„Humber revisited“ im Mai vor 70 Jahren

Der Mai des Jahres 2016 zeigt uns gegenwärtig die kalte Schulter – nach erfreulichem Beginn waren die letzten Tage eher zugig und frisch. Speziell jüngere Männer greifen nach Beobachtung des Verfassers zu Skimützen und Schals, es muss wirklich sehr kalt sein…

In der klimatisch begünstigten Wetterau nördlich von Frankfurt am Main und im Windschatten des Taunusgebirges schien immerhin die Sonne, entsprechend waren viele Klassiker am Pfingstwochenende in der Region unterwegs.

Sonnig muss auch der Mai des Jahres 1946 gewesen sein, als laut umseitigen Vermerks das folgende Foto entstand:

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© Humber Super Snipe, Mai 1946; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wir sehen einen noch recht jungen Mann in schon etwas mitgenommener, aber korrekter Kleidung neben einem ungewöhnlichen Automobil stehen. 

Der 2. Weltkrieg ist seit 12 Monaten vorbei, vielerorts herrscht große Not und in den zerstörten Städten Deutschlands setzt ganz allmählich der Wiederaufbau ein. Man sollte meinen, dass es andere Sorgen gab, doch hier hatte offenbar noch jemand einen Film in der Kamera – und was fotografiert er oder sie?

Einen Freund oder ein Familienmitglied neben einem englischen Auto – ausgerechnet ein Wagen der britischen Besatzer! Darauf weist der „Union Jack“ auf der Stoßstange hin, außerdem das Kürzel „RAF“ auf dem Kennzeichen: Es ist ein Fahrzeug der „Royal Air Force“, die in den Jahren zuvor systematisch deutsche Wohnviertel eingeebnet hatte.

Immerhin scheinen die prächtigen Gründerzeitfassaden im Hintergrund davongekommen zu sein. Selbst im unzählige Male bombardierten Berlin haben einige Straßen den Krieg so überstanden. Wo nur Brandbomben fielen, brannten bestenfalls bloß die Dachstühle aus, die massiven Ziegelmauern verhinderten Schlimmeres.

Wo genau das Foto entstand, wissen wir nicht. Doch der Wagentyp auf der Aufnahme lässt sich identifizieren. Es ist ein Humber Super Snipe, wie er von 1938-40 in rund 1.500 Exemplaren gebaut wurde.

Der Wagen war großzügig motorisiert: sein 4-Liter Sechszylinder ermöglichte eine Spitzengeschwindigkeit von fast 130 km/h. Nach Kriegsausbruch 1939 wurde er für die britische Armee weitergebaut. Mit so einem Wagen haben wir es hier zu tun.

Es ist nur eine Vermutung, doch möglicherweise verband die Person auf dem Foto eine Erinnerung mit dem Humber. Erst kürzlich wurde auf diesem Blog folgende Aufnahme eines ähnlichen Wagens besprochen (Bildbericht):

Zu sehen sind drei deutsche Soldaten, die sich im Jahr 1941 irgendwo auf dem Balkan mit einem von den Briten erbeuteten Humber haben ablichten lassen. Der Mann auf unserem Ausgangsfoto hat sicher ebenfalls am Krieg teilgenommen und vielleicht entsprechende persönliche Erinnerungen an solch einen Wagen.

Britische PKW wurden von der Wehrmacht in großer Zahl 1940 in Dünkirchen und 1941-43 an der Südfront (Balkan, Griechenland, Nordafrika) vom Gegner erbeutet und in den eigenen Fahrzeugbestand eingegliedert. An ein Auto dieses Kalibers erinnerte man sich gern, auch wenn es irgendwann mangels Ersatzteilen aufgegeben werden musste.

Eine ähnliche Geschichte könnte sich hinter unserem Foto verbergen. Übrigens entstand bei der Gelegenheit noch eine zweite Aufnahme, die wir ebenfalls zeigen, obwohl hier das Auto im Hintergrund steht:

Das ist in jeder Hinsicht ein großartiges Foto: Technisch ist die Aufnahme makellos, der Schärfebereich liegt präzise auf dem Porträtierten, die Belichtung könnte nicht besser sein. Auch der Bildaufbau mit dem Wagen und der Häuserzeile im Hintergrund ist ideal.

Der Mann auf dem Bild mit der Nickelbrille und der hohen Stirn schaut selbstsicher in die Kamera. Gut zu erkennen ist die sorgfältige Kleidung mit diagonal gestreifter Krawatte – ein zeitloser Klassiker – und Taschentuch in der Brusttasche. Die aufgesetzten Taschen erinnern an die Uniformjacke eines Offiziers, möglicherweise ein umgearbeitetes Stück:

Doch da ist noch etwas: ein Flugblatt der KPD – der Kommunistischen Partei Deutschlands – auf dem Anschlagbrett. Es erinnert daran, dass für unsere Landsleute in Ostdeutschland die braune Diktatur 1945 durch eine rotlackierte abgelöst wurde.

Diese zettelte zwar keinen Krieg gegen andere Nationen an, sperrte aber die eigene Bevölkerung ein, drangsalierte sie im Namen der „sozialen Gerechtigkeit“ auf’s Übelste und schreckte vor gezielter Ermordung am „antifaschistischen Schutzwall“ nicht zurück.

So ist diese Aufnahme ein Beispiel dafür, dass sich in der Historie der Mobilität auch die allgemeine Zeitgeschichte widerspiegelt. Gerade in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren Autoschicksale oft genug auch Menschenschicksale.

