Der Name ist Programm: Phänomen 12/50 PS

„Was haben uns die Römer eigentlich gebracht?“ so fragt im legendär subversiven Film „Life of Brian“ (1979) der Anführer der tolpatschigen „Judäischen Volksfront“ – oder war es die „Volksfront von Judäa“? – seine Getreuen.

Wider Erwarten zählen dann die Palästinenser von damals eine ganze Reihe von Errungenschaften der Besatzer auf, die von der Wasserversorgung über die öffentliche Sicherheit und den Wein bis zu allgemeinen Krankenkassen (!) reichen.

Doch eines hat die britische Monty Python-Truppe – deren gnadenloser Spott heute der Alptraum aller Berufsbetroffenen wäre – in dieser Szene einst vergessen: das Schaltjahr!

Zumindest ich bin den Römern für die Einführung des Schaltjahrs während der Regentschaft von Gaius Julius Caesar dankbar, denn ansonsten „müsste“ ich schon heute – am 28. Februar 2020 – den Fund des Monats präsentieren.

Doch auch so kann ich mit einem nicht alltäglichen Dokument aufwarten, das den letzten PKW-Typ einer Marke zeigt, die ich bisher mangels Material nur gestreift habe – Phänomen aus dem schönen Städtchen Zittau in Sachsens Südosten.

Die Geschichte des PKW-Baus in den Phänomen-Werken habe ich in einem früheren Blog-Eintrag zum Phänomen „Granit“ Kübelwagen ausführlich beleuchtet, weshalb ich sie an dieser Stelle nicht wiederholen will.

Stattdessen geht es gleich zur Sache anhand eines Fotos, das ich kürzlich entdeckt habe:

Phänomen 12/50 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Originalabzug ist weit größer und ließ anfänglich nicht ahnen, was darauf zu sehen ist. Gerade deshalb habe ich ihn erworben, zumal da der Anbieter ebenfalls keine Vorstellung davon hatte, was das Foto zeigt.

Bei näherer Betrachtung kam mir dann rasch Phänomen in den Sinn – nicht etwa, weil ich diesen Typ schon einmal bewusst irgendwo gesehen hatte, sondern weil mir das Emblem von einigen anderen Fotos in meinem Fundus (bzw. von Lesern) vertraut vorkam, die eindeutig Phänomen-Wagen zeigen, die ich aber noch nicht vorgestellt habe.

Hier kann man das für Phänomen-Wagen der 1920er Jahre typische rautenförmige Emblem zumindest ahnen, auf dem Original zeichnet sich der Schriftzug besser ab.

Wie ordnet man nun ein Modell ein, das man zuvor nicht wahrgenommen hat und für das es in der bisherigen Literatur kaum Vergleichsstücke gibt?

Nun, glücklicherweise ist in der Neuausgabe des Klassikers von Werner Oswald „Deutsche Autos 1920-1945“ (Motorbuch-Verlag, 2019), zu der ich einige Bilder beisteuern durfte, auf S. 468 ein Phänomen mit identischer Frontpartie abgebildet.

Dieser wird dort als Typ 12/50 PS angesprochen, der von 1924-27 gebaut wurde und über einen beachtlichen Antrieb mit 3 Litern Hubraum und obenliegender Nockenwelle verfügte.

Nun ist der Erfahrung nach stets Vorsicht bei solchen Zuschreibungen von Exotenwagen angezeigt (das gilt auch für meine eigenen Fotos sonst kaum dokumentierter Automobile).

Im Netz findet sich nämlich die Abbildung eines ganz ähnlichen Phänomen-Autos, das dort als Typ 10/30 PS angesprochen wird.

Dieses schwächere Modell mit konventionellem seitengesteuerten Motor wurde jedoch in der ersten Hälfte der 1920er Jahre gebaut. Dazu passt weder das an US-Modelle angelehnte Erscheinungsbild mit Doppelstoßstange noch das Vorhandensein von Vorderradbremsen.

Dagegen könnte der in der älteren Ausgabe des Oswald auf Seite 334 abgebildete „Typ 12/50 PS“ tatsächlich eher einer der beiden Vorgänger 10/30 PS oder 16/45 PS sein.

So oder so ist das heute präsentierte Foto ein „Phänomen“ – denn mir ist kein vergleichbares in dieser Qualität bekannt. Tatsächlich handelt es sich auch nicht um einen Schnappschuss, sondern eine sorgfältig vorbereitete und sauber ausgeführte Aufnahme, die vermutlich der Fahrer selbst in Auftrag gegeben hatte:

Hier präsentiert er sich in selbstbewusster Pose neben „seinem“ Phänomen-Wagen, der mit drei Sitzreihen sicher einer wohlhabenden Familie gehörte.

Das Outfit mit ledernen Gamaschen und doppelreihiger Jacke knüpft an eine Tradition an, die bis in die Zeit vor dem 1. Weltkrieg zurückreicht, als solche Kleidung die oft noch im Freien sitzenden Fahrer vor Kälte schützte.

Hier ist allerdings die Lederjacke einer solchen aus Wollstoff – eventuell in Cord-Optik – gewichen. Der Schnitt ist aber derselbe wie noch ein Jahrzehnt zuvor.

Übrigens sieht man hier recht gut, dass der Phänomen keinen klassischen Limousinenaufbau besaß, sondern als Landaulet karossiert war. Über der hinteren Sitzbank – und nur dort – ließ sich also das Dach öffnen und niederlegen, sodass die Passagiere frische Luft, Sonne und ungestörte Aussicht genießen konnten.

Auch „Gesehenwerden“ war mit einem solchen Landaulet natürlich verbunden. Dabei machte man gewiss mit der Wahl eines ungewöhnlichen Automobils auf sich aufmerksam.

Die Bauzeit von 1924 bis 1927 darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Wagen noch in Manufaktur entstand. Über Stückzahlen schweigt sich die Literatur aus, doch werden sich diese bestenfalls im niedrigen dreistelligen Bereich bewegt haben.

Die Phänomen-Werke verlegten sich damals auf Lieferwagen und sollten damit später noch einigen Erfolg haben.

Wenn ein Leser etwas von einem überlebenden Phänomen des heute vorgestellten Typs weiß, würde mich ein entsprechender Hinweis freuen. Wie es scheint, findet man eher noch Exemplare von den Dreiradfahrzeugen, für die die Marke den meisten bekannt ist.

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Vom Cabrio zum Kübelwagen: Hanomag 4/20 PS

Vom Cabrio zum Kübelwagen – ebenso könnte der Titel meines heutigen Blog-Eintrags lauten: Vom selbstbewussten Bürger zur uniformen Verfügungsmasse – und zurück.

Unter diesem Motto begleiten wir heute das ab 1929 gebaute Hanomag-Modell 3/16 PS und die ab 1930 verfügbare stärkere Variante 4/20 PS.

Dieser heute kaum noch bekannte Kleinwagen des Maschinenbaukonzerns aus Hannover ist in meiner Hanomag-Galerie zahlreich vertreten. Gerade erst vor einem Monat habe ich folgendes adrette Exemplar vorgestellt (Porträt):

Hanomag 3/16 PS Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

An diese unbeschwerte Aufnahme, die irgendwo an einem Sommertag in den 1930er Jahren entstand, möchte ich mit einem Dokument anknüpfen, das den gleichen Wagentyp zeigt, aber eine andere Ausstrahlung hat.

Zu verdanken ist dieses Foto einmal mehr Klaas Dierks aus Hamburg, dessen Gespür für Qualität mir und meinen Lesern etliche erfreuliche Funde beschert hat:

Hanomag 3/16 PS Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Diese Aufnahme ist ein hervorragendes Beispiel dafür, dass die Magie eines Fotos nicht an die technische Vollkommenheit geknüpft ist – was mancher Fotoamateur bis heute nicht begreifen will, der eine teure Ausrüstung als Garant für Qualität ansieht.

