Der erste Kompressor-Mercedes von Porsche: 15/70/100PS

Der Titel dieses Artikels mag irritieren, doch beschreibt er genau den Wagen, der heute anhand einer hervorragenden Originalaufnahme der 1920er Jahre vorgestellt werden soll: Ein Mercedes des Kompressor-Typs 15/70/100 PS.

Die ersten Versuche von Daimler mit aufgeladenen Motoren nach dem 1. Weltkrieg wurden auf diesem Blog bereits vorgestellt – der auf einem Vorkriegsmodell basierende Typ 28/95 PS und der erste serienmäßig gebaute Kompressor-Mercedes Typ 6/25/40 PS.

1923 – nach dem Weggang des für die bisherigen Kompressortypen verantwortlichen Paul Daimler – übernahm Ferdinand Porsche die Rolle des Chef-Konstrukteurs. Er setzte die bisherigen Entwicklungsarbeiten nicht nur kongenial fort, sondern schuf die Grundlage für die begehrtesten Vorkriegs-Mercedes überhaupt.

Als erstes Modell wurde unter Porsches Leitung der Typ 15/70/100 PS entwickelt, den wir auf folgender originalen Aufnahme als Tourenwagen sehen:

Mercedes_15_70_100_PS_Mitte_1920er_Galerie

© Mercedes 15/70/100 PS, Aufnahme der 1920er Jahre; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bevor wir uns mit der Aufnahmesituation befassen, einige technische Details:

Der Mercedes 15/70/100 PS (werksinterne Bezeichnung: W836) war mit einem 3,9 Liter großen Reihensechszylinder ausgestattet. Seine obenliegende Nockenwelle wurde über eine Königswelle angetrieben, die Ventile waren hängend angeordnet.

Mit diesen modernen – wenn auch nicht innovativen – Ingredienzen leistete das Aggregat im Normalbetrieb 70 PS. Trat man das Gaspedal durch, wurde der Vergaser mit vorverdichteter Luft aus dem an der Motorstirnseite montierten Kompressor (Roots-Patent) versorgt. Das erlaubte eine erheblich höhere Benzin-Beimischung und damit eine Leistungssteigerung auf kurzzeitig 100 PS. 

Man muss diese beeindruckende Leistung freilich in Relation zum Wagengewicht (über 2 Tonnen) und Luftwiderstand des Fahrzeugs sehen. Nicht ganz 120 km/h Spitzengeschwindigkeit je nach Übersetzung schaffte der Mercedes 15/70/100 PS. Genug für die damaligen Straßen war das allemal.

Auch wenn des Verfassers einstiger 34 PS-Käfer leistungsmäßig mit diesem Kompressor-Mercedes mithalten konnte, fehlten ihm jedoch drei Dinge: Souveräne Kraftentfaltung, seidenweiche Laufkultur und vor allem das prestigeträchtige Erscheinungsbild:

Der Mercedes-Spitzkühler mit dem legendären Stern prägt bis heute das Markenbild der Firma, auch wenn sich diese über die Jahre einige Fehlzündungen geleistet hat. Mit dem damals noch üblichen Mercedes-Schriftzug haben diese Wagen bereits vor Jahrzehnten eine globale Werbewirkung erzielt, die unter Kennern bis heute anhält.

Auf dieser Ausschnittsvergrößerung sieht man auch Details, die den Typ 15/70/100 PS äußerlich von den Vorgängern unterscheidet – beispielsweise die großen Positionsleuchten auf den Schutzblechen. Wer genau hinsieht, wird „wolkige“ Partien auf dem Bild erkennen, die von retuschierten Beschädigungen des Abzugs herrühren.

Für die Aufnahmesituation wichtig ist das Kürzel „RW“, das für die deutsche Reichswehr der Zwischenkriegszeit steht. Dazu passt das Erscheinungsbild des Fahrers:

Der Rang des Fahrers ist schwer einzuordnen. Auf der einen Seite lassen Schulterklappen und Kragenspiegel keinen Hinweis erkennen, dass es sich um mehr als einen einfachen Mannschaftsdienstgrad handelte. Auf der anderen Seite verweist das Pistolenholster (wohl für eine P08) zumindest auf einen Unteroffizier.

Möglicherweise war die Bewaffnung bei der Reichswehr aber auch funktionsabhängig – vielleicht kann ein Leser mehr dazu sagen. Typisch für die 1920er Jahre ist jedenfalls die Ganzledermontur, die es nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten bei der deutschen Armee so nicht mehr gab.

Die martialische Ausstattung mit Reitstiefeln, Lederhose, zweireihiger Lederjacke und  Stulpenhandschuhen steht in denkbar großem Gegensatz zum Erscheinungsbild privat beschäftigter Chauffeure.

