Zeugen bewegter Zeiten: Autos von Lorraine-Dietrich

Heute präsentiere ich gleich drei historische Fotos von Wagen einer französischen Marke, die von 1905 bis in die 1930er Jahre existierte und deren Produkte im wahrsten Sinne des Wortes Zeuge bewegter Zeiten waren – Lorraine-Dietrich.

Die Bezeichnung basiert auf dem Namen der elsässischen Industriellenfamilie DeDietrich, deren Tradition auf den von einem gewissen Johann Dietrich in Reichshofen ab Ende des 17. Jh. betriebenen Eisenhammer zurückgeht.

Ab 1897 baute DeDietrich in seinen beiden Werken Niederbronn (Elsass) und Lunéville (Lothringen) zunächst Automobile nach Lizenz von Amedée Bollée. 1902 ging man zur Lizenproduktion der weit leistungsfähigeren Wagen von Turcat-Méry über.

1905 wurde der Markenname von DeDietrich in Lorraine-Dietrich geändert. Der Zusatz „Lorraine“ verweist auf den Entstehungsort der Automobile in der historischen Region Lothringen (frz. „Lorraine“).

In diesem Blog-Eintrag habe ich vor einigen Jahren erstmals einen Lorraine-Dietrich vorgestellt. Der Wagen ist auf einer weit größeren Ansichtskarte von 1919 abgebildet:

Das mächtige Automobil besitzt zwar ein deutsches Kennzeichen – passend zum Aufnahmeort im Elsass – ist aber anhand des lothringischen Doppelkreuzes auf dem Kühleremblem eindeutig als französischer Lorraine-Dietrich zu identifizieren.

Das Fehlen eines Windlaufs – also des strömungsgünstigen Übergangs zwischen Motorhaube und Windschutzscheibe – würde bei einem Wagen aus deutscher Herstellung für eine Entstehung vor 1910 sprechen.

Französische Hersteller hielten jedoch noch bis zum 1. Weltkrieg häufig an der traditionellen Frontpartie wie auf dem Foto fest. So dürfte dieser Lorraine-Dietrich um 1912 entstanden sein (für Details siehe meinen seinerzeitigen Blog-Eintrag).

Nur kurze Zeit später herrschte Krieg zwischen Frankreich und dem Deutschen Reich sowie Österreich-Ungarn, dessen Lokalkonflikt mit Serbien den Anlass dazu lieferte.

Wie später im 2. Weltkrieg wurde auf beiden Seiten alles an Automobilen eingezogen, was man bekommen konnte. Auch erbeutete Wagen wurden kurzerhand dem eigenen Fuhrpark einverleibt.

Auf die eine oder andere Weise wurde das deutsche 8. Armeekorps des mutmaßlichen Lorraine-Dietrich habhaft, der auf folgendem Foto von Leser Klaas Dierks zu sehen ist:

Lorraine-Dietrich um 1914; Originalfoto aus Sammlung Dierks

Diese vermutlich für Pressezwecke angefertigte Aufnahme zeigt deutsche Infanteristen, die den in sandigem Boden festgefahrenen Wagen befreien helfen (oder so tun).

Auf der Rückbank des Wagens ist der Überlieferung nach der Hamburger Bildreporter Leopold Schaul (mit Hut und Armbinde) zu sehen.

Den 1. Weltkrieg hat Schaul zwar unbeschadet überstanden, was etlichen Soldaten auf dem Foto wohl nicht vergönnt war. Doch sollte er ein bedrückendes Ende nehmen: 1943 starb er mit seiner Frau als Insasse des Konzentrationslagers Theresienstadt (in Böhmen).

Hier noch eine Ausschnittsvergrößerung der Kühlerpartie des Wagens, bei dem es sich wahrscheinlich um einen Lorraine-Dietrich von ca. 1914 handelt – leider ist die markante Kühlerplakette hier im militärüblichen Grau überstrichen:

Eine eindeutige Identifizierung steht noch aus. Von einer Publikation speziell zu der Marke (Lorraine-Dietrich: De la voiture de grand luxe au géant de l’aéronautique, von: Sébastien Faurès Fustel de Coulanges, hrsg. 2017) erhoffe ich mir näheren Aufschluss.

Unter ganz anderen Umständen – und mit einem überraschenden Detail – wurde der dritte Lorraine-Dietrich abgelichtet, den ich heute präsentieren darf.