Die leichte Verwacklungsunschärfe tut der Wirkung des Fotos keinen Abbruch. Wie durch Zauberhand wird der Blick von dem Auto auf die in sich ruhende und leise lächelnd in die Ferne schauende Dame im gestreiften Sommerkleid gelenkt.

Der Wind bringt leichte Bewegung in das Kleid und nimmt damit der Aufnahme das Statische. Für mich illustriert die Situation perfekt die „belebende“ Wirkung, die ein Automobil im Stillstand durch die Anwesenheit von Menschen erfährt.

Umgekehrt ist es interessant zu sehen, wie ein solches Porträt durch den Wagen als Staffage an Ausdruckskraft gewinnt. Was ist das Geheimnis hinter diesem Effekt? Warum ließen sich Autobesitzer einst so oft mit ihren Gefährten ablichten?

Nun, die naheliegende Interpretation ist die, dass sich die Porträtierten durch die Anwesenheit des einstigen Luxusgegenstands aufgewertet fühlten. Auch auf einen Kleinwagen wie den Hanomag konnte man im damaligen Deutschland zurecht stolz sein.

Doch unbewusst mag noch ein anderer Aspekt mit hineingespielt haben. Die Aussage eines Porträts ist ja: „Seht her, das bin ich – so sehe ich mich und so möchte ich gesehen werden.“

Genau diese Wirkung des Lebendigen, Individuellen wird durch die Anwesenheit des toten technischen Gegenstands verstärkt. Der Wagen ist in diesem Moment bloße Kulisse aus kunstvoll verbundenen Materialien wie Blech und Holz.

Das Auto ist Menschenwerk, auf das man durchaus stolz sein darf. Doch der Mensch begegnet uns hier als der eigentliche Souverän, als sein Schöpfer und Beherrscher.

Wie anders wirkt dagegen die folgende Aufnahme, obwohl auf ihr ein ganz ähnliches Automobil zu sehen ist und die Situation nicht ohne Reiz ist:

Hanomag 4/20 PS Kübelwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch dieser offene Wagen, der hier vor einer zauberhaften Winterlandschaft abgelichtet wurde, ist ein Hanomag des ab 1929 gebauten Kleinwagentyps.

Doch handelt es sich um die Kübelwagen-Version, die mit der ab 1930 verfügbaren Motorisierung 4/20 PS an die Reichswehr (ab 1935: Wehrmacht) geliefert wurde.

Entstanden ist diese Aufnahme wohl während eines Manövers zu Friedenszeiten, da der Hanomag nicht die ab 1939 üblichen Tarnüberzüge auf den Scheinwerfern trägt. Der Fahrer oder ein Insasse hatte hier die Muße – und das geübte Auge – ein gekonntes Winterfoto zu schießen.

Bei aller Schönheit der wie eingefroren wirkenden Natur mangelt es dieser Aufnahme an Leben – und das hat mit dem Fehlen von Menschen darauf zu tun.

Eine weitere Aufnahme desselben Kübelwagentyps (Ausführung als Nachrichtenkraftwagen) entstand ebenfalls im Winter, hat aber eine ganz andere Wirkung:

Hanomag 4/20 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn der Fotograf dem zweiten Mann den Kopf abgeschnitten hat – bei Sucherkameras bei kurzen Aufnahmedistanzen ein häufiger Fehler – und beide Uniform tragen, ist dieses Foto von einer ansteckenden Lebendigkeit.

Wir sind darauf programmiert, zuerst auf das Gesicht zu schauen, wenn uns in einer Situation ein Mensch begegnet. Es ist das Wichtigste, hinter dem alles andere erst einmal zurücktritt, bevor wir uns anderen Details zuwenden.

Man kann das anhand des Fotos ausprobieren. Kehrt man spontan dorthin zurück, dauert es nur einen Moment, bis man den gutgelaunten Soldaten am Lenkrad im Blick hat.

Er war zwar nur einer von Millionen, die der national-sozialistische Staat als Verfügungsmasse für seine Zwecke in Dienst nahm, dennoch sehen wir inmitten einer für den Einzelnen meist unüberschaubaren Kriegsmaschinerie das Individuum in ihm.

Uniforme Erfüllungsgehilfen – das ist seit jeher der Traum aller totalitären Machthaber, die nichts mehr fürchten als das selbstbewusste Individuum. Nicht umsonst sah die national-sozialistische Ideologie im christlich, jüdisch oder von der Aufklärung geprägten Bürgertum ausdrücklich ihren größten Feind.

Auch wenn man den Deutschen insgesamt einen fatalen Hang zum bedingungslosen Gehorsam bescheinigen möchte, sieht man auf solchen Fotos aus dem 2. Weltkrieg immer wieder das individuelle Bewusstsein aufblitzen.

Niemand wollte damals aus Überzeugung bloß als Kanonenfutter dienen ebenso wie heute niemand aus freien Stücken sein Dasein als Arbeitsbiene zubringen will, die von einem unersättlichen Staat ausgeplündert wird.

Heute tut man seine „Pflicht“ und trägt zähneknirschend Abgabenlasten, die weltweit ihresgleichen suchen, während die Propaganda einem Volk von Mietern einredet, „reich“ zu sein. Unsere Vorväter waren weit schlimmer dran. Sie mussten Befehlen folgen, deren Unsinnigkeit ihnen mitunter sogar bewusst war, vor denen es aber kein Entrinnen gab.

Irgendwie durchkommen, dem Dasein ein paar glückliche Momente abgewinnen, als Individuum wahrgenommen zu werden, sich irgendwohin zu wünschen, wo ein besseres Schicksal auf einen wartet – das war und ist ein zeitloses Thema, während sich mehr oder weniger militante Formen der Herrschaft über den Bürger abwechseln.

Vielleicht waren das auch die Gedanken dieses jungen deutschen Luftwaffensoldaten, der sich einst in nachdenklicher Pose mit einem weiteren Hanomag Kübelwagen des Typs 4/20 PS ablichten ließ:

Hanomag 4/20 PS Kübelwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wann und wo diese schöne Aufnahme entstand, ist schwer zu sagen.

Das Fehlen von Tarnüberzügen auf den Scheinwerfern spricht für eine Aufnahme vor Kriegsausbruch, der Zustand des Wagens und das aufgemalte taktische Zeichen auf dem Vorderkotflügel sprechen eher dagegen.

Denkbar ist, dass dieses Foto jenseits der Reichweite gegnerischer Flugzeuge entstand, sodass die an sich vorgeschriebenen Tarnscheinwerfer verzichtbar waren. Vielleicht diente der angejahrte Hanomag-Kübelwagen auch nur noch tagsüber als lokales Fortbewegungsmittel auf einem Luftwaffenstützpunkt.

Mir gefällt jedenfalls dieses Porträt des alten Hanomag und des jungen Soldaten. Es scheint das eingangs genannte Motto „Vom selbstbewussten Bürger zur uniformen Verfügungsmasse und zurück“ zu illustrieren…

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Lastenesel mit edler Herkunft: Opel Typ 90 / 100

Bei der Beschäftigung mit Vorkriegswagen auf deutschem Boden kommt man um das düstere Kapitel des 2. Weltkriegs – und im Fall Ostdeutschlands auch um die sich anschließende neuerliche Diktatur – nicht herum.

Das gilt vor allem dann, wenn man als Ausgangsmaterial nicht heutige Museumsstücke nimmt, denen man oft nichts mehr von ihrer wechselvollen Geschichte ansieht, sondern zeitgenössische Fotos als repräsentativ für das einstige Erscheinungsbild heranzieht.

Dann stößt man in Kriegs- und Nachkriegszeit auf hochinteressante, mitunter auch bedrückende Zeugen des Fortlebens längst veralteter, aber immer noch im Einsatz befindlicher Fahrzeuge.

Heute stelle ich wieder ein solches Exemplar vor, das auf seine Weise authentischer ist als später erfolgte Hochglanzrekonstruktionen, die zwar auch ihren Reiz haben können, aber ab einem bestimmten Grad kein historisches Objekt mehr darstellen.