Zwar wissen wir nichts Genaues darüber, welchen hochrangigen Offizier dieser Mann in dem Mercedes chauffierte. Das nur rund 750mal gebaute Modell dürfte aber einem Mitglied des Generalstabs vorbehalten gewesen sein.

Buchtipp: Die Taube von Igo Etrich

Die Geschichte des Automobils ist mit der des Flugzeugs eng verknüpft. Ob leistungsfähige Motoren, Leichtbau oder Aerodynamik – die Fliegerei hat die erdgebundene Mobilität immer wieder befruchtet. Die britische Autofirma Bristol verdankt sogar ihre Existenz dem Flugzeugbau.

Da wundert es kaum, dass viele Konstrukteure Wanderer zwischen Himmel und Erde waren – man denke nur an Gabriel Voisin in Frankreich, John Tjaarda in den USA und Malcolm Sayer in England.

Wenig bekannt ist, dass auch der Tausendsassa Ferdinand Porsche in den Kindertagen der Fliegerei dazu beitrug, dass sich Apparate schwerer als Luft vom Boden erheben. Man begegnet dem ehrgeizigen Mitdreißiger um 1910 als Konstrukteur bei Austro-Daimler, wo er einen 6-Zylinder-Flugmotor entwickelte, der im 1. Weltkrieg vielen deutschen Kampfflugzeugen als leistungsstarker und zuverlässiger Antrieb diente.

Eine der ersten Verwendungen für Porsches Flugmotor war die von Igo Etrich entwickelte „Taube“, die später in Lizenz von etlichen Herstellern (u.a. Rumpler) gefertigt wurde. Hier ein originales Bild einer Taube mit besagtem Reihenmotor kurz vor Kriegsbeginn. Vielleicht kennt jemand den Aufnahmeort?

© Originalfoto „Taube“ mit Austro-Daimler-Motor; Sammlung Michael Schlenger

Die Etrich-Taube und ihr bis dahin unerreichter Verkaufserfolg ist ein spannendes, doch oft übergangenes Kapitel deutscher Luftfahrtgeschichte (Zusammenfassung). Viel Fachliteratur dazu gibt es nicht, aber immerhin ein Standardwerk, das an Umfang und Detallierungsgrad wohl keine Wünsche offen lässt:

„Igo Etrich. Die Etrich Taube – der erste Flugzeug-Bestseller der Welt“, von Hanus Salz, hrsg. 2000 von der Flugzeug Publikations GmbH, ISBN 9783765472336.

Das 150 Seiten starke, mit vielen Fotos, Entwurfszeichnungen und Originaldokumenten ausgestattete Werk scheint derzeit vergriffen zu sein. Man erhält es aber über das größte Online-Antiquariat für deutschsprachige Titel (www.zvab.com).

Tropfenform – Designtrend der 1930er Jahre

Ein Fahrzeug, das auf Klassikerveranstaltungen immer wieder formal aus dem Bild fällt, ist der VW Käfer. Selbst die letzten in Mexiko produzierten Exemplare wiesen noch die typische tropfenähnliche Grundform auf.

© Mexiko-Käfer Bj. 1985; Bildrechte: Michael Schlenger

Der Käfer hat sich im kollektiven Gedächtnis als einzigartiges Auto verankert, auch aufgrund jahrzehntelanger Präsenz. Doch bei seiner Entstehung in den 1930er Jahren war er mit seiner an der Stromlinie orientierten Form ganz ein Kind seiner Zeit.

Beschäftigt man sich mit den Vorläufern und Geschwistern des Volkswagens, wird es rasch unübersichtlich. Nachfolgend der Versuch, für mehr Klarheit zu sorgen:

Die aerodynamische Vorarbeit wurde schon in den 1920er Jahren geleistet, im Wesentlichen von Paul Jarays Stromlinien-Karosserie-Gesellschaft. In der Folge kristallisierte sich die Tropfenform als gestalterisches Ideal heraus, an dem sich Konstrukteure in mehreren Ländern abarbeiten sollten.

Noch vor Tatra und den ersten VW-Versuchswagen hatte die US-Karosseriefirma Briggs 1933 einen Prototypen vorgestellt, der technisch und formal alle Charakteristika aufwies, die in den Folgejahren in zahllosen Varianten durchdekliniert wurden (ausführlicher Bericht). Hier der Ausschnitt eines Originalfotos:

© Briggs Prototyp 1933; Fotoabzug: Sammlung Michael Schlenger

Ebenfalls 1933 entwickelte das Konstruktionsbüro Porsche für NSU einen Wagen, der die Wesensmerkmale des Volkswagens vorwegnahm. Das Auto wurde in einigen Exemplaren gebaut, aber von NSU letztlich nicht in Produktion genommen. Tatsächlich markiert dieser Entwurf den Anfang des VW-Stammbaums.