Es handelt sich um ein Modell aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre, auf das damals ein Großteil der Automobil-Produktion von Lorraine-Dietrich entfiel – der Sechszylindertyp B3-6, der mit der Angabe seiner Steuer-PS als „15 CV“ verkauft wurde.

Hier sehen wir das gute Stück auf einem Foto aus meiner Sammlung, das wohl in Frankreich entstand und auf verschlungenen Pfaden den Weg nach Deutschland fand:

Lorraine-Dietrich B3-6; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Aufgenommen wurde die Limousine wohl auf einem ländlichen Anwesen an einem schönen Frühlingstag – vielleicht vor einem großen alten Rhododendron-Strauch.

Die oben spitz zulaufende, insgesamt aber flache Kühlerpartie entspricht dem „Gesicht“ der Marke nach dem 1. Weltkrieg bis Anfang der 1930er Jahre. Gut zu erkennen ist hier das lothringische Doppelkreuz, das öfters die Position am Kühler der Wagen wechselte.

Die Doppelstoßstange nach Vorbild amerikanischer Großserienwagen deutet auf eine Entstehung in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre hin, als US-Wagen im Serienbau technisch und formal tonangebend waren.

Der 3,4 Liter messende Sechsyzlinder mit im Zylinderkopf hängenden Ventilen hatte sich in einer Sportausführung beim 24-Stunden-Rennen von Le Mans 1925 und 1926 bewährt. Die Leistungsangaben für die zivile Version schwanken (wohl baujahrabhängig). Um die 50 PS werden es in den späten 1920er Jahren gewesen sein.

Bis 1932 wurde der B3-6 von Lorraine-Dietrich gebaut, also bis fast bis ans Ende der Automobilproduktion des Unternehmens (1934), das bis ins Jahr 2000 unabhängig blieb.

Apropos am Ende: Normalerweise liegt der Fokus bei der Betrachtung von Vorkriegsautos auf alten Fotos auf der Frontpartie, die in der Regeln am meisten Aufschluss zum Typ und Baujahr eines Wagens gibt.

Doch hier offenbart sich auch am Heck des Wagens ein Detail, das für mich den Reiz vieler historischer Automobilfotos ausmacht – die menschliche Komponente. Wer genau hinschaut, sieht nämlich auf der hinteren Stoßstange einen kleinen Jungen sitzen:

Ob der Bub absichtlich dort platziert wurde, ob er sich auf’s Bild geschmuggelt hatte, oder ob es reiner Zufall war, dass er dort saß – das lässt sich nicht mehr in Erfahrung bringen.

Jedenfalls verleiht er der Aufnahme eines bei aller formalen Vollkommenheit letztlich technischen Gebrauchsgegenstands eine menschliche Dimension.

Und wie eigentlich immer bei solchen Fotos stellt sich die Frage: Was wurde aus der schönen Limousine, die hier im Sonnenlicht auf den nächsten Einsatz wartet? Was wurde aus dem Jungen, dessen Leben zum Aufnahmezeitpunkt gerade erst begonnen hatte?

Bei näherer Betrachtung ergibt sich aber noch ein ganz anderes Rätsel: Wann ist dieses Foto eigentlich entstanden? Je länger ich das Nummernschild betrachte, desto mehr zweifle ich daran, dass das im Frankreich der späten 1920er Jahre war – oder doch?

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Vor über 100 Jahren: Ein Lorraine-Dietrich in den Vogesen

Historische Aufnahmen von Automobilen zeigen im Idealfall weit mehr als die Fahrzeuge selbst. Oft sind es die Menschen, die darauf zu sehen sind, die der Aufnahmesituation Leben einhauchen und etwas über den Anlass verraten. Manchmal haben diese Bilder auch geschichtlichen Wert, weil sie von Umbrüchen künden, die bis heute nachwirken.

Die folgende Fotopostkarte ist ein schönes Beispiel dafür:

© Lorraine-Dietrich, Bj. ca. 1912, Le Donon, Vogesen; Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Die private Grußkarte trägt umseitig das Datum 24. März 1919. Adresse und Text sind auf französisch, leider schwer zu entziffern. Doch die Beschriftung der Schauseite ist eindeutig: „In den Vogesen – Der Donon – Hotel Vélleda“ steht dort.