Danken möchte ich bei dieser Gelegenheit Wolfgang Grossmann, der mir vor einiger Zeit drei Fotos zugesandt hatte mit der Bitte, den Wagen darauf zu bestimmen.

Den Anfang macht folgende Aufnahme, die die jüngste ist und zugleich wahrscheinlich die letzte, die von dem Auto darauf gemacht wurde:

Opel Typ 90 (12/50 PS) oder 100 (15/60 PS); Originalfoto aus Besitz von Wolfgang Grossmann

Auweia, wird jetzt mancher denken, was soll an diesem Gefährt denn besonders ein? Mehr als einen ziemlich mitgenommenen Lieferwagen sieht man hier auf den ersten Blick nicht.

Nun, zumindest für Wolfgang Grossmann hat dieses Foto großen Wert. Denn es zeigt den Wagen seines Großvaters, der einst in Hermsdorf in Niederschlesien nahe der Grenze zu Böhmen ein kleines Fuhrgeschäft betrieb.

Aus dieser Perspektive fällt es in der Tat schwer, sich einen Reim auf das Fahrzeug zu machen. Die Heckpartie wirkt wie nachträglich angesetzt und will so gar nicht zum Vorderwagen passen:

Tatsächlich erkennt man auf diesem Ausschnitt, dass das Schwellerblech, hinter dem sich der Rahmen verbirgt, kurz hinter der Tür einfach abgesägt wurde. Auch das Ende des Vorderkotflügels endet unmotiviert im Nichts.

Hier befand sich offenbar eine Reserveradmulde, auch die gebogene Halterung zur Befestigung des Rads ist noch vorhanden. Nur schemenhaft sind am vorderen Scheibenrad eine Nabenkappe und eine ungewisse Zahl an Radbolzen zu sehen.

Mehr Aufschluss gibt die zweite Aufnahme, die denselben Wagen zeigt, aber zu einem früheren Zeitpunkt:

Opel Typ 90 (12/50 PS) oder Typ 100 (15/60 PS); Originalfoto aus Besitz von Wolfgang Grossmann

Der Heckaufbau ist absolut identisch, wie ein Detailvergleich ergab, aber hier ist noch mehr von dem ursprünglichen Fahrzeug vorhanden: die Radkappe und das Schutzblech am Hinterrad sowie ein längerer Abschnitt des Schwellerblechs.

Die glänzende Applikation am Schweller, auf dem sich schwach ein ovales Emblem abzeichnet, lässt sich eindeutig einem Opel der späten 1920er Jahre zuordnen.

Und so unglaublich es klingt, genügt dieses Detail zusammen mit der Radkappe und den sechs Radbolzen, um den ursprünglichen Wagen als großen Sechszylindertyp 90 (12/50 PS) oder 100 (15/60 PS) anzusprechen.

Zum Vergleich ein Foto dieses Modells, das ich vor geraumer Zeit hier vorgestellt habe:

Opel Typ 90 (12/50 PS) oder 100 (15/60 PS); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist nun im wahrsten Sinne des Wortes ein dicker Hund.

Wie mag aus einem der mächtigen Sechszylinderwagen, mit denen Opel 1927/28 vergeblich der übermächtigen US-Konkurrenz die Stirn bieten wollte, später ein Behelfslieferwagen im beschaulichen Hermsdorf in Niederschlesien geworden sein?

Genaues weiß auch Wolfgang Grossmann nicht. Er vermutet aber, dass ein am Heck unfallbeschädigter Opel als günstige Basis für den Umbau zum Nutzfahrzeug diente.

Wagen der 1920er Jahre wurden zudem nicht vom Militär eingezogen und waren eine der wenigen verbliebenen Möglichkeiten auch nach Kriegsausbruch 1939 noch einen eigenen Wagen zu fahren.

Die erforderlichen Benzinzuteilungen werden im vorliegenden Fall kein Problem gewesen sein, da der umgebaute Opel Transportaufgaben in der Region zu erfüllen hatte. Unter anderem versorgte Wolfgang Grossmanns Großvater so die umliegenden Haushalte mit Steinkohle aus den Zechen in Hermsdorf und Gottesberg.

Wie das zweite Foto beweist, erwies sich der alte Opel auch bei der Heuernte als nützliches Transportmittel. Für größere Lasten war sogar ein Anhänger vorhanden. Für den Opel mit seinem robusten Rahmen und dem kräftigen Motor wird diese Beanspruchung kein Problem dargestellt haben.

Von 50 oder 60 PS Leistung konnten Bauern und Handwerker im damaligen Deutschland nur träumen – meist mussten Pferde- und Ochsengespanne herhalten. Von daher stellte das Unternehmen von Wolfgang Grossmanns Großvater schon etwas Besonderes dar.

Dass man sich dessen bewusst war, davon zeugen die Fotos des Opels, auf den man mit Recht stolz sein konnte. Hier haben wir nun das gute Stück in voller Pracht:

Opel Typ 90 (12/50 PS) oder Typ 100 (15/60 PS); Originalfoto aus Besitz von Wolfgang Grossmann

Dass man dem Opel mit dem typischen „Packard“-Kühler den harten Arbeitsalltag deutlich ansieht, tut dem Reiz des Bildes keinen Abbruch – ganz im Gegenteil: Die rustikale Weiternutzung des einst so luxuriösen Wagens – hier mit kriegsbedingten Tarnüberzügen auf den Trommelscheinwerfern – ist absolut zeittypisch.

Leider haben nicht viele solcher Behelfslieferwagen in dieser authentischen Form überlebt. Was aus dem Opel seines Großvaters wurde, als dieser 1945 seine schlesische Heimat verlassen musste, konnte mir Wolfgang Grossmann nicht sagen.

Es darf bezweifelt werden, dass noch genügend Benzin vorhanden gewesen war, um die Familie mit dem Opel über das nahe Böhmen hinüber nach Bayern zu retten. Meine damals 13-jährige Mutter absolvierte im Februar 1945 übrigens denselben Weg, aber meist zu Fuß.

So wird der Opel wohl zurückgeblieben sein und im Zuge der anschließenden polnischen Besiedlung von Hermsdorf (heute: Sobięcin) neue Besitzer gefunden haben.

Was mag von ihm übriggeblieben sein? Vielleicht haben zumindest ein paar Teile einem anderen Wagen dieses Typs ein neues Leben ermöglicht, sofern überhaupt noch einer davon existiert…

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Erster Brennabor mit 6-Zylindern: Typ A & AS

Die einst hochbedeutende Marke „Brennabor“ aus Brandenburg an der Havel gehört nach wie vor zu den weißen Flecken in der Dokumentation deutscher Automobilhersteller der Vorkriegszeit.

Immerhin gibt es dank des rührigen Brennaborvereins eine allmählich wachsende Internetpräsenz, die die breite Produktpalette der Firma nach und nach erschließen soll.

Doch was die PKW-Produktion angeht – nach dem 1. Weltkrieg zeitweilig die größte Deutschlands – bestehen dort (wie auch auf der Website der Interessengemeinschaft-Brennabor) nach wie vor erhebliche Lücken. Man darf aber hoffen, dass diese künftig geschlossen werden, wobei ich meinen Fundus gern zur Verfügung stelle.

Bis dahin stellt meine nebenher in den letzten fünf Jahren entstandene Galerie mit Originalfotos und Dokumenten von Brennabor-Wagen die größte ihrer Art im Netz dar.

Nach anfänglichen Startschwierigkeiten, die die desolate Bilddokumentation und die widersprüchlichen Angaben in der älteren Literatur widerspiegeln, finde ich nun laufend „neue“ zeitgenössische Aufnahmen von Brennabor-PKW, die ich mittlerweile auch recht gut ansprechen kann.

