Wenn Sie Italien wirklich in aller Ruhe erfahren wollen, fahren Sie im Winter dorthin.
Während es um Weihnachten herum noch überall geschäftig zugeht, scheint das Leben im Januar und Februar fast stillzustehen. Draußen wird nur das Nötigste getan, wenn es irgend geht, bleibt man zuhause. Reisende sieht man so gut wie keine.
Nicht nur kommt man von Norden schneller denn je ans Ziel und zurück – 11 Stunden Autofahrt inkl. Tank- und Kaffeestops für 1200 km Strecke sind sonst kaum erreichbar – man hat auch die schönsten Orte für sich und wenn man es richtig anstellt, vergisst man die Zeit.
Am letzten Tag meines Aufenthalts in Umbrien besuchte ich wieder einmal das Städtchen Bevagna – in etwa auf halber Strecke zwischen Perugia im Norden und Spoleto im Süden in der Tiefebene „Valle Umbra“ gelegen.
Man denkt sich nicht, wieviel Großartiges ein umbrisches Städtchen mit 5.000 Einwohnern zu bieten hat und wie hingebungsvoll das architektonische und historische Erbe gepflegt wird. Erstmals erwähnt wird es als „Mevania“ beim römischen Historiker Livius anlässlich einer Schlacht zwischen römischen und umbrischen Truppen um 300 v. Chr.
Nach der Einigung Italiens unter römischer Herrschaft blühte der Ort für einige Jahrhunderte dank seiner verkehrstechnisch günstigen Lage an der Via Flaminia und dem damals schiffbaren Tiber-Zufluss Topino.
Der bis heute innerhalb des alten Mauergürtels liegende und praktisch ohne neuzeitliche Bauten erhaltene Ort bietet Reste römischer Tempel, Thermen und Theater, ein Geschichtsmuseum im Palazzo Lepri, ein sensationelles Bühnenhaus des späten 19. Jhs. (Teatro Torti) – und vor allem jede Menge mittelalterliche Bauten erlesener Qualität.
Man kann dafür durchaus einen Tag einplanen, sofern man sich länger in Umbrien aufhält oder dorthin zurückkehrt, weil man auch nach dem x-ten Mal nicht alles gesehen hat.
Geparkt wird – wie in italienischen Städten bewährt – außerhalb der Stadtmauern, etwa am südlichen Stadtrand, wo die Römerstraße von Montefalco kommend auf Bevagna stößt.
Vom Parkplatz aus geht es am Waschplatz vorbei über eine breite Brücke in die Altstadt:

Beschaulich, nicht? Gestört wird das Idyll freilich, wenn man in der Brückenmitte das Schild liest: „Zerstört von den Deutschen im Juni 1944“.
Wie unzählige andere historische Brücken in ganz Italien wurden die Originale – oft römische und mittelalterliche, die Jahrhunderte überstanden hatten – von deutschen Truppen gesprengt, die gegen Kriegsende auf der Flucht vor den vorrückenden Alliierten waren.
Im vorliegenden Fall war dies besonders sinnlos, weil es in Sichtweite weitere Brücken gibt, die unbehelligt blieben. Zudem führt der Zugang über die gesprengte Brücke mitten in die verwinkelte Altstadt, während der schnellste Weg nach Norden um den Ort herum führt.
Vielleicht war eine deutsche Einheit wegen der alliierten Luftaufklärung bei Dunkelheit unterwegs oder irgendein frustrierter Kommandeur wollte unbedingt „ein Zeichen setzen“. Die Italiener bauten ihre Brücke 1946 jedenfalls wieder auf.
Verstimmt geht man weiter, leider gibt es solche Orte in Italien an jeder Ecke. Wollten wir nicht die Zeit vergessen? Ja, aber das klappt nicht immer so, wie man sich das wünscht.
