Die größte Pfeife in Luzern: Cottin & Desgouttes

Zurück aus Italien gilt es, in allerlei Routinen zurückzufinden.

Dazu zählen neben dem Mähen des wild gewucherten Rasens die regelmäßige Betätigung des Blinkers und die grobe Einhaltung der Tempolimits (heute stark erleichtert durch einen Mercedes, der mit unter 60 km/h auf der Landstraße vor mir herzockelte).

Es ruft zudem die Pflicht, im Blog wieder in den alten Trott zurückzufinden, denn es gibt ungeduldige Leser (m/w/d), zu deren Tagesablauf es gehört nachzuschauen, was es Neues aus der Welt der Vorkriegsfotos auf alten Autos (oder so ähnlich) gibt.

Tatsächlich habe ich gleich zwei hübsche Sachen aus dem Süden mitgenommen bzw. unterwegs aufgelesen.

Die eine davon hat merkwürdigerweise nicht nur mit Italien, sondern auch mit Belgien zu tun. Irgendwo dazwischen liegt bekanntlich die Schweiz und dort steht zur zusätzlichen Komplikation ein Auto aus Frankreich – sowie die größte aller Pfeifen.

Wie das alles zusammengeht, weiß ich im Moment selbst noch nicht, aber es wird schon gelingen – also halten Sie durch!

Beginnen wir in Italien – immer eine gute Standortwahl:

Fiat 509 Tourenwagen am Gardasee; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Als ich diese schöne Aufnahme aus den 1920er Jahren aufstöberte, sagte mir mein Bauchgefühl gleich, dass diese an einem der oberitalienischen Seen entstanden sein muss. Nur an welchem, das konnte ich zunächst nicht sagen.

Es gibt freilich einen darunter, den ich nur vom Hörensagen und aus Goethes Italienischer Reise kenne – Deutschlands südlichsten See, auch bekannt auch als Lago di Garda.

Er liegt nicht auf meiner bevorzugten Einfallsroute nach Süden, welche statt über den Brenner über den Gotthardpass führt (dorthin begeben wir uns übrigens demnächst).

Jedenfalls bestätigte sich meine Vermutung, dass sich die markant auf einem Kap liegende Burganlage dort befindet – wo genau, habe ich vergessen, aber ein Leser wird es wissen:

Warum die majestätischen Zypressen, die sich in Italien allerorten finden, in deutschen Landen nur geringer Beliebtheit erfreuen, verstehe ich nicht.

Sie sind frostfest, völlig anspruchslos, bedürfen keinerlei Pflege und wachsen einfach ihr ganzes langes Leben immer weiter gen Himmel – zwei davon zieren seit längerem meinen eigenen Garten und sie legen um rund 20 Zentimeter pro Jahr zu.

Wenn kein teutonischer Tannenfetischist sie eines Tages fällt, werden sie noch in 200 Jahren in edler Einfalt und stiller Größe gen Himmel ragen und damit selbst meinen Blog überdauern.

Der Tourenwagen vor dieser dramatischen Kulisse ist schnell als Fiat 509 identifiziert.

Das Turiner Meisterstück – ein in Massenproduktion nach US-Vorbild gefertigter Kleinwagen mit drehfreudigem 1-Liter Motor mit obenliegender Nockenwelle – war zum Zeitpunkt der Einführung anno 1925 konkurrenzlos und wurde auch in Deutschland gern gekauft.

Wo das am Gardasee abgelichtete Exemplar zugelassen war, lässt sich wohl nicht mehr feststellen:

Ja, ist ja alles schön, aber nichts Neues – das Modell hatten wir im Blog schon öfters.

War im Titel nicht etwas französisch Klingendes angekündigt, wenn auch etwas respektlos als „die größte Pfeife“?

Gewiss, aber wie im richtigen Leben wäre es langweilig, wenn man immer gleich zur Sache käme. So muss ich noch einige Zwischenstationen absolvieren, bevor wir ans Ziel gelangen.

Die erste führt uns nach Belgien, wo es eine bemerkenswerte Comic-Tradition gibt (übrigens mit einer ausgeprägten Seitenlinie in Sachen Automobile).

Vermutlich hat die desaströse Anwesenheit deutschen Militärs gleich zweimal im 20. Jh. den Belgiern das starke Bedürfnis eingeprägt, sich dem Schicksal mit gnadenlosem Humor zu stellen. Ein sympathischer Zug, dem wir Meisterwerke wie die Figur „Gaston“ verdanken.

Dieser liebenswerte Chaot bringt zwar in seinem Bürodasein nichts Konstruktives zuwege, aber er fährt einen Fiat 509 und das zeugte Mitte der 1950er Jahre, als der Comic entstand, von echtem Charakter.

Wie der Autor von „Gaston“ darauf gekommen war, der immerhin 40 Jahre lang seine Kunstfigur durch die Absurditäten des Daseins begleitete, weiß ich nicht. Er wird wohl selbst einen Bezug dazu gehabt haben – vielleicht weiß auch dazu ein Leser mehr.