© Porsche Typ 32; Bildquelle: http://www.flickr.com; Urheberrecht: Georg Sander

Im Frühjahr 1934 stellte Tatra seine Interpretation des Themas vor, den Typ 77. Dabei ähnelt vor allem die Seitenpartie ab der A-Säule dem Briggs von 1933, ohne dass man eine direkte Beeinflussung behaupten kann. Hier eine Abbildung des Tatra-Prototyps, der in einigen Details vom Serienmodell abwich:

© Sammelbild Tatra 77 Prototyp 1934; Sammlung Michael Schlenger

1935 wurden von Porsche die Vormodelle des Volkswagens entwickelt. Während die Grundform dem Entwurf für NSU folgt, erinnern Dachline und Fensterpartien an den Briggs-Prototypen und den ab 1934 gebauten Chrysler Airflow.

Die freistehenden Scheinwerfer waren dagegen nicht auf der Höhe der Zeit. Gleichzeitig fällt der Verzicht auf Trittbretter auf, die im Serienmodell wieder auftauchten.

© Sammelbild Volkswagen Versuchsmodell 1935/36; Sammlung Michael Schlenger

1936 stellte die Steyr-Daimler-Puch AG in Österreich den Typ 50 vor. Mit vorn eingebautem Motor fällt er zwar technisch aus dem Rahmen. Doch formal gehört der Wagen in die hier vorgestellte Familie. Markant ist der Verzicht auf Trittbretter, der VW beim Käfer in 65 Jahren Produktionsdauer nicht gelungen ist.

Im Vergleich zum Kleinwagenversuch von Mercedes in Form des Typs 130 war der Steyr überzeugender. Der kompakte 4-Zylinder-Boxer erlaubte eine stromlinienförmige Frontpartie, gleichzeitig war die Gewichtsverteilung dank Heckantrieb ausgewogen. Hier eine Abbildung des leistungsstärkeren Steyr 55:

© Sammelbild Steyr 55; Sammlung Michael Schlenger

Die Fahrleistungen des Steyr entsprachen denen des Mercedes 130. Mit 12 Volt-Elektrik, 4-Gängen, Einzelradaufhängung und erstaunlich geräumigen Innenraum stellte Steyrs „Baby“ trotz seines Erscheinungsbildes ein erwachsenes Auto dar. Der Absatzerfolg war beachtlich (13.000 Stück bis 1940).

Vom Steyr war es nicht weit zum 1937 vorgestellten Adler 2,5 Liter, dem Autobahnadler. Seine Karosserie war das Werk von Karl Jenschke, der den Steyr 50 entworfen hatte. Die Seitenlinie entspricht weitgehend dem Briggs-Prototypen, während die Frontpartie an den Tatra 77 Prototypen, den Steyr 50 und an den Chrysler Airflow erinnert:

© Sammelbild Adler 2,5 Liter „Autobahnadler“; Sammlung Michael Schlenger

Lässt man diese Vertreter des Stromlinientrends in den 1930er Jahren Revue passieren, gewinnt man den Eindruck, dass damals viele Köpfe gleichzeitig in dieselbe Richtung gedacht haben.

Oft liest man, Porsches Volkswagen sei von Tatra oder den Mobilen von Josef Ganz abgekupfert. Doch die Betrachtung zeigt, dass hier in kurzer Zeit ähnliche Konzepte realisiert wurden, die aus derselben Grundidee abgeleitet waren.

An diesem Designkonzept hielt nach dem Krieg neben Volkswagen auch Tatra bis in die 1950er Jahre fest. So wurde ab 1948 in über 6.000 Exemplaren der Tatra 600 „Tatraplan“ gefertigt.

Er war eine verkleinerte Version des Vorkriegsmodells 87 mit 4-Zylinder-Motor. Dessen 52 PS reichten je nach Übersetzung für bis zu 140 km/h Spitzengeschwindigkeit – ein schöner Beleg für die Wirksamkeit des Tropfenkonzepts.

© Tatra 600 „Tatraplan“; Pressefoto aus Sammlung Michael Schlenger

Heute ist dieser Verwandte des VW Käfer ein Exot. Sieht man den Tatraplan „in natura“, wird einem klar, wie großzügig er im Vergleich zum Volkswagen war. Mit den Fertigungskapazitäten von VW hätte das Modell großen Erfolg haben können.

1952 wurde die Produktion infolge planwirtschaftlicher Fehlentscheidungen eingestellt. Tatra sollte künftig nur noch LKWs bauen. Die späteren Wagen vom Typ 613 hatten außer dem Heckmotor wenig mit ihren Vorgängern gemeinsam.