Das folgende Foto macht anschaulich, dass das für das ungeübte Auge nicht so einfach ist:

Brennabor Typ ASK 12/55 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses schöne Dokument, das vor fast genau 90 Jahren entstand (im Januar 1930 – offenbar gab es damals ebenfalls schneearme Winter) ist ein typisches Beispiel für mein Vorgehen beim Erwerb solcher Dokumente.

Die Situation muss mir gefallen und am besten ist nicht auf Anhieb zu erkennen, was für ein Wagen abgebildet ist. Das ermöglicht meist niedrige Kaufpreise und sorgt für ein gewisses Überraschungspotential.

Natürlich kann der Schuss auch erst einmal nach hinten losgehen – man freut sich über einen hübschen Fund wie diesen, ohne aber eine Idee zu haben, was darauf zu sehen ist.

Die lange Haube deutet auf ein Sechszylindermodell hin, weshalb ich anfänglich eines der zahlreichen US-Modelle der späten 1920er Jahre für möglich hielt, die damals dieses Segment in Deutschland dominierten.

Lackierte trommelförmige Scheinwerfer und Scheibenräder waren bei amerikanischen Basismodellen durchaus üblich, doch die „kiemenartig“ in die Motorhaube gepressten Luftschlitze eher nicht.

Bei US-Modellen wurde meist ein geprägtes Blech mit nach außen zeigenden Schlitzen aufgeschweißt oder es wurden – bei teureren Modellen – verstellbare Luftklappen verbaut.

Auch die Höhe des Wagens – gemessen an den umstehendenen Personen – spricht tendenziell gegen eines der meist höherbauenden US-Modelle jener Zeit:

So blieb mir nur, das Bild von Zeit zu Zeit zu betrachten – wie ich das bei den vielen hundert „Rätselfotos“ zu tun pflege, die sich angesammelt haben – und mich an der schönen Situation zu erfreuen, die von verlorengegangen Umgangsformen erzählt.

Nebenbei ist diese Privataufnahme bei aller technischen Umzulänglichkeit – es wird wohl ein trüber Tag mit wenig Licht gewesen sein – ein Beispiel für das Gespür für eine reizvolle Situation und Perspektive, das auch Fotoamateure entwickeln können.

Der Betrachter wird neben modischen Details wie dem feinen Schuhwerk oder auch technischen Finessen wie den Türschlossaufnahmen an der Mittelsäule am Heck das Ende einer Sturmstange bemerken, die auf ein Cabrio- oder eine Cabriolimousine hindeutet.

Wie aber passt die darüber sichtbare Regenrinne zu einem niederlegbaren Verdeck? Genau: gar nicht. Es muss sich also um einen Aufbau als „Faux Cabriolet“ mit festem Dach und funktionslosem Verdeck handeln.

Genau so etwas ist auf der folgenden Aufnahme zu sehen, wenn auch in Verbindung mit einer hell gehaltenen Dachpartie:

Brennabor Typ AK 10/45 PS oder ASK 12/55 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der selbstbewusst posierende junge Mann scheint kleiner gewachsen zu sein als die beiden Herren auf der vorherigen Aufnahme, daher wirkt das Auto hier eindrucksvoller.

Jedoch stimmt es in allen formalen Details mit dem zuvor gezeigten überein. Nur ist hier auf der Nabenkappe des vorderen Scheibenrads das für Brennabor typische „B“ zu erkennen, das mit dem weniger gut sichtbaren Pendant auf dem Kühler korrespondiert.

Auf dem Kühlergrill ist außerdem ein Schriftzug „6 Cylinder“ angebracht, bei dem die „6“ die Mitte des Worts „Cylinder“ umspielt – ein filigranes Element, das die Frontpartie auflockert.

Gut zu erkennen ist hier, dass wir ebenfalls ein „Faux Cabriolet“ vor uns haben – die bis zum Heck durchgehende Regenrinne kann nicht zu einem niederlegbaren Verdeck gehören.

Nach Lage der Dinge zeigen beide Aufnahmen ein Brennabor 6-Zylindermodell der späten 1920er Jahre. Die spärliche Literatur macht den Typ AK 10/45 PS oder ASK 12/55 PS wahrscheinlich, die sich offenbar nur durch Hubraum und Leistung unterschieden.

Welches der beiden Aggregate unter der Haube schlummerte, hätte man uns wenigstens auf der Rückseite der Abzüge verraten können. Doch so wird das vermutlich nichts mehr.

Im Fall des zweiten Fotos hat uns der mutmaßliche Besitzer oder Fahrer aber wenigstens eine modische Anregung hinterlassen:

Auf den ersten Blick wirkt diese Aufmachung mit dem unmotivierten Gürtel, den der junge Mann mangels Bauch nicht braucht, etwas eigenwillig. Doch die Kombination aus gemustertem Pullover über dem Hemd (natürlich mit Krawatte, einst unverzichtbare Insignie des Bürgertums) und Schiebermütze oder Ballonkappe war damals ein einwandfreies Sportdress.

Wer in der anstehenden Saison mit einem Fahrrad, Moped oder gar Auto von Brennabor gute Figur machen will, wird mit einem solchen Outfit alles richtig machen…

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Ein Poller in Berlin: Citroen 6/25 PS Typ B14

Jetzt wird’s politisch, mag jetzt mancher denken, dem beim Stichwort „Poller in Berlin“ zuerst die – sagen wir: eigenwillige – „Fußverkehrsstrategie“ des dortigen Senats einfällt.

Doch der „Poller“ ist keine Anspielung auf systematische Parkplatzbeseitigungen wie im Schlesischen Viertel der Hauptstadt (hier der hübsche Kommentar einer Betroffenen).

„Poller“ bezieht sich vielmehr auf die Citroen-Wagen, die ab Frühjahr 1927 auf dem Areal der einstigen Rheinwerk GmbH im Kölner Stadtteil Poll gebaut wurden.

Das erste dort gefertigte Modell war der kurz zuvor vorgestellte Typ B14. Gegenüber dem Vorgänger B12 besaß er einen leicht vergrößerten Vierzylindermotor, dessen Leistung von 22 auf 25 PS stieg. Damit waren nun 80 statt 70 km/h Spitze drin.

Wie der Vorläufer verfügte der Citroen B14 über eine Ganzstahlkarosserie und Vierradbremsen. In seiner Klasse war das fließbandgefertigte Modell eines der modernsten in Europa.

Auch in Deutschland stellte sich ein beachtlicher Verkaufserfolg ein, nicht zuletzt dank einfallsreicher Werbemaßnahmen, die bei einheimischen Herstellern ihresgleichen suchten. Folgendes Dokument dieses Erfolgs habe ich hier vorgestellt:

Citroen Typ B14; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So schön wie dieses Foto einer im Raum Dresden zugelassenen Taxi-Ausführung ist das Dokument leider nicht, das ich heute präsentiere. Doch ist es bei aller Unzulänglichkeit interessant, da seine Karosserie eine Besonderheit aufweist.

Im Unterschied zu obigem Citroen handelt es sich um kein Landaulet, bei dem die Passagiere auf der hinteren Sitzbank – und nur sie – bei geöffnetem Verdeck im Freien saßen.

Stattdessen scheint bei dem Aufbau das Verdeck bis zum Fahrerabteil zu reichen, während die seitlichen Fensterrahmen im Unterschied zum Cabriolet stehenblieben:

Citroen Typ B14; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Aufbau wirkt recht archaisch und man ist im ersten Moment versucht, eine frühere Entstehung als die zweite Hälfte der 1920er Jahre zu vermuten.

Doch aus dieser Perspektive ist die Übereinstimmung der Frontpartie mit derjenigen des Dresdener Citroen B14 klar ersichtlich.

Lediglich das Nummernschild ist etwas höher angebracht und die (wohl nachgerüstete) Stoßstange ist ein- statt zweiteilig.

Ganz ausschließen kann man nicht, dass wir einen Citroen B12 vor uns haben, also ein Exemplar des optisch weitgehend identischen Vorgängertyps. Von diesem entstanden während der nur knapp 15-monatigen Fertigungsdauer fast 40.000 Exemplare.

