Fund des Monats: Ein „Progress“-Taxi um 1908

Der Fund des Monats Oktober 2024 ist wie immer nichts ganz Alltägliches aus der Welt des Vorkriegsautomobils. Was ihn noch außergewöhnlicher macht als „gewöhnlich“ ist die Frage, ob er tatsächlich das ist, was er eindeutig zu sein vorgibt.

Dieses Phänomen begegnet einem mit zunehmender Erfahrung öfters. Das was besonders plakativ auf sich als objektive Gewissheit aufmerksam macht, weckt irgendwann Misstrauen. In solchen Fällen ist man gut beraten, genauer hinzuschauen und nicht dem Augenschein oder einer auffallend laut vorgetragenen Botschaft zu vertrauen.

Beispiele dafür finden sich nicht nur im richtigen Leben, sondern auch im Rahmen der Beschäftigung mit frühen Automobilen. Immer wieder stößt man auf Exemplare, die etwas vorzugeben scheinen, was sie bei näherem Hinsehen unmöglich sind.

Ein hübsches Beispiel dafür ist dieser Tourenwagen der frühen 1920er Jahre:

unbekannter Tourenwagen der frühen 1920er Jahre; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Der Wagen trägt auf dem Kühlernetz eine Plakette, welche derjenigen der belgischen Luxusmarke Minerva gleicht – die gleichnamige Göttin der Weisheit und des Kriegs ist darauf zu sehen – mit Helm und nach rechts gerichtetem Blick.

Auch der geschwungene obere Abschluss des Kühlergehäuses, dessen Profil sich eine Weile in der Motorhaube fortsetzt, war typisch für diesen Hersteller. Doch kein Minerva-Modell der 1920er Jahre ähnelt diesem Fahrzeug auch nur entfernt.

Vermutlich hat hier jemand Anleihen bei der Prestigemarke genommen, um das eigene, eher unscheinbare Produkt aufzuwerten. Opel tat genau dasselbe mit der dreisten Kopie des Packard-Kühlers in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre.

Was lernen wir daraus? Es ist nicht alles so, wie es sich dem Auge auf den ersten Blick darstellt. Schon der römische Dichter Ovid warnte in seinem amüsanten Liebesratgeber „Ars Amatoria“ davor, dem bei Dunkelheit gewonnenen Eindruck einer Schönen zu trauen.

Wer mit Skepsis bezüglich vehementer optischer Eindrücke durchs Leben geht, ist dagegen gefeit, alles für bare Münze zu nehmen, was einem bildmächtig präsentiert wird.

Und damit sind wir nun bei dem heutigen Beispiel, welches wir Leser Klaas Dierks verdanken. Es ist schon eine Weile her, dass er mir – großzügig wie immer – dieses hervorragende Beutestück aus seiner Sammlung in digitaler Form zur Verfügung stellte:

Taxi mit Landauletaufbau um 1908; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Tolle Sache nicht? Alles auf den ersten Blick ersichtlich: Ein Taxi der Zeit vor dem 1. Weltkrieg mit typischem Landauletaufbau, zugelassen in Berlin und vorn auf dem Kühler steht, was man als fortschrittlich Denkender nur zu gerne liest: „Progress“.

Ist doch klar, dass es sich um eines der Automobile handeln muss, welche die Berliner „Progress Motoren- & Apparatebau GmbH“ kurz nach der Jahrhundertwende baute, oder?

Das wäre natürlich eine großartige Sache, denn von diesem bloß von 1900 bis 1914 existierenden Hersteller findet man sonst lediglich Fotos, die dessen Motorräder bzw. Dreiradlieferwagen zeigen.

Autos baute Progress angeblich nur bis 1903 und genau diese Information weckte meine Bedenken. Ganz egal, was das Auto plakativ an Namen vor sich herträgt – bei genauer Betrachtung entdeckte man einen weiteren „Progress“-Schriftzug an der Seite – zumindest der Aufbau stammt definitiv nicht aus dieser Zeit.

Diese Art geschwungene Vorderkotflügel, die nahtlos an das Trittbrett anschließen, findet sich so früh einfach nicht. Ich würde dieses Automobil rein formal eher auf die Zeit von 1906-08 datieren.

Dummerweise ist weder das Kühleremblem genau erkennbar, noch, die Beschriftung der Herstellerplakette an der Schottwand am Ende des Motorraums:

Nun gibt es folgende Möglichkeiten: Progress-Wagen wurden länger gebaut, als es in der Literatur geschrieben steht – den Fall fehlerhafter Überlieferung kann man nie ausschließen.

Oder ein älterer Wagen von spätestens 1903 erhielt einige Jahre später einen neuen, den fortgeschrittenen Gestaltungstendenzen entsprechenden Aufbau – ebenfalls denkbar, aber wegen des kolossalen Aufbaus wären davon wohl nur die Kotflügel betroffen gewesen.

Eine dritte Möglichkeit ist mein Favorit: Was vorne an „Fortschritt“ behauptet wird, stimmt gar nicht – jedenfalls nicht in Bezug auf das Auto.

Vielmehr könnte es sich um eine Werbeaufschrift handeln, die sich auf die nach Ende der Autofabrikation weitergebauten „Progress“-Produkte bezieht.

Dafür würde aus meiner Sicht zum einen der seitliche Markenschriftzug sprechen, nicht völlig unüblich (vgl. den NAW „Sperber“), aber sehr selten, zum anderen die Kühler- und Haubengestaltung, die mich eher an belgische oder französische Fabrikate dienen lässt.

So, jetzt sind Sie an der Reihe – speziell die Leser, welche besser mit den unzähligen einst in Berlin beheimateten Nischenautobauern vertraut sind.

Ich mache es mir unterdessen vor dem Kamin bequem und lasse mich überraschen, welchen Fortschritt wir hier tatsächlich erzielen…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.