Patina pur: Chalmers 35C bei den Classic Days 2016

Hierzulande gelten Vorkriegsautos bei vielen als entweder untermotorisiert oder als unbezahlbar. Das wird als Grund dafür genannt, dass „wirklich alte“ Autos von jüngeren Oldtimerfreunden gemieden werden.

Die Tatsache, dass man bei Veranstaltungen in Frankreich, den Niederlanden und erst recht in England jede Menge Vorkriegswagen zu sehen bekommt, die von der „Generation Golf“ bewegt werden, weist nach Ansicht des Verfassers auf eine andere Ursache in Deutschland hin – die Tabuisierung der Historie der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts.

Denn natürlich gibt es jede Menge bezahlbarer Vorkriegsautos, und damit sind Fahrzeuge gemeint, die weniger als 10.000 Euro kosten. Wer sich für französische Marken erwärmen kann, findet eine besonders reiche Auswahl vor. Das kann ein fahrbereiter Peugeot 202 sein oder auch ein bloß technisch überholungsbedürftiger Berliet, Citroen oder Licorne.

Wenn es dann auch noch eine ansprechende Motorisierung sein soll, wird man bei US-Herstellern fündig, sofern man auf keine Hochglanzrestaurierung aus ist. Denn es ist das Bestreben, ein altes Auto partout in Neuzustand zu versetzen, was das Ergebnis unabhängig vom Fabrikat so teuer macht.

Wer mit der über Jahrzehnte gewachsenen Patina eines Autos so gut leben kann wie mit den Spuren des Alters an ihm selbst, der dürfte mit einem Gefährt wie dem folgenden glücklich werden:

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© Chalmers 35 C von 1920, Classic Days auf Schloss Dyck 2016; Bildrechte: Michael Schlenger

„CMC“ ist da auf der Kühlerplakette zu lesen, was für „Chalmers Motor Company“ steht. Wer davon noch nie gehört hat, befindet sich in guter Gesellschaft. In der Zeit von der Erfindung des Automobils bis zum 2. Weltkrieg gab es in Europa und den USA über 1.000 (!) eigenständige Hersteller – da hört man nie auf dazuzulernen.

Die Firma Chalmers aus dem einstigen Automekka Detroit existierte von 1908 bis 1923 und baute hochwertige, wenn auch letztlich zu teure Gebrauchswagen. Technisch waren die Fahrzeuge auf der Höhe der Zeit, und boten vor allem im Vergleich zur europäischen Konkurrenz eine mehr als ausreichende Leistung.

Das hier zu sehende Modell Chalmers 35C von 1920 verfügte über einen 4 Liter großen 6-Zylindermotor mit viel Drehmoment und 45 PS. Das waren seinerzeit in Europa Sportwagenwerte. Dabei haben wir es hier mit einer kreuzbraven Tourenwagenkarosserie zu tun, die im englischen Sprachraum als „Phaeton“ bezeichnet wird:

© Chalmers 35 C von 1920, Classic Days auf Schloss Dyck 2016; Bildrechte: Michael Schlenger

Dass dieses leistungsfähige, ansehnliche und großzügige Auto bald 100 Jahre alt ist, fällt schwer zu glauben. Dem Verfasser ist zudem bislang kein Wagen jener Zeit begegnet, das von der Papierform her derartig attraktiv und zugleich so preisgünstig ist.

Denn dieses Auto wurde 2007 auf einer Auktion in den USA für nur 7.700 USD verkauft. Erst ein Jahr zuvor war der Chalmers nach 60-jährigem Schlummer wieder ans Tageslicht geholt worden. Der komplett originale Wagen hatte zuletzt 1942 den Besitzer mit einer Laufleistung von weniger als 30.000 Meilen gewechselt und stand seither in einer Scheune in Pennsylvania.

Nach Montage neuer Reifen auf den Holzspeichenrädern, Überholung der mechanischen Bremsen und Reinigung von Motor, Kühler und Tank war der Chalmers wieder fahrbereit. Alle Instrumente waren vorhanden und funktionsfähig. Leder und Verdeck sind zwar brüchig, wurden aber erhalten, da es unersetzliche Originale sind:

© Chalmers 35 C von 1920, Classic Days auf Schloss Dyck 2016; Bildrechte: Michael Schlenger

Ein derartiges Auto ist ein Zeitzeuge, der durch eine konventionelle Restaurierung seine einzigartige Anmutung verlöre. Die Spuren des sechs Jahrzehnte währenden Aufenthalts in jener Scheune in Pennsylvania zu tilgen, wäre ebensolcher Frevel wie das Übertünchen blassgewordener Fresken in einer alten Kirche oder das Nachmalen eines dunkel gewordenen Ölgemäldes.

Bei einem komplett erhaltenen Fahrzeug wie diesem ist eine gründliche Reinigung und Stabilisierung des historisch gewachsenen Zustands der angemessene Umgang. Wer damit nicht leben kann, soll sich besser eine andere Basis suchen, bei der an einem Neuaufbau objektiv kein Weg vorbeigeht.

Dass ein solches Patina-Fahrzeug bei den Classic Days auf Schloss Dyck 2016 inmitten hochkarätiger Vorkriegsfahrzeuge präsentiert wurde, zeugt vom ausgeprägten Sinn der Veranstalter für Qualität und trägt hoffentlich zum Abbau manches Vorurteils gegenüber Automobilen der Frühzeit bei…

© Chalmers 35 C von 1920, Classic Days auf Schloss Dyck 2016; Bildrechte: Michael Schlenger