Mit dem Fiat 509 von Gaston und dem vom Gardasee verlassen wir nun freilich den Süden. Auf dem Heimweg liegt – jedenfalls für mich – die Schweiz. Dort wurde in etwa zur gleichen Zeit das im Titel angekündigte französische Gefährt aufgenommen.

Tja, wie kriegt man nun die Kurve von Fiat-Enthusiast Gaston aus Belgien zu einem Franzosen in der Eidgenossenschaft – und das noch dazu auf dem Rückweg aus Italien?

Ganz einfach, man muss nur einen kleinen Sprung zu Gastons „alter ego“ machen – einer ebenfalls belgischen Parodie auf den sympathischen Loser. Allein das kündet schon von Humor, eine Karikatur zu karikieren.

Ich weiß wenig darüber, außer dass diese Figur statt „Gaston“ nun „Baston“ hieß und von etlichen namhaften Vertretern der Comic-Kunst in die skurrilsten Rollen hineinpersifliert wurde wie etwa Rocker, Firmenpatriarch, Weiberheld usw.

Das weiß ich aber alles nur zufällig, denn von diesem Genre habe ich wenig Ahnung. Ich bin darauf gestoßen, weil das erwähnte Machwerk den hübschen deutschen Titel „Baston, die größte Pfeife aller Zeiten“ trägt.

Mit den größten Pfeifen kenne ich mich wiederum recht gut aus – aber nicht weil ich Raucher wäre oder mir Mitglieder der selbsternannten Priesterkaste in Brüssel nahestünden. Nein, mich faszinieren schlicht große Orgeln und deren einzigartige physische Überwältigungsmacht.

Statt eines Riesenorchesters braucht es im besten Fall nur eine Person an den Manualen und Pedalen, um über ein Instrumentarium zu gebieten, das in die tausende gehen kann.

Nicht zufällig gibt es nur kaum befriedigende Aufnahmen von Orgelmusik. Selbst die teuersten Hifi-Anlagen scheitern an der physikalischen Herausforderung, das den gewaltigen Basspfeifen entsprechende Luftvolumen hinreichend hörbar in Bewegung zu setzen. Die Frequenz als solche ist dabei nicht das Problem, sondern die erforderliche Energie.

Wem das zu abstrakt ist, dem kann geholfen werden, und zwar anhand der größten Pfeife aller Zeiten. Die ist nun nicht mehr eine kuriose Kunstfigur aus Belgien namens Baston.

Um ihr zu begegnen und sie zu erleben, muss man sich vielmehr an einen Ort in der Schweiz begeben, wo einst dieser Tourer parkierte:

Cottin & Desgouttes in Luzern; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Aha, da haben wir endlich den angekündigten Cottin & Desgouttes! Sicher werden Sie jetzt das eine oder andere über ihn erfahren wollen.

Nun, da muss ich Sie enttäuschen und kann nur auf das Porträt eines anderen Wagen dieses Herstellers verweisen, das in meinem Blog hier zu finden ist. Sehr ergiebig ist das aber nicht.

Ist das vielleicht der Grund für das abschätzige Urteil „die größte Pfeife“ nach dem Motto: Über den Wagen lässt sich nichts irgendwie Interessantes sagen?

Nein, das gewiss nicht. Ich habe bloß nicht die geringste Ahnung, was diese Marke der zweiten Reihe (und hunderte andere aus Frankreich) angeht.

Also muss ich auf das Orgelthema zurückkommen und zuvor kurz auf historische Architektur:

Cottin & Desgouttes in Luzern; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Der Cottin & Desgouttes war nämlich vor einer Kirche abgestellt, die mittelalterliche Türme mit einem Renaissance-Portal und einen barocken Giebel darüber vereint.

Umwerfend ist das Ergebnis zwar nicht, aber immerhin sehen wir hier rund 500 Jahre stilistischer Entwicklung in einem einzigen Bauwerk, das dennoch harmonisch wirkt.

Vielleicht sollte man „moderne“ Architekten erst einmal die Standards der Vergangenheit beherrschen lassen, bevor sich sich an etwas Eigenes wagen – sonst kommen weiterhin immer nur diese banalen Schuhkartons in Beton mit Glas heraus wie seit 100 Jahren.

Das eigentlich Interessante befindet sich ohnehin in der Kirche selbst, die manche unter Ihnen bereits als die Hofkirche im schweizerischen Luzern erkannt haben. Diese weiß nicht nur durch ihre kühnen Turmhauben zu beeindrucken, welche ihresgleichen suchen:

Cottin & Desgouttes in Luzern; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Drinnen befindet sich die in Teilen noch originale Orgel aus dem 17. Jahrhundert, welche trotz Umbauten über die Zeit mit einer Sensation aufwarten kann: Der größten Orgelpfeife der Welt.

Dieses am Ende des 30-jährigen Kriegs (1648) entstandene Monstrum misst über 10 Meter an Höhe. Wer mag, kann einmal recherchieren, welche Bassfrequenz damit erzeugt wird und welches kolossale Luftvolumen darin in Schwingung versetzt wird.