Doch spricht die Wahrscheinlichkeit eher für das auch in Deutschland gefertigte Modell B14.

Zwar war in Berlin Mitte der 1920er Jahre so ziemlich alles möglich, doch in automobiler Hinsicht galt das eher für Prestigewagen, nicht für ein französisches Fließbandprodukt.

Übrigens findet sich auf Seite 21 von Immo Mikloweits Buch „Citroen – Die ersten deutschen Jahre 1919 bis 1969“ ein Wagen des Typs B14 mit identischem Dachaufbau.

Dieses erst 2019 herausgekommene Werk ist für mich ein in jeder Hinsicht gelungenes Autobuch, das ich allen Freunden klassischer Automobile ans Herz lege. Dort wird auch eingehend auf das titelgebende „Poller Werk“ eingegangen, zu dem der Autor einen ganz persönlichen Bezug hat – mehr will ich an dieser Stelle nicht verraten…

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Tankwarts Liebling: Mercedes 15/70/100 PS

Eigentlich sollte mein heutiger Blog-Eintrags mit „Dick & durstig“ überschrieben sein.

Doch daran könnten ja mögliche Rechteinhaber wie ein Hersteller von Haushaltstüchern oder die „Musik“gruppe Böhse Onkelz Anstoß nehmen – die vermutlich beide keinen Spaß verstehen.

„Tankwarts Liebling“ trifft die Sache aber genauso gut – eigentlich noch viel besser, wie sich zeigen wird.

Die Freunde klassischer Mercedes-Wagen jedenfalls werden auf ihre Kosten kommen – vielleicht sogar der heutige Besitzer des Autos, um das es geht. Denn ich kann mir gut vorstellen, dass der „Star“ dieses Abends noch unter uns weilt.

Und wenn ich „Mercedes“ schreibe, meine ich auch einen echten Mercedes – mit Stern, aber noch ohne „Benz“-Anhängsel. Bis zur Fusion mit den Benz-Werken im Jahr 1926 war ein „Mercedes“ das Produkt der Daimler-Motoren-Gesellschaft, wie auf dieser hübschen zeitgenössischen Reklame zu sehen:

Reklame der Daimler-Motoren-Gesellschaft vor 1927; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Für Kenner sind solche Details zwar nichts Neues – meine Erfahrung zeigt aber, dass man dieses Wissen nicht mehr bei allen Freunden alter Automobile voraussetzen kann. Ich schreibe für ein breites Publikum, für das Vorkriegsfahrzeuge mitunter rätselhaft sind.

Gern ziehe ich auch bereits gezeigte Fahrzeuge desselben Typs heran, da im Vergleich Gemeinsamkeiten wie Unterschiede zutagetreten und den Blick schärfen helfen.

Auch heute beginne ich mit einem Foto aus meiner Sammlung, das ich vor einigen Jahren präsentiert habe:

Mercedes 15/70/100 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Obige technisch hochwertige Aufnahme (hier in Ausschnittsvergrößerung) zeigt den von Ferdinand Porsche in der ersten Hälfte der 1920er Jahre für die Daimler-Motoren-Gesellschaft konstruierten Typ 15/70/100 PS.

Die technischen Details dieses mächtigen Automobils – offenbar im Dienst der Reichswehr – hatte ich im seinerzeitigen Blog-Eintrag aufgeführt, weshalb ich hier nur daran erinnern will, was die Typenbezeichnung besagt:

Aus den knapp vier Litern Hubraum des Sechyszylinders errechneten sich 15 Steuer-PS, die Höchstleistung betrug 70 PS und nur bei Aktivierung des Kompressors – also mit verdichteter Ansaugluft – fielen kurzzeitig 100 PS an.

Für dieses technische Kabinettstückchen war der Gegenwert eines Hauses zu entrichten. selbst wenn man sich nur für die preisgünstigste Tourenwagenausführung entschied. Deren Preis von 19.000 Reichsmark ließ sich um fast ein Viertel steigern, wenn man eine geschlossene Version oder eines der aufwendigen Werks-Cabriolets wünschte.

Bevor wir uns dem eigentlichen Gegenstand des heutigen Blog-Eintrags zuwenden, sei auf ein Detail verwiesen, das sich an allen mir bekannten historischen Fotos der Tourenwagenausführung des Mercedes 15/70/100 PS wiederfindet – die mittig unterteilte und horizontal neigbare Frontscheibe:

Außerdem sieht man neben dem Spitzenkühler mit Mercedes-Stern und (optionalem) Markenschriftzug auf beiden Seiten die für das Modell typischen großen Positionsleuchten auf den Vorderschutzblechen und die lange Reihe schmaler Luftschlitze in der Haube.

Die Drahtspeichenräder waren übrigens alternativ zu klassischen Holzspeichenrädern erhältlich und verleihen dem Wagen optisch eine sportliche Note.

Wieviel die Ausführung der Räder ausmacht, wird im direkten Vergleich mit dieser sonst weitgehend identischen Tourenwagenausführung des Mercedes 15/70/100 PS deutlich:

Mercedes 15/70/100 PS Tourenwagen; Originalfoto vermittelt via Wolf-Dieter Ternedde (Seesen)

Dieses aus ähnlicher Perspektive aufgenommene Foto zeigt zweifellos den gleichen Mercedes Typ 15/70/100 PS wiederum als Tourenwagen – lediglich mit den für diesen Aufbau üblichen aufgesteckten Seitenfenstern aus Kunstleder und Zelluloid.

Die massiven Speichenräder (Holz oder Stahl) lassen den Wagen weit schwerer wirken als das von der Reichswehr verwendete Exemplar.

Zudem fällt die einteilige Frontscheibe auf, die ebenfalls zum etwas behäbigeren Eindruck des Wagen beiträgt. Sehr stimmig kommt mir dieses Detail nicht vor. Was könnte der Grund für diese in der mir zugänglichen Literatur nicht vorkommenden Lösung sein?

Nun, ein Blick auf das Kennzeichen – das in der Bundesrepublik Deutschland ausgestellt wurde – könnte ein Schlüssel zur Aufklärung sein. Denn es ist nicht gesagt, dass dieser Kompressor-Mercedes unbeschadet in die Nachkriegszeit gelangt ist.

Einen Kriegseinsatz können wir ausschließen – dafür war der Wagen 1939 schlicht zu alt. Doch könnte er bei Bombardierungen oder durch Vandalismus von Besatzungssoldaten Schaden genommen haben.

Vielleicht ist die einteilige Frontscheibe aber auch ein Hinweis auf das Baujahr – immerhin blieb das Modell 15/70/100 PS über die Fusion von Daimer und Benz hinaus bis Ende der 1920er Jahre im Programm (nunmehr als Typ 400).

Vielleicht kann ein Mercedes-Kenner etwas dazu sagen. Bei der Gelegenheit stellt sich mir auch die Frage, ob man aus dieser Perspektive Unterschiede zum noch stärkeren Schwestermodell 24/100/140 PS erkennen kann.

Mir scheint das nicht der Fall zu sein – ich lasse mich aber gern eines Besseren belehren. Für die Ansprache der beiden oben gezeigten Wagen als Typ 15/70/100 PS habe ich mich übrigens aufgrund der Tourenwagenkarosserie entschieden. Mein Eindruck ist, dass sich die Spitzenmotorisierung häufiger in Verbindung mit aufwendigeren Aufbauten findet.

Sicher sagen lässt sich jedenfalls, wo letztere Aufnahme entstanden ist, die ich hier in ganzer Pracht zeige:

Das Originalfoto – offensichtlich aus den 1960er Jahren – wurde mir über Wolf-Dieter Ternedde aus Seesen im Harz zur Verfügung gestellt.