Keine Sorge, es wird gleich besser. Von besagter Brücke kommend geht es durch diese Gasse auf die Piazza Silvestri, wo sich einem eine Kulisse wie aus einem Historienfilm darbietet und das Herz aufgeht:
Die Schönheit des Platzes ist kaum mit dem Fotoapparat zu erfassen – man muss selbst dort gewesen sein. Also lasse ich es, mit einer schlechten Aufnahme den Versuch zu unternehmen.
Wie so oft verbergen sich die größten Wunder in Italien nicht in den Bauten, die den Blick als erste auf sich ziehen.
In der Hauptkirche San Michele gibt es nur wenig Aufregendes zu sehen – das Innere ist im Zeitverlauf stark verändert worden.
Doch dreht man sich um, erblickt man die unscheinbare Fassade von San Silvestro. Dort finden wir den ersehnten Raum zur Andacht:
Wer mit der Romanik dunkle und abweisend wirkende Kirchenbauten verbindet, wird in Italien regelmäßig eines Besseren belehrt.
Meist wurde in antiker Bautradition heller Kalkstein als Baumaterial gewählt und das Licht des Südens vermag selbst im Winter für noch mehr Helligkeit zu sorgen.
Im vorliegenden Fall hat man etwas mit dezenten Lampen im Gewölbe nachgeholfen, aber das ist auch die einzige Konzession an die Moderne. Die andächtige Stimmung stellt sich in diesem Raum ganz von alleine ein:
Ob man nun gläubiger Christ ist oder nicht – man verharrt für eine Weile in Ehrfurcht. Und sei es „nur“ in Bewunderung für die Kunst der Baumeister und Arbeiter, die solche Werke zu schaffen vermochten, die noch nach Jahrhunderten ihre Wirkung tun.
Ebenso gedenkt man der vielen Kaufleute, Handwerker und Bauern, deren Arbeit die Überschüsse abwarf, welche in diese Orte der Andacht flossen, an denen sich die Bürger der Stadt und des Umlands zum Gottesdienst einfanden.
Diese Menschen sind längst vergessen und verweht, doch die Früchte ihres Fleißes sind immer noch da und sind der Stolz ihrer Nachfahren.
Lassen wir es dabei, irgendwann wollen wir uns heute auch noch an Vorkriegsautos erbauen, für die das Gesagte ebenso gilt. Also sammeln wir uns und verlassen diesen Ort der Andacht, nicht ohne noch einen Blick auf San Michele gegenüber zu werfen:
Beglückt treten wir hinaus auf den Platz – abgesehen von zwei spielenden Kindern und einigen Einheimischen, die winterlich gekleidet rasch vorübergehen, ist niemand zu sehen.
Tatsächlich ist es draußen wärmer als in der tiefgekühlten Kirche – bei 10 Grad Plus genügt dem Barbaren aus dem Norden eine Übergangsjacke über dem Hemd.
Unternehmungslustig schauen wir uns um: Die Bar Colonna an der Ecke hat geöffnet und lockt sogar mit Eis – doch uns steht der Sinn nach dem Erlebten nach etwas Anderem.
Wir steigen in unsere bewährte Zeitmaschine, schließen kurz die Augen, und finden uns in einer Stadt nördlich der Alpen wider. Wo genau sie sich befindet, das wissen wir nicht genau, aber es muss eine sein, in der sich sehr viel Wohlstand angesammelt haben muss.
Denn dort betreten wir einen anderen Raum der Andacht, der zwar sehr irdischen Dingen geweiht war, aber für dessen Ausstattung es kaum weniger Fleißes bedurfte. Auch hier begegnen wir dem Materie gewordenen Ergebnis menschlicher Visionen und Anstrengungen – diesmal bloß auf leider vergänglichere Werke gerichtet:
Wenn Sie jetzt meinen, dass sich das Inneres eines Autohauses doch nicht mit einem Gotteshaus vergleichen lässt, dann sage ich: Alles lässt sich miteinander vergleichen, das heißt nicht, das alles gleich ist.
