Wunderlich sind die Wege, die das Dasein nimmt – die besten Dinge darin geschehen ungeplant, meine ich. Das gilt im Großen, also im Maßstab 1:1, wie auch im Kleinen, also im Fotoformat von anno dazumal, in dem sich die Welt von gestern in Teilen erhalten hat.
Nur ausnahmsweise wähle ich für meinen Blog ein altes Autofoto bewusst aus – das ist eigentlich nur bei meinen regelmäßigen Formaten wie dem Fund des Monats der Fall.
Ansonsten lasse ich mich spontan von dem Material inspirieren, das in der digitalen Wiedervorlage schlummert oder noch im analogen Original ungeordnet auf dem Schreibtisch herumliegt und von meiner Katze Ellie als Unterlage geschätzt wird.
Oder es gibt einen äußeren Anlass in Form eines Erlebnisses im Alltag, einer Tagesparole irgendwelcher Welterklärer, Volkserzieher und Gesellschaftsklempner oder einfach dem, was sich im Postfach findet.
Letzteres war heute der Fall. So titelte der Herrenmode-Katalog von „Mey & Edlich“ autoritär: „Endlich Mantelwetter!“. Meine Beziehung zur Traditionsfirma Mey & Edlich ist die, dass ich in grauer Vorzeit in deren Dependance im Steinweg in Frankfurt am Main ein- und auszugehen pflegte, um dort Krawatten und Hemden zu kaufen.
Das war während des Abschnitts meiner Berufslaufbahn, den ich im Finanzsektor der Mainmetropole verbrachte – eine Zeit, die heute unendlich weit entfernt scheint.
Den Herrenausstatter Mey & Edlich im Frankfurter Steinweg gibt es schon lange nicht mehr, doch der Firmenname Mey & Edlich besteht bis heute fort, bloß wird er längst von einem Modeversand genutzt, dessen Angebot kaum etwas mit dem von einst zu tun hat. Nur aus heraus werfe ich den Katalog nicht gleich fort, wenngleich ich selten etwas darin finde.
Die Männermode von heute sagt mir nichts, ich bleibe im Äußeren den Klassikern treu, wenn ich aus meinem ländlichen Idyll herauskomme und nicht nur zum Baumarkt fahre.
Auch deshalb liebe ich die Autoaufnahmen der Vorkriegszeit, als nicht nur die Wagen ganz anderen Gestaltungsgesetzen unterlagen, sondern auch in der Öffentlichkeit ein aufwendiger und für das Selbstbild wichtiger Kleidungsstil gepflegt wurde.
Nachdem die Macher von Mey & Edlich „Mantelwetter“ angeordnet hatten und sich der November präzise daran hält, was Temperaturen und Luftfeuchte angeht, dachte ich spontan, dass sich etwas dazu passendes finden lassen muss.
Und genau so verfiel ich darauf, endlich diese hübsche Aufnahme zu zeigen:

Lachen Sie nicht – so steht Mann halt da, wenn man Knickerbocker mit Kniestrümpfen trägt und darüber einen Mantel in adäquater Länge.
Die Damen wissen natürlich auch heute, dass man an den Unterschenkeln selten friert, aber für die Buben ist’s eher ungewöhlich, dass man in der Öffentlichkeit die bestrumpften Waderln herzeigt – wobei ich das entschieden jeder kurzen Hose vorziehe.
Sehenswertes Männergebein ist ja abseits antiker Skulpturen, Wettkampfschwimmern und Rennradlern in aller Regel nicht anzutreffen, also findet dieser Herr mit seiner Wahl meine unbedingte Zustimmung.
Selbiges gilt auch für den Wagen, vor dem er sich hat ablichten lassen – offenbar ein Cadillac des Modelljahrs 1929. Die auf zwei Drittel der Motorhaube beschränkten Luftschlitze in Verbindung mit den Werkzeugfächern in der Schwellerpartie sind typisch.
Die sächsische Firma Horch hat diesen Stil bis auf besagte Fächer beim Achtzylindertyp 375 recht genau kopiert, allerdings geadelt mit prächtigen Radkappen und mit Kühlerfigur.
Für ein Luxusautomobil kam der Cadillac äußerlich beinahe konventionell daher – man mied gestalterische Extravaganzen und verließ sich auf die Anziehungskaft des bärenstarken V8 mit 5,6 Litern Hubraum und 90 PS sowie die exklusive Innenausstattung.
Angesichts des kaum nachstehenden Angebots von Horch fanden sich nur wenige deutsch Käufer des US-„Originals“ – doch hier haben wir immerhin ein Exemplar davon.
Nachdem wir das mit der Mantelzeit und die Identität des Wagens geklärt hätten, gibt eine Sache noch Rätsel auf. Auf der Rückseite des Fotos ist vermerkt „1934, Burg Drachenfels“.
Die einzige Burg Drachenfels, die ich kenne, befindet sich im Siebengebirge im Mittelrheintal. Ich habe einige Zeit mit dem Versuch zugebracht, die Ansicht der Burg auf unserem Cadillac-Foto mit dem heutigen Erscheinungsbild der Burg Drachenfels zur Deckung zu bringen – doch ohne Erfolg.
In dieser Hinsicht setze ich auf die Ortskenntnis von Ihnen, liebe Leser. Denn nicht nur kann es sein, dass ich es bloß nicht hinbekommen habe, sondern möglich ist auch, dass wir es mit einer fehlerhaften Beschriftung zu tun haben – was bei privaten Fotos öfters vorkommt.
Vielleicht kennt aber auch jemand eine andere Burg Drachenfels, die weniger geläufig ist – denn die Botanik in deutschen Landen steht ja voll mit diesen Hinterlassenschaften des Mittelalters, und nicht jede davon hat es ins breite Bewusstsein geschafft.
Dann wäre ja die fragwürdige heutige Jubelparole „Endlich Mantelwetter“ letztlich doch für etwas mehr gut als „nur“ einen 1929er Cadillac vor schaurig-schöner November-Kulisse…
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