Nachdem ich für ihn einige Vorkriegsfotos von Fahrzeugen identifiziert habe, die in seiner Heimatstadt abgelichtet wurden und Eingang in ein Buch über das alte Seesen erhalten sollen, ließ er mir jüngst diese Aufnahme mit Angabe des Aufnahmeorts zukommen.

Demnach wurde der Mercedes an der Esso-Tankstelle in Seesen aufgenommen, die bis in die 1990er Jahre existierte. Der Fotograf war der damalige Tankstellenpächter und seiner Witwe ist es zu verdanken, dass wir es heute bewundern dürfen.

Somit war der Mercedes 10/70/100 PS damals nicht nur aufgrund seines großen Durstes bei engagierter Fahrweise „Tankwarts Liebling“, sondern in diesem Fall auch wegen seines Seltenheitswerts.

Offenbar lag die Kamera griffbereit mit Schwarzweißfilm geladen, sodass wir heute noch am seltenen Ereignis eines solchen Vorkriegs-Mercedes mit Hamburger Zulassung teilhaben können.

Bleibt der Aufruf an die Mercedes-Veteranen-Fraktion, ob jemand weiß, was aus diesem Wagen geworden ist und wer ihn heute besitzt. Es würde mich sehr wundern, wenn jemand nicht angetan wäre von diesem schönen Dokument eines Tankstopps „seines Mercedes“ im Harz-Städtchen Seesen vor über einem halben Jahrhundert

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Chicer Chevy: „Master“ Cabriolet von 1934

Chevrolet und Chic – wie geht das zusammen? Nun, wenn man das ignoriert, was in der Neuzeit unter diesem Markennamen auf die Menschheit losgelassen wird, passt das ganz hervorragend.

Dass ein Billigheimer richtig gut aussehen kann, hat nicht nur die US-Automobilindustrie längst verlernt. Vor dem 2. Weltkrieg sah das noch anders aus.

Zur Erinnerung zunächst ein bereits vorgestelltes Foto, das aus meiner Sicht ein schönes Beispiel dafür ist, wie wirkungsvoll ein Chevrolet einst daherkommen konnte:

Chevrolet „Master Eagle“ von 1933; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Vollverchromte Scheinwerfer, Drahtspeichenräder und elegante Luftklappen in Verbindung mit einem 65 PS leistenden 6-Zylinder und synchronisiertem Getriebe – und das alles zu einem volkstümlichen Preis: je nach Ausführung 485 bis 565 Dollar.

Unglaubliche 450.000 Exemplare konnte Chevrolet von den Wagen der „Eagle“ Serie absetzen – in einem einzigen Jahr: 1933.

Das verdeutlicht, wie weit man selbst in den 1930er Jahren in Deutschland noch von einem echten Wagen für’s Volk entfernt war, von den 1920ern ganz zu schweigen, als selbst ein Minimalauto wie der Hanomag „Kommissbrot“ ein exklusives Vergnügen war.

Interessanterweise sind die einst auch hierzulande gern gekauften „Chevies“ fast völlig ausgestorben. In der deutschen Vorkriegsszene gibt es zwar reichlich Exemplare eines anderen Erfolgsmodells – des Ford „A“ – selbst die sind aber oft importiert.

Ehedem billige Buicks und Chevrolets sind seltener als ein BMW, Mercedes oder Horch. Wie anders stellt sich die Situation auf Fotos der Vorkriegszeit dar, dort begegnet man amerikanischen Brot- und Butter-Wagen auch in Deutschland auf Schritt und Tritt.

Treue Leser meines Blogs erinnern sich vielleicht an diese Sechsfenster-Limousine mit Zulassung in Dresden, die vor genau 85 Jahren – im Februar 1935 – abgelichtet wurde.

Chevrolet „Standard Six“: Baujahr: 1934; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Gegenüber dem Chevrolet des Modelljahrs 1933 hatte sich äußerlich nur wenig getan. Die auffallendste Änderung war der Wechsel zu drei horizontalen Luftschlitzen, die von oben nach unten kürzer wurden.

Inspiriert war dieses Detail vom Chrysler „Airflow“ – der zwar aufgrund seiner monströsen Erscheinung beim Kunden zurecht durchfiel, aber erheblichen Einfluss auf die Karosseriemode jener Zeit hatte.

Wo aber bleibt der versprochene Chic bei diesem Chevy? Zugegeben: die Limousine des 1934er Chevrolet wirkt eher massiv und behäbig.

Inzwischen ist aber das Foto eines wirklich attraktiv gezeichneten Chevrolet desselben Modelljahrs aufgetaucht, das dem Spürsinn von Leser Klaas Dierks zu verdanken ist:

Chevrolet „Master“ von 1934; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Auch wenn sich das Fotomodell auf dem Trittbrett um einen möglichst griesgrämigen Gesichtsausdruck bemüht, tut das den Qualitäten des zweitürigen Cabriolets keinen Abbruch.

In wünschenswerter Deutlichkeit sind hier die erwähnten Luftschlitze in der Motorhaube zu sehen, die sonst meist teilweise verdeckt sind.

Die vollverchromten Scheinwerfergehäuse sind ein Indiz dafür, dass wir es mit der gehoben ausgestatteten „Master“-Serie zu tun haben, bei der der Chromschmuck üppiger war als bei der Basisversion „Standard“.

Übrigens fiel auch die Motorleistung des Chevrolet „Master“ mit nunmehr 80 PS deutlich opulenter aus als beim „Standard“, der weiterhin „nur“ 60 PS bot. Beide Aggregate besaßen strömungsgünstig im Zylinderkopf liegende Ventile (ohv-Anordnung).

Der Werksaufbau als zweitüriges Cabriolet war dem „Master“ vorbehalten und war mit 695 Dollar zugleich der teuerste. Beim Chevrolet „Standard“ gab es nur fünf statt acht Karosserieversionen, deren billigste der Roadster mit 465 Dollar war.

Kostentreibend waren beim Cabriolet unter anderem die versenkbaren Seitenscheiben und die aufwendige Verdeckkonstruktion, die im Unterschied zur Dachpartie geschlossener Versionen viel Handarbeit erforderte.

Auch wenn mir keine Produktionszahlen zu dem schicken 2-türigen Cabriolet auf obigem Foto vorliegen, darf man davon ausgehen, dass es nur selten geordert wurde.

Anders sind nämlich die Stückzahlen des Chevrolet im Modelljahr 1934 nicht zu erklären. Allein vom „Standard“-Typ enstanden fast 100.000 Stück. Noch größeren Absatz fand jedoch der besser ausgestattete „Master“ mit beinahe 460.000 Wagen.

Angesichts solcher Größenordnungen und der Exporterfolge amerikanischer Hersteller auch am deutschen Markt liegt es für mich auf der Hand, dass US-Vorkriegswagen bei Klassikerveranstaltungen hierzulande heute stark unterrepräsentiert sind.

Dabei sind amerikanische Autos praktisch die einzigen, bei denen attraktives Äußeres und großzügige Motorisierung noch für einigermaßen erträgliche Preise zu bekommen sind. Interessanterweise wusste die Generation der einstigen Besitzer das noch – während bei heutigen Enthusiasten allzuoft nur das Prestige teurer Manufakturmarken zählt…

Literatur: B.R. Kimes/H.A.Clark: Standard Catalog of American Cars, 3. Auflage, 1996

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Wiedersehen im Schnee: Audi „Front“ 225 Cabrio

„Man trifft sich stets zweimal“ – so lautet ein Bonmot, das sich nach meiner Erfahrung oft genug bestätigt. Eine Erklärung dafür ist die, dass Menschen aus demselben Milieu übereinstimmende Neigungen haben und ähnliche Verhaltensmuster an den Tag legen.

Kreuzen sich dann die Wege wieder einmal – vielleicht nach langer Zeit – stellt sich nicht immer Begeisterung ein. Mitunter hat man sich auseinandergelebt und flüchtet sich dann in Belanglosigkeiten.

Eine solche Situation wurde von einer hessischen Musikgruppe einst mit der legendären Titelzeile „Ei gude wie, wo machst’n hie?“ besungen. Eine mögliche Übersetzung ins Hochdeutsche lautet so: „Ach – guten Tag! Wie geht es Dir? Wohin bist Du unterwegs?“

Doch gibt es auch unerwartete Begegnungen, in denen es keiner Höflichkeitsfloskeln bedarf, die das Desinteresse kaschieren. Mitunter freut man sich schlicht, nach einiger Zeit einen alten Bekannten wiederzusehen – so ist das auch heute in meinem Blog.

Die Freunde von Vorkriegs-Audis und wohl alle Liebhaber alter Autofotos, die hier mitlesen, erinnern sich vermutlich an die folgende Aufnahme, die ich im letzten Sommer zusammen mit einigen weiteren gezeigt habe:

Audi „Front“ 225 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Seinerzeit hatte ich dieses zauberhafte Dokument zusammen mit weiteren unter dem Titel „Ein Traum in 3D“ vorgestellt, weil die Aufnahmen eine Rundumsicht eines Audi „Front“ 225 Cabriolet von 1935/36 mit Karosserie von Gläser aus Dresden boten.

Damals hatte ich bereits angemerkt, dass das Besitzerpaar ein Faible für die „Farbe Weiß“ gehabt haben muss. Dies bestätigt sich heute anhand von zwei weiteren Aufnahmen desselben Autos:

Audi „Front“ 225 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sehen wir nicht nur exakt denselben Audi mit Zulassung im Raum Annaberg/Erzgebirge – nunmehr in winterlicher Landschaft – sondern auch den mutmaßlichen Fotografen der im Sommer entstandenen Aufnahmen.

Jedenfalls gehe ich davon aus, dass nunmehr die fesche Dame im damals zum Auto passenden weißen Kleid die Kamera bediente – und das mit einem Blick für’s Malerische. Der dünne Verkehr im ländlichen Deutschland der späten 1930er Jahre erlaubte einen solchen Fotohalt an einer Kehre der Landstraße, die sich irgendwo nach oben schraubt.

Der frontgetriebene Audi mit 50 PS-Sechszylinder dürfte hier gezeigt haben, was er kann. Ein solches Foto macht man nicht, wenn man keine Freude daran hat, durch eine Winterlandschaft und über verschneite Straßen zu fahren.

Wie es scheint, hatten die Besitzer keine Schneeketten aufgezogen. Offenbar hatte bereits Tauwetter eingesetzt und man konnte darauf vertrauen, dass der Frontantrieb den 1,5 Tonnen schweren Audi wieder zuverlässig aus dem Schneematsch ziehen würde.

Dass unser Audi-Paar an jenem Tag eine vergnügliche Fahrt unternahm und sich mit dem Wagen offensichtlich wohl auf winterlichen Straßen fühlte, verrät vielleicht noch mehr das zweite damals entstandene Foto:

Audi „Front“ 225 Cabriolet“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch hier scheint „sie“ wieder die Kamera bedient zu haben – und nun mit noch schönerem Ergebnis, wohlkomponiert und ausgezeichnet belichtet, was damals bei Schnee gar nicht so einfach war.

Auch hier scheint Tauwetter eingesetzt zu haben und man mag sich gar nicht vorstellen, welche Unmengen Schneematsch sich der Audi auf dieser Ausfahrt in jeden Winkel des Chassis schaufelt.

Sicher: Rahmen und Bleche waren damals von beeindruckender Stärke und rosteten nicht nach wenigen Wintern durch, wie das am qualitativen Tiefpunkt des europäischen Automobilbaus in den 1970er Jahren der Fall war.

Dennoch interessiert es einen, ob Besitzer solcher teuren Prestigewagen einst ein Mindestmaß an Vorkehrungen trafen, um ihre vierrädrigen Schätze möglichst lange vor dem Zugriff des Rosts zu schützen.

Interessehalber habe ich in einem umfangreichen Zubehörkatalog der frühen 1930er Jahre nachgeschlagen, der mir im Original vorliegt – dem Katalog Nr. 125 der Firma Bernhard Wedler, ansässig in Breslau (Schlesien) und Stettin (Pommern).

Dort findet sich auf S. 203 ein Produkt, das zumindest eine nachträgliche Behandlung angegriffener Chassisteile ermöglichte.

Es trug den schlichten Namen „4610“ und wurde als Isolier- und Rostschutzlack angepriesen, der der frühzeitigen Zerstörung von Fahrwerksteilen einschließlich des Rahmens und der Unterseite der Koflügel entgegenwirken sollte.

Es scheint sich dabei nicht um einen Unterbodenschutz auf Bitumen- oder Wachsbasis gehandelt zu haben, wie er nach dem Krieg gängig wurde. Mit Pinsel oder Spritzpistole in zwei Schichten aufgetragen ergab besagter „4610“-Schutzlack eine geschlossene und hochglänzende Oberfläche, wie in der Beschreibung betont wird.

Ob unsere Audi-Besitzer wohl auch für solche verborgenen Finessen einen Sinn hatten?

Möglicherweise konnten sie es sich leisten, dem dauerhaften Erhalt ihres Wagens keine Bedeutung beizumessen. Wichtig war es ihnen aber, ihn als geschätzten Gefährten in einer Zeit festzuhalten, in der in vielerlei Hinsicht Gewohntes ins Rutschen geriet:

Über das Schicksal dieses Audi „Front“ 225 Cabriolets und seiner einstigen Besitzer ist mir sonst nichts bekannt.

Dennoch hege ich bei solchen Fotos mit Nummernschild stets die Hoffnung, dass sich doch mehr davon erhalten hat – seien es weitere Dokumente oder gar der Wagen selbst.

Unabhängig davon bleibt uns wie schon bei den ersten Fotos dieses Audi die Freude an dem schönen Wagen und seiner gekonnten Inszenierung – erhalten auf alten Abzügen, die nach jahrzehntelangem Schlummer ein unverhofftes und willkommenes Wiedersehen ermöglichen…

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Auf in die Schlammschlacht: Ein Horch anno 1914

Wer dieser Tage die politischen Ereignisse in Deutschland verfolgt, wird Zeuge einer Schlammschlacht ohnegleichen. Die Wortwahl ist schmutzig, wenn es darum geht, unliebsame Gegner auszuschalten, doch auch von Säuberungen ist die Rede.

Mir ist nicht wohl bei dieser Zuspitzung der Rhetorik in der politischen Sphäre unserer Tage – vor allem dann nicht, wenn der Gegner verbal zum Objekt degradiert wird.

Vermintes Gelände – besser zieht man sich zurück. Damit war man auch vor über 100 Jahren gut beraten, wenn es darum ging, den eigenen Hals zu retten. Glücklich, wer nicht in vorderster Front den Kopf hinhalten musste für eine an sich belanglose Episode.

So wurde schon anno 1914 aus einer Sache von regionaler Bedeutung ein Flächenbrand, der nicht mehr zu löschen war. Den einen galt es, offene Rechnungen zu begleichen, anderen, unliebsame Konkurrenten aus dem Weg zu schaffen.

Selbst wer sich redlich und aufrichtig wähnte, fand sich binnen kurzem im größten Schlamassel wieder. Dann noch die Contenance zu wahren fällt schwer, wenn man sich Anfechtungen ausgesetzt sieht, deren Ursache man kaum begreift.

Das ist vielleicht die Botschaft dieser Aufnahme, die im 1. Weltkrieg entstand:

Horch14/40 PS oder 18/50 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Umgeben von Dreck und wohl unweit der Schlachtfelder der Westfront hat sich hier ein junger Fahrer ablichten lassen.

Ihm war es wichtig, für Verwandte und Nachwelt am Steuer eines mächtigen Wagens festgehalten zu werden, über den zu gebieten ein heute unvorstellbares Privileg war.