Der Donon ist der Berg im Hintergrund, der in keltischer Zeit ein Heiligtum beherbergte (der Donnersberg in Rheinland-Pfalz lässt grüßen). Das Hotel Vélleda gibt es noch und es sieht beinahe so aus wie damals. Wo heute der Hotelname steht, ist auf unserem Foto aber etwas anderes zu lesen:

„Wirtschaft“ heißt es dort – nicht sehr elegant, aber eindeutig – deutscher geht es kaum. Doch wie kommt diese Bezeichnung kaum ein halbes Jahr nach dem Ende des 1. Weltkriegs auf eine in Frankreich verschickte Postkarte?

Die Erklärung liefert der eindrucksvolle Tourenwagen, der im Vordergrund der Aufnahme platziert ist. Es handelt sich zwar um ein französisches Fabrikat – dazu gleich mehr – doch das Kennzeichen verweist auf eine Zulassung im Deutschen Reich:

Das Kürzel „VI-B“ stand von 1906-1918 für den Bezirk Elsass-Lothringen, der seit 1871 unter deutscher Verwaltung stand. Die dreistellige laufende Nummer spricht Bände über die geringe Verbreitung von Automobilen in damaliger Zeit.

Der Mann neben dem Wagen, der uns den Rücken zuwendet, dürfte der Chauffeur sein, dies lassen die Schirmmütze und die Reitstiefel bzw. Ledergamaschen vermuten. Selbst wenn er von kleiner Statur war, bekommt man eine Ahnung von der enormen Höhe des Wagens. Auch heute noch haben Autos dieses Formats aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg eine beeindruckende Präsenz.

Nach der Lage der Dinge ist die Aufnahme vor dem 1. Weltkrieg entstanden, als das Elsass zum Deutschen Reich gehörte. Kurz nach Kriegsende waren wohl keine neueren Bilder verfügbar, sodass man bei der Postkartenproduktion einfach das alte Foto mit einer französischen Beschriftung versah. Im Elsass mit seinen häufigen Grenzverschiebungen wird man Erfahrung mt solchen pragmatischen Lösungen gehabt haben.

Was ist das aber für ein Wagen auf dem Bild? Autos dieses Typs – ein Tourenwagen oder Phaeton  – gab es seinerzeit von allen Herstellern. Sie lassen sich meist nur an der Gestaltung der Kühlermaske unterscheiden. Im vorliegenden Fall haben wir Glück, da das Fahrzeug ein Markenlogo an der Front trägt.

Schaut man genau hin, erkennt man das „Croix de Lorraine“ – das Lothringer-Kreuz, das auf die gleichnamige Region verweist. Dort war die Fabrik angesiedelt, die den Wagen gefertigt hat: Lorraine-Dietrich.

Die Geschichte dieser französischen Traditionsmarke ist ähnlich kompliziert wie die der jahrhundertealten deutsch-französischen Grenzstreitigkeiten und soll hier nicht wiederholt werden. Sehr wahrscheinlich zeigt das Bild einen Lorraine-Dietrich, der um 1912 gebaut wurde, dafür sprechen zeitgenössische Vergleichsfotos.

Wie es der Zufall will, gibt es im Netz ein großartiges Porträt eines Lorraine-Dietrich von 1912 mit einer Karosserie von Labourdette. Der Aufbau ist zwar anders als auf unserem Foto, doch technisch dürften sich die Fahrzeuge ähneln.

Der Wagen ist nicht zuletzt deshalb ein Juwel, weil er praktisch vollständig original ist. Damit ist nicht – wie hierzulande üblich – „dem Original nachgebaut“ gemeint. Nein, hier wurde die erhaltene historische Substanz hervorragend aufgearbeitet und konserviert, wie dies auch Möbel- und Gemälderestauratoren tun.

Es ist kaum zu glauben, dass dieses über 100 Jahre alte Auto noch seine komplette Innenausstattung besitzt, die lediglich gereinigt und stabilisiert werden musste. Wer sich für solche wirklich originalen Details begeistert, möge sich etwas Zeit nehmen und das folgende Videoporträt des Wagens studieren. Es lohnt sich unbedingt, bis zum Ende durchzuhalten – dieses Auto ist schlicht sensationell.

© http://www.lorraine-dietrich.eu; Videoquelle: vimeo.com