Humber „Pullman“ als Beuteauto in Griechenland

Zu den interessantesten Fotos historischer Automobile gehören Aufnahmen, die erbeutete Fahrzeuge während des 2. Weltkriegs zeigen. Sämtlichen europäischen Kriegsparteien mangelte es an militärischen PKW als Stabs- und Kurierautos, weshalb an allen Fronten eingezogene Zivilwagen eingesetzt wurden.

Wenn sich die Gelegenheit bot, bediente man sich beim Gegner und reihte alles in den eigenen Fuhrpark ein, was verfügbar war. So fuhren in Nordafrika deutsche „Landser“ mit britischen Austins und englische „Tommies“ mit VW-Kübelwagen umher, beide Seiten nutzten auch Fiats der italienischen Kriegspartei.

Das folgende Originalfoto zeigt ein seltenes englisches Fahrzeug, das von einer deutschen Wehrmachtseinheit benutzt wurde:

© Humber Pullman, an der Südfront im Frühjahr 1941; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das Bild ist trotz des kleinen Formats des Abzugs von so guter Qualität, dass es viele Details erkennen lässt. So lässt sich nicht nur der Wagentyp identifizieren, auch zur Truppeneinheit, die ihn verwendete, lässt sich einiges sagen. Außerdem ist eine ungefähre Angabe des Aufnahmeorts möglich.

Werfen wir zunächst einen näheren Blick auf den Wagen, bei dem bereits der hohe, schmale Kühlergrill verrät, dass es kein deutsches Modell ist.

Wer sich mit britischen Vorkriegswagen auskennt oder sehr gute Augen hat, wird anhand der Markenplakette auf der Kühlermaske auf einen „Humber“ tippen. Diese britische Traditionsmarke ist eine der vielen, die in den 1960er Jahren unterging, zuvor aber lange Zeit Erfolg mit hochwertigen Wagen hatte.

Man merkt dem Wagen auf der Aufnahme an, dass er nicht der Kompaktklasse angehört. Auch liegt man richtig mit der Vermutung, dass unter der Haube keines der schwachbrüstigen Triebwerke residiert, wie sie seinerzeit in Deutschland selbst bei Wagen der oberen Mittelklasse verbaut wurden.

Um es kurz zu machen: Wir haben es mit einem Humber „Pullman“ zu tun, einer Limousine mit großzügig dimensioniertem 6-Zylinder-Motor.

Die geteilte und leicht gepfeilte Frontscheibe verrät, dass dieses Auto frühestens 1936 gebaut worden sein kann. Ab diesem Modelljahr leistete der fast 5 Meter lange Wagen rund 100 PS aus 4,1 Liter Hubraum, was eine souveräne Fortbewegung ermöglichte. Im heutigen Sinn schnell war der Wagen nicht, doch darauf kam es damals auch nicht an.

Die Frage ist: Wie gelangte dieser alles andere als geländegängige Wagen in die menschenleere, südlich anmutende Gegend, in der das Foto entstanden ist?

Dabei hift uns das auf der Rückseite des Bildes vermerkte Datum: 13. Mai 1941. Zu diesem Zeitpunkt hatte der deutsche Afrika-Feldzug begonnen, der die verunglückte Operation der italienischen Verbündeten gegen die Briten retten sollte. Doch zu diesem Zeitpunkt bestand dort kaum Gelegenheit zu einem derart entspannten Foto.

Wahrscheinlicher ist eine Entstehung in Griechenland. Dort hatte Italien gegen den Willen der deutschen Führung einen Feldzug gestartet, der nach dem Eingreifen eines britischen Expeditionskorps mit einer krachenden Niederlage endete.

Um eine offene Flanke in Südeuropa zu vermeiden, ordnete Berlin einen Gegenstoß an. Dieser führte Ende April 1941 zum Sieg der deutschen Truppen über das britische Heer und der Besetzung Griechenlands. Bei dieser Gelegenheit fiel der Wehrmacht das schwere Gerät der englischen Verbände in die Hände, wohl auch der Humber.

Das Nummernschild weist laut Eberhard Georgens aus Berlin auf eine provisorische Zulassung des Wagens auf die Feldpostnummer des Stabs des Armee-Nachrichten-Regiments 521 hin. Die Einheit gehörte zur 12. Armee, die den Balkanfeldzug führte

Das Kürzel „WH“ auf dem in Fahrtrichtung linken Vorderschutzblech zeigt die Zugehörigkeit zu einer Heeresabteilung der Wehrmacht an.

Abschließend noch ein Blick auf die drei Soldaten neben dem Wagen:

Alle drei sind Unteroffiziere, wie an den Tressen an Schulterklappen und Kragen zu erkennen ist. Der Mittlere mit der gesunden Gesichtsfarbe dürfte auch derjenige mit dem höchsten Rang sein, wahrscheinlich ein Feldwebel. Das Tragen der Schützenschnur weist auf eine Situation fernab der Front hin.

Als einzige „Bewaffnung“ hält einer der drei eine Balgenkamera in der rechten Hand, die zusammenklappbar war. Dem Format nach war das ein Apparat mit Negativformat 6×6 cm oder größer, der – korrekte Entfernungseinstellung und Belichtung vorausgesetzt – technisch hochwertige Aufnahmen ermöglichte.

Ob diese Soldaten den Rest des Krieges im relativ ruhigen Griechenland zubringen konnten, darf bezweifelt werden. Die deutschen Truppen wurden immer wieder zwischen den zahlreichen Fronten verlegt. Genaues wissen wir in diesem Fall nicht.

Es bleibt ein schönes Bild einer eindrucksvollen Humber-Limousine vor einer friedlichen, sonnendurchglühten Landschaft im Mai vor 75 Jahren…