Ja, wie soll denn das zusammengehen – Minerva für Arme? Nun, ganz ausgezeichnet, wenn man nicht nur in Sachen Vorkriegsautomobile auf klassischen Pfaden unterwegs ist.
So wissen Kenner der antiken griechischen Literatur, dass es die Göttin Athena (bei den Römern als Minerva bekannt) war, welche meinem Lieblingshelden Odysseus auf seiner 10-jährigen Irrfahrt zurück von Troja ins heimische Ithaka die Treue wahrte und dafür sorgte, dass er am Ende nach Verlust seiner Flotte und aller Kameraden doch zurückkehrte.
Wie Odysseus auf die nackte Existenz zurückgeworfen schließlich wieder am Strand seiner Insel landete – das und die ganze Vorgeschichte vom Sturz eines stolzen Helden in die Niederungen des Daseins, das gehört zu den Stoffen der Weltliteratur, die zeitlos sind.
Ganz anders war es, wenn man sich in automobiler Hinsicht auf Minerva einließ – denn wo diese gleichnamige belgische Luxusmarke zuhause war, da war kein Platz für Arme:

Dieses beeindruckende Gefährt mit dem für Minerva typischen oberen Kühlerabschluss und der prächtigen Kühlerfigur der behelmten Göttin hatte ich seinerzeit hier als Typ 32 CV von Ende der 1920er Jahre identifiziert.
Automobile von Minerva zählte zum Teuersten, was damals auf dem europäischen Kontinent für die „happy few“ verfügbar war.
Doch im selben Jahr, in dem der oben gezeigte Wagen aufgenommen wurde – 1929 – wurde auf der anderen Seite des Atlantiks ein Fahrzeug gebaut, das auf den ersten Blick ebenfalls wie ein Minerva daherkommt:
Tatsächlich weist die Kühlerpartie bei oberflächlicher Betrachtung große Ähnlichkeit mit der eines zeitgenössischen Minerva auf.
Sollte es sich angesichts der bescheideneren Dimensionen hier um einen mir bislang nicht begegneten Minerva für Arme handeln?
Nach kurzer erster Irritation sagten mir allerdings einige Details, dass diese Limousine nicht edler belgischer Abkunft sein konnte. Stilistisch sprach von der Kühlerform abgesehen alles für ein US-Großseriefabrikat der späten 1920er Jahre.
Die Identifikation des Herstellers – Willys – wurde durch den (wenn auch unscharfen) Markenschriftzug auf dem Kühlergill erleichtert. Es musste sich also um einen der einst bekannten US-Wagen der Mittelklasse handeln, die dank ventilloser Motoren besonders leise liefen.
Seit 1914 bereits nutzte die Firma Willys das „Knight“-Patent für Motoren, bei denen der Gaswechsel über geschmeidig in Öl laufende Hülsenschieber statt mittels Ventile erfolgte.
Der verbesserten Laufkultur stand zwar ein erhöhter Wartungsaufwand gegenüber, aber wirkliche Praxisnachteile sind von den Willys „Knight“-Modellen nicht überliefert. In den 1920er Jahren entstanden zeitweise bis zu 50.000 Stück dieses Typs jährlich und die Technologie wurde bis Anfang der 30er beibehalten.
Doch tat ich mich schwer damit, das genaue Modell zu ermitteln, weil sich der Willys zwar stilitisch gut auf die Endzwanziger festnageln ließ, aber sich einfach keine passenden Fotos mit genau dieser Kühlerpartie finden ließen.
Erst nach längerer Suche stellte ich fest, dass wohl nur die Variante 70B von 1929 über den markanten, so sehr an Minerva erinnernden Kühler verfügte.
Dabei war diese Ausführung mit ihrem gut 50 PS leistenden Sechszylinder nicht einmal das damalige Spitzenmodell von Willys – das war der Typ 66A mit 70 PS.
Also doch vielleicht ein „Minerva für Arme“? Nun, zwar war in den Staaten ein 50 PS-Auto anno 1929 per se in keiner Weise exklusiv – damit befand man sich leistungsmäßig in der unteren Mittelklasse. Aber die verbauten Schiebermotoren machten den Willys recht teuer.
Es war also schon ein spezielles Vergnügen, das nicht für jedermann in den Staaten erschwinglich war. Das gilt natürlich erst recht für Deutschland, wo der heute präsentierte Willys „Knight“ 70B einst zugelassen war – in Paderborn, um genau zu sein.
Wer weiß, vielleicht war das Auto in der Nähe der Friedrich-Ebert-Straße abgelichtet worden, wo mein Lieblings-Großonkel Ferdinand sein großzügiges Haus mit dem schönen Garten hatte, in dem ich als Kind öfter die Ferien verbracht habe.
Nach seinem Tod wich das Haus einer modernen Wohnanlage und auch von dem Willys Knight wird sich in Paderborn keine Spur mehr finden lassen.
Einen gewissen Eindruck von den Qualitäten des Wagens kann man aber im folgenden Video aus den USA gewinnen, das eine zweitürige Limousine genau dieses Typs zeigt:
Über die farblich unpassenden Räder muss man ebenso hinwegsehen wie über die bunten Kabelschuhe im Motorraum – das Auto ist ansonsten durchaus beeindruckend und am Ende vielleicht doch aus heutiger Sicht ein wenig ein Minerva für Arme…
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog