Geliefert wie bestellt: Pic-Pic 16/20 hp von 1913

Wer kennt das nicht? Man hat einen klaren Auftrag vergeben an einen Handwerker oder einen Zulieferer und bekommt doch nicht das geliefert, was man bestellt hat. Mein Favorit unter den Ausreden fängt seit jeher so an: „Ich habe gedacht…

Leider wird entweder zuwenig gedacht, nämlich wenn es um’s Grundsätzliche im Leben geht (meist weil’s unbequem ist) oder es wird zuviel unnötig gedacht, wenn es bloß darum geht, dem Wunsch des Auftraggebers gerecht zu werden.

Das muss doch nicht sein, oder? Warum bekommt man allzuoft nicht einfach nur „précisément“ geliefert, was man bestellt hat? Aus der repräsentativen Demokratie ist man das ja gewohnt, aber in der Privatwirtschaft braucht man das nicht auch noch.

In beiderlei Hinsicht kann hier die Schweiz als Vorbild dienen. Sie ist trotz direkter Demokratie zwar keineswegs perfekt – Dummheiten werden auch dort allerorten begangen.

Doch auf zwei Dinge ist Verlass: In politischer Hinsicht kann der Souverän seinen Angestellten in Bern sagen: „So nicht, das haben wir nicht bestellt“. Und in wirtschaftlicher Hinsicht kann man noch darauf setzen, dass ein Auftrag so genau befolgt wird wie der Fahrplan der SBB.

Das war vor gut 110 Jahren natürlich erst recht so – es galt eisern: Geliefert wird „exactement“, was bestellt wurde. Wenn ich hier einige französische Brocken einstreue, dann ist das übrigens kein neuer Spleen von mir.

Vielmehr will ich meine Leser „doucement“ auf das vorbereiten, was sie heute noch an Herausforderung erwartet, selbstverständlich in spielerischer Hinsicht.

Denn in meinem Blog geht es nur bedingt „serieux“ zu, vielmehr befassen wir uns eher zum „plaisir“ mit Automobilen der Vorkriegszeit anhand alter Fotos.

Heute kann ich mit einem schönen „exemple“ aufwarten, das ich Andreas Petitjean verdanke, einem Mitglied meiner Vorkriegs-Facebook-Gruppe. Er ist Hüter eines beeindruckenden Familienerbes, insbesondere was die automobile Tradition seiner Vorfahren betrifft.

Kürzlich präsentierte er diese stimmungsvolle Aufnahme, die 1913 im Innenhof von Schloss Ebenrain in Sissach (Raum Basel) entstand. Das Foto zeigt einen „Pic-Pic“ desselben Jahres, den damals sein Großvater frisch erworben hatte:

Pic-Pic 16/20 hp; Originalfoto aus Familienbesitz (Andreas Petitjean)

Wer mich kennt, der weiß, wie sehr ich solche Aufnahmen schätze. Hier kommt alles zusammen, was ein reizvolles Autofoto ausmacht: Außer dem Wagen die einstigen Besitzer und Insassen, ein kameragewohnter Hund und ein ansehnliches historisches Ambiente.

Man könnte glatt mit diesem Befund zufrieden sein, selbst wenn man nicht wüsste, um was es für ein Fahrzeug es auf diesem schönen „document“ handelt. Ich muss zugeben, dass ich nicht oder erst nach langem Nachsinnen auf das Fabrikat gekommen wäre.

Ein Pic-Pic ist für uns Teutonen im großen Kanton, wie die Schweizer mit leicht ironischer Note zu sagen pflegen, eher „inconnue“ – auf gut Latein „incognita“.

Doch da mir die Bildung meiner Leser am Herzen liegt, sind sie über diesen Hersteller bereits „bien informés“ – nämlich dank dieses Blog-Eintrags. Wer also etwas über Pic-Pic nachlesen möchte, kann das dort tun.

Wir wenden uns unterdessen einem anderen Dokument zu, welches mir Andreas Petitjean ebenfalls in digitaler Kopie zur Verfügung gestellt. Sie werden’s kaum glauben, aber hier haben wir „vraiment“ die originale Bestellung genau jenes Pic-Pic von anno 1913.

Sie werden nun dankbar sein, dass ich Sie auf die deutsch-französische Mischung vorbereitet habe, welche einem hier begegnet – und die ich „très sympatique“ finde. Man sollte die Sprache seiner Nachbarn etwas verstehen, um selbige besser zu verstehen:

Bestellung eines Pic-Pic 16/20 hp von 1913; Original aus Familienbesitz (Andreas Petitjean)

Nur einer Seite bedurfte es im Februar 1913 in Basel, um einen Tourer des Typs Pic-Pic 16/20 hp zu ordern. Dazu musste Herr Petitjean nicht einmal seine Adresse angeben – man wusste, dass man es mit einem Baseler Ehrenmann zu tun hatte.

Rechts unten hat er schwungvoll unterschrieben, nachdem er die vom Pic-Pic-Vertreter handschriftlich ergänzten Extras noch einmal durchgegangen war und den heftigen Gesamtpreis von 12.800 Franken mit großem Ernst geprüft hatte.

Allerdings scheint es hinsichtlich der Ausführung der „Carrosserie“ eine separate detaillierte Beschreibung gegeben zu haben, die hier nicht überliefert ist. Unter der Rubrik „extra“ tue ich mich mit der ersten Zeile schwer – kann sie jemand entziffern?

In den folgenden Zeilen lese ich, dass ein Überzug für’s Reserverad sowie Überzüge für die fünf empfindlichen Laternen bzw. Scheinwerfer und den Werkzeugkasten geordert wurden, außerdem sollte ein Monogramm darauf angebracht werden, wenn ich mich nicht irre.

Diese Extras summierten sich auf eine Totale von 250 Franken.

Weiter unten wird die serienmäßige Ausstattung beschrieben. Statt eines Textilverdecks wurde eines aus „Caoutchouk“-Leder bestellt, also gummiert. Mit dem Entwickler ist der Behälter auf dem Trittbrett gemeint, in dem das Karbidgas für die Frontscheinwerfer erzeugt wurde.

Das „complete“ Werkzeug war sicher reichhaltig und von hevorragender Qualität – etwas anderes wäre nicht nur am verwöhnten schweizerischen Markt nicht akzeptiert worden. Das Wort vor „Vergaser Zenith“ stellt mich vor ein Rätsel, wer kann es lösen?

Sicher bin ich dagegen wieder, was das voraussichtliche Lieferdatum des Pic-Pic für Herrn Petitjean angeht: Mai 1913 wurde avisiert.

Man darf davon ausgehen, dass die Fertigung des Wagens auch tatsächlich drei Monate in Anspruch nahm, was erheblich zu dem kolossalen Preis betrug. Man hätte für den Betrag wohl auch ein Häuschen auf dem Land oder eine kleine Wohnung bekommen können.

Das mag erklären, weshalb Monsieur Petitjean bei seiner Unterschrift vielleicht noch einmal innehielt. Das war keine Order für eine neue Wohnzimmereinrichtung, das war „bien sûr“ eine enorme Investition in die Mobilität und das „prestige“ der Familie.

Da musste man sich seiner Sache schon sehr sicher sein. Und sicher war damals auch eines seitens des Herstellers Pic-Pic: Geliefert wurde „exactement“ wie bestellt…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Fund des Monats: Ein „Pic-Pic“ Tourenwagen

Meine regelmäßigen Italientouren sind zwar mit einiger Kilometerfresserei verbunden, doch kaum habe ich Basel hinter mir gelassen, stellt sich eine gehobene Stimmung ein.

Das rigide Tempolimit auf den eidgenössischen Autobahnen bekommt angesichts der grandiosen Landschaft einen ganz eigenen Sinn. Immer wieder bemerkenswert, wie hingebungsvoll die Schweizer ihre Kulturlandschaft pflegen – die in deutschen Landen um sich greifende Vernachlässigung, gar Verschandelung sucht man vergebens.

Noch sympathischer ist mir freilich von jeher die wirklich demokratische Kultur in Helvetien, die weltweit ihresgleichen sucht.

Direkt über die Dinge abzustimmen, die einen betreffen und für die man im Zweifelsfall aufzukommen hat, ist zwar kein Schutz vor Fehlentscheidungen – doch ist man dann eben selbst dafür verantwortlich und kann sie auch aus eigener Initiative wieder korrigieren.

Auch für die konsequente Neutralität kann ich mich erwärmen – in Verbindung mit einer todernst gemeinten Wehrbereitschaft war und ist sie Garant dafür, dass dem Volk der Blutzoll erspart blieb, den die Nachbarn infolge der verantwortungslosen Politik ihrer Herrschenden in zahllosen Konflikten schon seit dem 19. Jahrhundert zu zahlen hatten.

Nur eines ist mir lange unverständlich geblieben: Wieso haben die tüchtigen, erfindungsreichen und präzisionsverliebten Schweizer keine nennenswerte Automobilindustrie aufgebaut?