Das Erlebnis des Originals entzieht sich jedenfalls der technischen Reproduktion mit heutigen Mitteln. Da gibt es nichts zu „digitalisieren“ und auch die KI wird Ihnen sagen: „Nö, zwecklos.“

Genauso verhält es sich mit Automobilen aus längst vergangenen Zeiten – das Original ist nicht zu ersetzen und ist es einmal verloren, kann man es nicht mehr herstellen, nur sich ihm rein oberflächlich annähern.

Bloß auf alten Fotos können die verschwundenen Zeugen der Vergangenheit noch ein bisweilen spannendes Schattendasein in Schwarz-Weiß weiterführen…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Was zum Teufel…? Ein Cottin & Desgouttes

Heute darf ich einen verteufelt schwierigen Fall präsentieren, obwohl sich der Wagen eigentlich genau so präsentiert, wie man sich das wünscht:

Schön schräg von vorne aufgenommen, sodass man die Kühlerpartie ebenso studieren kann wie die Gestaltung der Vorderkotflügel und der Räder. Und dann prangt auch noch der Markenname unübersehbar auf dem Kühlergrill!

Was will man mehr? Nun, ein Datierungshinweis der fraglichen Aufnahme wäre wohl hilfreich, dann ließe sich auch der Typ eventuell zuverlässiger ermitteln.

Denn der seit 1904 aktive Hersteller aus Lyon – zunächst nur nach Gründer Pierre Desgouttes benannt, ab 1906 dann auch nach dem Kapitalgeber Cyrille Cottin – baute in den 1920er Jahren, in denen wir uns im fraglichen Fall bewegen, eine Reihe von Typen, die sich auf den wenigen erhaltenen Dokumenten oft stark ähneln.

Cottin & Desgouttes hatte nach Ende des 1. Weltkriegs zunächst die Produktion seiner Luxusmodelle mit bis über 7 Liter Hubraum wieder aufgenommen.

1922 brachte man dann den moderater, aber moderner motorisierten Vierzylindertyp M heraus – mit kopfgesteuerten Ventilen, Aluminiumkolben und fünf Kurbelwellenlagern, außerdem – wie andere französische Premiumfabrikate – bereits mit Vierradbremse.

So etwas scheint auf der folgenden Aufnahme links festgehalten zu sein:

Cottin & Desgouttes, aufgenommen in den 1920er Jahren am Roche du Diable in Lothringen; originale Ansichtskarte aus Sammlung Michael Schlenger

Keine Sorge, wir werfen gleich noch einen näheren Blick auf den hier unscheinbar wirkenden Tourer am linken Bildrand. Vorher sei noch darauf hingewiesen, wo diese Situation einst festgehalten wurde:

Am Roche du Diable im östlichen Lothringen war das. Von dort aus kann man einen grandiosen Blick auf den westlich gelegenen Lac de Longemer genießen. Östlich grenzt das Elsass an, man befindet sich etwa auf der Höhe von Colmar, aber in einer völlig anderen wildromantischen Landschaft.

Für die dort entlangführende Straße hat man den Felsdurchbruch später etwas erweitert, doch ansonsten sieht es dort noch ziemlich so aus wie vor bald 100 Jahren. Nur einem Cottin & Desgouttes wird man dort kaum noch begegnen.

Da muss man schon einen Blick in meine Galerie französischer Exoten werfen, wo sich unter anderem diese schöne Reklame findet:

Cottin et Desgouttes: Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Wagen dieser hochkarätigen Marke, die schon früh auch Nutzfahrzeuge baute (Gründer Desgouttes war zuvor bei Pierre Berliet als Konstrukteur beschäftigt) blieben stets rar. Bloß einige hundert Fahrzeuge pro Jahr wurden gebaut und nur wenige haben überlebt.

Zwar gibt es eine sehr informative Website und im April 2017 publizierte mein bevorzugtes Altauto-Magazin „The Automobile“ ein Porträt der Firma, dennoch tue ich mich schwer mit der genauen Typansprache bei diesem speziellen Cottin & Desgouttes:

Dummerweise änderte sich die Kühlerform in der ersten Hälfte der 1920er Jahre kaum und auch die Scheibenräder (bzw. abgedeckten Drahtspeichenräder) findet man bei mehreren Typen, zu denen auch das sportliche Sechszylindermodell M6 Léger zählte.

Auch frühe Exemplare des 1925 entwickelten neuen Typs 11 CV „Sans Secousse“ sahen noch genauso aus (siehe die Reklame hier). Dieses innovative Fahrzeug zeichnete sich unter anderem durch Einzelradaufhängung an allen vier Rädern aus.

Ich möchte nach derzeitigem Kenntnisstand nicht ausschließen, dass ein solcher Cottin & Desgouttes „Sans Secousse“ einst am Roche du Diable haltmachte. Vielleicht liefert ja das Kennzeichen einen Datierungshinweis (bei französischen Nummernschildern möglich).

„Was zum Teufel ist das?“ bleibt also vorerst die Frage und die vorläufige Antwort lautet „Ein Cottin & Desgouttes“ der frühen bis mittleren 20er Jahre…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.