.

„Das hier ist eine Familienkutsche“ lautet also der Titel. Und hier haben wir schon das erste Exemplar, wenngleich dieser Wagen noch nicht das „voiture familiale“ ist, auf das ich es abgesehen habe. Es bringt uns dem eigentlichen Gegenstand jedoch schon näher:

Darracq von 1906/07; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Zugegebenermaßen biss ich mir an dieser Aufnahme lange die Zähne aus. Ja, auf dem Kühler ist ein Emblem zu erkennen, aber was um Himmels willen soll darauf zu sehen sein?

In solchen Fällen pflege ich mich an Claus Wulff aus Berlin zu wenden, dessen wohl einzigartige Website zu antiken Kühleremblemen ich nicht oft genug empfehlen kann. „Das ist ein Darracq“ wusste er auf Anhieb, wenngleich ihm genau dieses frühe Emblem der 1896 gegründeten französischen Marke noch in seiner Sammlung zu fehlen scheint.

Durch Vergleich mit Fotos im Netz konnte ich den Wagen auf 1906/07 datieren. Eine nähere Eingrenzung des Typs erscheint schwierig. Wie viele Hersteller der damaligen Zeit deckte Darracq ein breites Spektrum an Motorisierungen ab.

Mein Eindruck ist aber der, dass die Kühlergestaltung auf ein kleineres Modell verweist, da Darracq zur selben Zeit stärkere Typen anbot, deren Kühler anders ausgeführt war – nämlich so wie bei diesem Wagen:

Darracq von 1906/07; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Viel schöner kann ein Foto aus der Frühzeit des Automobils kaum sein, oder?

Während die damaligen Hersteller ihre Fahrzeuge in Reklamen und Prospekten meist stur von der Seite her zeigten, wussten die Besitzer oft schon, wie man so ein Wunderwerk angemessen in Szene setzt – schräg von vorne und mit klassischem Bildaufbau: Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund.

Zwar ist das Kühleremblem abermals nur schemenhaft zu erkennen, doch die markante Gestaltung des Kühlergehäuses lässt keinen Zweifel – auch das ist ein Darracq von 1906/07 – aber eines der stärkeren Modelle.

Die Gemeinsamkeiten mit dem zuvor gezeigten Darracq beschränken sich auf die eigentümliche (wohl mechanisch betätigte) runde Signalvorrichtung unter dem Kühler und die Vorderachskonstruktion:

In Ermangelung brauchbarer Literatur zu den frühen französischen Automobilmarken (ich bin für einschlägige Hinweise dankbar) verzichte ich auf den Versuch einer näheren Einordnung dieses Darracq. Lediglich die Datierung auf 1906/07 traue ich mir anhand einiger stilistischer Merkmale zu.

Sicher ist indessen, dass wir es hier bereits mit einem veritablen Familienauto zu tun haben. Fünf Personen finden darin Platz – wobei der Sitz am Lenkrad dem angestellten Fahrer vorbehalten ist. Dieser musste freilich für diese Aufnahme dem Besitzer weichen, welcher sich hier stolz am Steuer zeigt.

Sieht man von dem kurzzeitig zum Beifahrer degradierten Chauffeur einmal ab, sind die übrigen Insassen ebenfalls gut aufgelegt, auch wenn sie sich tüchtig eingepackt haben – es scheint ein sonniger, doch frischer Tag gewesen zu sein:

Gut eingepackt sind auch auf beiden Reservereifen. Sicher haben Sie weiter oben auch die Überzüge über den Frontscheinwerfern bemerkt, die das empfindliche Glas bei Überlandfahrten vor Steinschlag schützen sollten.

Vermutlich ist dieses schöne Dokument kurz vor der Abfahrt von Verwandten entstanden, die vielleicht einige Tage zu Besuch weilten, bevor es mit der Familienkutsche wieder heimwärts ging.

Jedenfalls muss das ein besonderer Moment gewesen sein, zu dem sich etliche Familienmitglieder versammelt hatten, die mehrere Generationen repräsentierten. Die älteren Damen auf der Treppe zum Haus stammten noch aus der Zeit lange vor Erfindung des Automobils. Man beachte, wie sie auch in fortgeschrittenem Alter auf die schmale Taille Wert legten, die bis zum 1. Weltkrieg Mode bleiben sollte.

Besonders angetan haben es mir aber die hell gekleideten Vertreterinnen der jüngeren Generation, die zusammen ein ganz bezauberndes Bild im Bild abgeben:

Die kräftigere Dame, die an das Türportal gelehnt steht, dürfte die Haushälterin gewesen sein. Sie gehörte ebenso zur Familie wie der kleine Schoßhund auf dem Arm der weißhaarigen Dame links.

Eine solche Inszenierung galt einst einem „voiture familiale“. Was wir heute als Familienkutsche gedankenlos im Alltag nutzen, war einst bei vermögenden Leuten eine neue und ganz großartige Sache – so ändern sich die Zeiten.

Angesichts der zunehmend aggressiven politischen Rhetorik gegenüber dem motorisierten Individualverkehr und dessen gezielter Verteuerung könnte man auf den Gedanken kommen, dass das eigene Automobil in absehbarer Zeit wieder zum Privileg einer dünnen Schicht wird, die sich die damit verbundenen exorbitanten Kosten leisten können.

Ob man dann noch solche heiteren Aufnahmen anfertigen wird, die vom Anbruch einer neuen Zeit künden, das mag man bezweifeln.

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.