Des Rätsels Lösung stellte sich vor einiger Zeit in Form eines Buchs ein, welches ich jedem Vorkriegsautofreund nur ans Herz legen kann.

So legte Ernest Schmid schon 1978 das beeindruckende Standardwerk „Schweizer Autos“ vor, welches auf über 250 Seiten rund 70 eidgenössische Autofabrikate ausbreitet!

Tja, so kann man sich irren…

Zwar sind auch einige Nachkriegsmarken dabei, doch der Schwerpunkt liegt klar auf Vorkriegsherstellern und was sich einem da präsentiert, kann durchaus mit französischen, deutschen oder auch italienischen Konkurrenten mithalten.

Das lässt sich kaum schöner illustrieren als mit dieser Aufnahme aus Stein am Rhein:

Automobile der 1920er Jahre in Stein am Rhein; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die atemberaubende Architektur mit vier- bis sechsstöckigen Bürgerhäusern, welche teilweise an die 500 Jahre alt sind, ist typisch für den kleinen Ort im Kanton Schaffhausen, der schon in der Römerzeit gegründet wurde.

Vor dieser Kulisse verblassen nicht nur die meist kurzlebigen und geistlosen Schöpfungen der mangels Attributen als „modern“ bezeichneten Architektur unserer Tage.

Auch die wohl folgenreichste Erfindung der Neuzeit, das Automobil, hat hier einen schweren Stand, obwohl es mit sieben Fahrzeugen um Aufmerksamkeit buhlt.

Dennoch wollen wir natürlich auch den Wagen Gerechtigkeit widerfahren lassen, zumal da sie sich formal besser in das über Jahrhunderte gewachsene Ambiente einfügen, als dies bei automobilen Kreationen unserer Tage möglich wäre:

Hier haben wir es durchweg mit Tourenwagen der frühen 1920er Jahre zu tun. Auf diesem Ausschnitt sehen wir von links einen Opel, eine Presto, noch einen Opel und (wahrscheinlich) einen Dürkopp – soweit zu erkennen mit deutschen Kennzeichen.

Anders stellt sich das Bild auf dem nächsten Ausschnitt dar – dort findet sich auch unser Fund des Monats.

Neben einem ebenfalls in Deutschland zugelassenem Benz steht ein Fiat 501 oder 505 (aus dieser Perspektive schwer zu entscheiden) mit schweizerischem Kennzeichen.

Viel interessanter ist freilich das Fahrzeug mit dem eigentümlichen Emblem im Vordergrund:

Dieser ebenfalls in der Schweiz zugelassene Wagen mit den sportlichen Drahtspeichenrädern ist deutlich oberhalb des Fiat und auch des Benz angesiedelt.

Man möchte spontan auf ein französisches Fabrikat tippen, doch bei näherem Hinsehen verrät das Kühleremblem, dass wir es mit einem Pic-Pic zu tun haben, der in Genf produziert wurde.

Der Markenname spielt auf die beiden Schöpfer dieses Autoherstellers an: Paul Piccard und Lucien Pictet. Sie waren seit 1895 gemeinsam mit der Fertigung von Wasserturbinen befasst. 1906 stiegen sie in den Fahrzeugbau ein, anfänglich noch unter dem Namen SAG.

Ab 1910 wurden die bei Piccard, Pictet & Cie hergestellten leistungsstarken Wagen als Pic-Pic vertrieben. Ihnen wurden schwächere Modelle mit 18 bzw. 22 PS zur Seite gestellt.

Noch vor dem 1. Weltkrieg verlegte man sich auf ventillose Motoren, bei denen der Gaswechsel über bewegliche Hülsenschieber gesteuert wurde. Die entsprechende von Argyll erworbene Lizenz nutzte man bis Anfang der 1920er Jahre.

Auch der Pic-Pic auf dem in Stein am Rhein entstandenen Foto wird ein solches frühes Nachkriegsmodell mit 2,9 Litern Hubraum gewesen sein:

Dieser Pic-Pic markierte den Höhepunkt und zugleich das nahende Ende der Marke – 1922 erschien noch ein 3-Liter-Prototyp, der jedoch nicht mehr in Serie ging.

Immerhin ein Exemplar des ventillosen Pic-Pic von 1919 wie auf dem heute gezeigten Foto hat die Zeiten überdauert und ist angeblich im Verkehrshaus der Schweiz in Luzern zu bewundern.

Vielleicht statte ich ihm bei der nächsten Reise gen Süden einen Besuch ab, Luzern liegt ja auf dem Weg, wenn man den Gotthard ansteuert…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.