In der Moderne – also ab etwa 1920 – wurden keine Kirchen von dem phänomenalen Rang mehr gebaut wie in den rund tausend Jahren zuvor. Und auch der christliche Glaube – ob es einem gefällt oder nicht – hat nicht mehr die Kraft, ganze Gesellschaften dermaßen durchzuformen und zu beherrschen, wie das einst der Fall war.
Als Agnostiker sehe ich das gelassen, zumal die von unseren Vorfahren auf dem Fundament einer im Schwinden befindlichen Weltsicht geschaffenen Wunderwerke fortbestehen. Auch die klassischen Tempel der Griechen verlangen ja keinen Glauben an die einstige Götterwelt – wenngleich mir diese von jeher sympathisch ist.
Ein Meisterwerk menschlicher Kreativität steht für sich, nichts ist überflüssiger als endlose Erläuterungen von Gedichten, Epen, Gemälden oder Skulpturen.
Und da ich das Automobil der 1920er bis 1960er Jahre in seinen besten Exemplaren für bildende Kunst halte, meine ich, dass es seine Wirkung ohne viele Worte entfaltet.
So schreiten wir heute nun dank Leser Jürgen Klein schweigend durch die Hallen eines unbekannten Autogeschäfts, in dem einst unfassbare finanzielle Werte aus den damals noch separaten Häusern Daimler und Benz versammelt waren.
Beginnen wir im „Seitenschiff“ ganz links:
Hier haben wir den teuersten Aufbau auf Basis eines Benz-Spitzkühlwagens der frühen 1920er Jahre – eine Chauffeurlimousine.
Dahinter ein Daimler mit vermutlich ähnlichem Aufbau. Im Hintergrund ahnt man weitere solche Kaliber.
Beim Eintreten in diesen Tempel werden wir gleich vierer Gefährte ansichtig, davon die ersten drei mit offenem Aufbau.
Schön die grafischen Akzente, nicht nur in Form der Tapete im späten Jugenstil, sondern auch in Gestalt der sich wiederholenden Scheinwerferpaare, die zu leuchten scheinen:
Den unzweifelhaften Höhepunkt findet man indessen – ähnlich wie in mancher Kirche – in einer Nische oder sollte ich, um im Bild zu bleiben, sagen: Seitenkapelle?
Wie schon in antiken Tempeln waren in christlichen Kirchen reiche Stifter gern gesehen, spendierten sie doch oft das gewisse Extra an Ausstattung in Verbindung mit der Auflage, gesondert hervorgehoben zu werden.
In dem Sinne hat hier der „Dekorateur“ dieses Autohauses ganze Arbeit geleistet – der hell lackierte Wagen mit topmoderner Stoßstange kann in seiner Ecke sogar mit eigener Heizung aufwarten, auf dass seine Verehrer besonders gerne bei ihm verweilen:
Was das nun genau für Modelle von Daimler und Benz waren, diese Frage ist so abwegig wie die, welche Farbpigmente ein Freskenmaler der Renaissance einst verwendete.
Die besten Werke menschlicher Schaffenskraft bedürfen keiner solcher Überlegungen – alles was man darüber wissen muss, das vermitteln sie einem von selbst.
Wem der Vergleich einer romanischen Kirche mit einem Auto-Verkaufsraum der Vorkriegszeit weit hergeholt sein oder gar geschmacklos erscheinen mag, dem sei gesagt:
Jede Zeit mag für sich die Formen entwickeln, mit denen sie fundamentale Leidenschaften zum Ausdruck bringt. Man findet das dort, wo materieller Überfluss und die Freude am opulenten Einsatz von Material und Können herrschen. In solchen Zeiten hat der Mensch die ärgsten Nöte überwunden und kann zu mehr werden als einem Überlebenskünstler.
Dort hingegen, wo nur Verzicht und Einschränkung gepredigt werden, wo das Unnötige und Schöne zur Sünde erklärt wird, dort gedeiht nichts Gutes im Menschen.
Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.