Vor 100 Jahren: Mit dem Westfalia in die Walachei…

Der Oktober des Jahres 2016 geht zuende. Dazu passend beschäftigen wir uns auf diesem Oldtimerblog heute mit einem besonderen Automobilfoto, das vor 100 Jahren entstanden ist, im Oktober 1916.

Über das Auto wissen wir nicht sehr viel – es stellt eine Rarität dar, die in den letzten 100 Jahren wahrscheinlich kaum jemand mehr zu Gesicht bekommen hat. Es handelt sich um einen Tourenwagen der Marke Westfalia.

Hersteller war die in Oelde ansässige Firma Ramesohl & Schmidt, die ab 1906 Automobile mit zugekauften Motoren baute. Ab 1909 produzierte sie Wagen mit selbstkonstruiertem Vierzylindermotor, der bei 1,6 Liter Hubraum 20 PS leistete.

1911 entstanden unter der Marke Westfalia größere Wagen mit bis zu 30 PS. Gefertigt wurden sie in einem neu geschaffenen Werk in Bielefeld. Dieses wurde allerdings schon 1913 von Hansa übernommen.

Rahmesohl & Schmidt führte die Produktion des 1,6 Liter-Modells und des 10/30-PS-Typs in Oelde noch bis 1914 weiter. Dann endete dieses Kapitel der Firmengeschichte.

Einer der letzten in Oelde gebauten Westfalia-Wagen muss bei Kriegsausbruch beim Militär gelandet sein, hier ist er zu sehen:

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© Westfalia 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung: Michael Schlenger

Die Identifikation dieses eindrucksvollen, vermutlich sechssitzigen Tourenwagens bereitete einige Schwierigkeiten. Mangels Markenemblem kam nur eine Zuschreibung nach dem Ausschlussverfahren in Frage.

Nach Durchsicht der dem Verfasser zugänglichen Literatur zu deutschen Automobilen der Zeit vor dem 1. Weltkrieg blieb nur ein Fahrzeug übrig, das präzise diesselbe Kühlerform aufweist, ein Westfalia 10/30 PS.

Verweisen lässt sich in diesem Zusammenhang auf die Abbildung eines Westfalia-Tourenwagens im Standardwerk „Deutsche Autos 1885-1920“ von Halwart Schrader. Dort ist auf Seit 376 derselbe Wagentyp abgebildet, bloß mit einer etwas einfacheren Karosserie von 1911 und der anfänglichen Bezeichnung 10/26 PS.

Die Übereinstimmung der Kühlerpartie ist so frappierend, dass man auch das Auto auf unserem Foto als Westfalia ansprechen kann.

Vielleicht kann die Zuschreibung anhand obiger Detailaufnahme noch von dritter Seite bestätigt werden. Trotz des stark verdreckten Zustands des Wagens lassen sich Details wie Nabenkappe, Scheinwerferhalter und Rahmenausleger genau studieren.

Mehr wissen wir leider nicht über diesen Wagen. Da die Aufnahme nach umseitiger Beschriftung im Oktober 1916 „im Osten“ entstanden ist, können wir aber zumindest etwas zum möglichen Einsatzort sagen.

Folgender Exkurs führt uns hinein ins Geschehen an der Ostfront im Herbst 1916, und vermittelt eine Vorstellung davon, wohin es den vom Militär genutzten Westfalia einst verschlug:

Im Oktober 1916 beherrschte in der öffentlichen Wahrnehmung die gigantische Schlacht an der Somme in Frankreich das Geschehen. Gleichzeitig kam es an der Balkanfront zu rasanten Entwicklungen, die so gar nicht zur Vorstellung des 1. Weltkriegs als jahrelanges Stellungsgemetzel passen.

Denn zu diesem Zeitpunkt bekam Rumänien – das im Sommer 1916 in der Erwartung von Gebietsgewinnen in Siebenbürgen Deutschland und Österreich den Krieg erklärt hatte – zu spüren, was ein moderner Bewegungskrieg war.

Rumänien hatte im August mit 12-facher Übermacht die österreichisch-ungarische Grenze nach Siebenbürgen überschritten und ließ sich vom kaum vorhandenen Widerstand in falsche Sicherheit wiegen. Denn nach Besetzung mehrerer Städte verzichtete man auf weitere Aktionen und ließ sich damit die Initiative abnehmen.

Deutsche und österreichische Einheiten begannen Ende September 1916 eine Gegenoffensive, der die schlecht geführten und mangelhaft ausgerüsteten rumänischen Truppen nicht gewachsen waren. Sie wurden über den transsylvanischen Gebirgskamm zurückgetrieben und waren teilweise in Auflösung begriffen.

Ab Ende Oktober 1916 starteten die deutsch-österreichischen Truppen einen Angriff, der durch die Walachei bis zur Hauptstadt Bukarest führen sollte. Erleichtert wurde der Vorstoß durch eine gleichzeitige Offensive an der Donau, die weite Teile der verbliebenen rumänischen Armee band.

Die irrwitzige Aggression der rumänischen Führung endete mit dem Verlust der Hauptstadt und der Besetzung wichtiger Ölfelder durch den Gegner. Gleichzeitig war Rumäniens Verbündeter Russland durch vergebliche Entlastungsangriffe zusätzlich geschwächt worden. 1917 unterzeichneten die beiden restlos ausgelaugten Länder einen Friedensvertrag mit Deutschland und Österreich.

Unser Foto mit dem Westfalia stellt einen winzigen Ausschnitt aus diesem dramatischen Geschehen dar.

Was hier in wenigen Absätzen skizziert wurde, kostete Hunderttausende von Männern Leben oder Gesundheit. Sie hatten keine Wahl, als sich dem Willen ihrer politischen und militärischen Führung zu fügen. Der Einzelne war Spielball übergeordneter Interessen, die von allen Kriegsparteien rücksichtslos vertreten wurden. 

Es ist die für uns kaum vorstellbare Ausweglosigkeit, die es auch nach 100 Jahren so anrührend macht, den Männern ins Gesicht zu schauen, die damals diesem Geschehen ausgesetzt waren.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass die rumänische Regierung angesichts der absehbaren Niederlage Deutschlands und Österreichs 1918 den Friedensvertrag für nichtig erklärte und erneut in den Krieg eintrat.

Dieses eiskalte Kalkül, das mit dem Blut der eigenen Bürger bezahlt wurde, wurde von den Alliierten mit umfangreichen Gebietsabtretungen von Österreich-Ungarn an Rumänien belohnt.

Auch diese Episode mag verdeutlichen, was von der im Zusammenhang mit dem 1. Weltkrieg lange gepflegten Mär des Kampfs von „Gut und Böse“ zu halten ist. Wie bei Feindbestimmungen in unseren Tagen geht es in Wirklichkeit immer nur um politische Macht – und die Rechnung zahlen die Untertanen…