Dieses exklusive Automobil war gleichzeitig eine Art Lebensversicherung, denn damit blieb man meist hinter den Linien, wo die Altersgenossen auf beiden Seiten von den Mächtigen am grünen Tisch ins Feuer geschoben wurden wie Holzscheite in einen Ofen.

Auch ohne den teilweise zu erkennenden „Horch“-Schriftzug auf dem Kühlergitter ließe sich dieser Tourenwagen einwandfrei identifizieren:

Der birnenfömige Kühler mit dem Überstand am oberen Ende – daher auch die Bezeichnung „Schnabelkühler“ – sowie die drei schrägstehenden Luftschlitze in der Haube sind typisch für die Horch-Modelle 14/40 PS und 18/50 PS ab 1913.

Diese beiden Vierzylindertypen mit 3,6 bzw. 4,7 Litern Hubraum wurden ab 1915 mit Lichtmaschine und elektrischer Beleuchtung angeboten. Von daher wird der Horch auf dem Foto 1913 oder 1914 entstanden sein, da er noch Gasscheinwerfer besitzt.

Auch der steile Anstieg des Windlaufblechs zwischen Motorhaube und Frontscheibe spricht für eine frühe Entstehung.

Etwas mehr als 500 Exemplare der beiden Typen sind bis in die frühen 1920er Jahre gebaut worden. Man kann deshalb annehmen, dass ein solcher Horch im 1. Weltkrieg ein eher seltener Anblick war.

Bezieht man man den zeitgleichen „kleinen“ Horch Typ 8/24 PS ein, der mir jedoch in der Literatur mit Schnabelkühler noch nicht begegnet ist, hat man es mit deutlich mehr Wagen zu tun, die im Krieg „Dienst“ unter dem Zeichen des preußischen Adlers taten:

Der geduldig das Foto abwartende Fahrer kannte natürlich die Motorisierung seines Horch genau – auch wenn ihn in diesem Augenblick andere Dinge bewegt haben mögen.

Möglicherweise dachte er an die Familie daheim, die schon nach einigen Tagen dieses Konterfei des „Bubs“ per Feldpost erhalten und gewiss mächtig über seine automobile Karriere staunen würde.

Vermutlich waren sie erleichtert darüber, dass es ihn zu einem Kraftfahrerkorps verschlagen hatte und nicht zu den Infanterieeinheiten, aus denen laufend neue Gefallenennachrichten in der Nachbarschaft eingingen.

Auf jedem deutschen Dorffriedhof finden sich noch heute die Namen der jungen Männer, die ihr Leben für eine Sache hergeben mussten, zu der sie nie befragt wurden. Man kann dort ab und an haltmachen und ihres kurzen Daseins gedenken.

Über entscheidende Fragen ihrer Existenz die abstimmen zu lassen, auf deren Kosten sich die „Eliten“ profilieren wollen, das wäre wahre Volksherrschaft, meine ich. Auch auf solche Gedanken kann man bei der Betrachtung alter Autofotos kommen…

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Offene Frage: Presto D 9/30 PS oder E 9/40?

Seitdem ich diesen Blog zu Vorkriegsautos auf alten Fotos betreibe, habe ich mich mit über 150 Marken mehr oder minder intensiv beschäftigt. Klingt viel, ist aber gemessen an den tausenden Herstellern, die es einst gegeben hat, nur ein Anfang.

Diese heute unvorstellbare Vielfalt erlebbar zu machen, ist eine von vielen Motivationen für mein Projekt. Daher suche ich nicht gezielt nach Dokumenten bestimmter Marken, sondern lasse mich vom Angebot an Fotos, Reklamen und Prospekten (ver)leiten, da dieses am ehesten repräsentativ für die automobile Welt von gestern ist.

Dennoch haben sich einige Typen von alleine als dauerhafte Begleiter herausgestellt, sind mir ans Herz gewachsen und erfreuen mich immer wieder auf’s Neue. Ein Beispiel dafür ist der Vierzylindertyp D 9/30 PS, den die Marke Presto aus Chemnitz in der ersten Hälfte der 1920er Jahre baute.

Der letzte Vertreter dieses Typs war diese attraktiv gezeichnete Sportvariante, die ich hier ausführlich besprochen habe:

Presto Typ D 9/30 PS mit sportlichem Aufbau; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Bislang war diese Aufnahme, die Leser Matthias Schmidt aus seinem reichhaltigen Fundus beigesteuert hat, das großartigste Dokument des Presto D 9/30 PS, das ich bislang präsentieren konnte.

Mittlerweile haben sich weitere reizvolle Exemplare eingefunden, die es verdienen, einem breiten Publikum gezeigt zu werden. Gleichzeitig werfen sie eine Frage auf, die aus meiner Sicht bislang unbeantwortet geblieben ist:

Wie grenzt sich der bis 1925 gebaute Presto Typ D 9/30 PS eigentlich äußerlich von seinem stärkeren Nachfolger Typ E 9/40 PS ab?

Nun, auf jeden Fall lässt sich sagen, dass ein Presto wie der oben gezeigte Sporttyp immer dann ein Typ D 9/30 PS sein muss, wenn über keine Vorderradbremsen verfügt.

Wie sieht es aber aus, wenn er welche besitzt? Dann wird es kompliziert. Folgende Originalreklame verrät nämlich, dass der Presto Typ D 9/30 PS ab einem bestimmten Zeitpunkt mit Vierradbremse gebaut wurde:

Presto-Reklame für den Typ 9/30 PS mit Vierradbremse; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Laut Literatur wurde der Presto Typ D 9/30 PS erst in seinem letzten Produktionsjahr (1925) mit Vierradbremse angeboten.

Wenn man obiger Reklame glauben darf, war die Vierradbremse bei äußerlich unverändertem Erscheinungsbild erhältlich, also mit den sechs hohen in die Haube eingeprägten Luftschlitzen, wie sie auch besagter Sporttyp besaß, der noch ohne Vorderradbremse auskommen musste:

Presto Typ D 9/30 PS (Sportaufbau); Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

So weit so gut. Nun stieß ich aber vor einiger Zeit auf eine Aufnahme, deren Einordnung Schwierigkeiten bereitet, denn sie zeigt einen Presto Typ D 9/30 PS mit Vorderradbremsen, der auf 1924 datiert ist- also ein Jahr früher als in der Literatur erwähnt – und außerdem ganz andere Haubenschlitze besitzt:

Presto Typ D 9/30 PS, Baujahr (angeblich): 1924; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme zeigt einen Presto, der im Jahr 1968 in der DDR aufgenommen wurde, deren Bürger von derselben „Partei“ eingemauert worden waren, die heute unter anderem Namen in Bundestag und Länderparlamenten vertreten ist und wieder im Aufwind ist…

Vorderradbremsen und geänderte Luftschlitze sind hier klar zu erkennen. Aufnahmedatum und -ort (Leipzig), Baujahr (1924) und Typbezeichnung (D 9/30 PS) sind auf der Rückseite von Hand vermerkt:

Dieser Vermerk „zur frdl Erinnerung vom Sportsfreund Kurt Perschmann stammt vom einstigen Besitzer des Presto selbst (siehe Kommentar unten). Dann kann an den Angaben kaum ein Zweifel bestehen, sollte man meinen.

Mag sein, dass er sich im Baujahr geirrt hat, aber wohl kaum bei der Typbezeichnung D 9/30 PS.

Jedenfalls wirft dieses originale Dokument aus meiner Sammlung die Frage auf, wie andere Presto-Wagen mit denselben Details anzusprechen sind – also Vorderradbremsen und in die Haube eingesetztem Blech mit einer Vielzahl schmaler Luftschlitze.

Das eine oder andere Beispiel dafür findet sich bereits in meiner Presto-Galerie.

Eines davon hatte ich bei der Vorstellung einst als Nachfolgetyp E 9/40 PS ab 1925 identifiziert – doch wahrscheinlich handelt es sich um dasselbe, oben als D 9/30 PS von 1924 angesprochene Auto – bei einem Umzug in der Nachkriegszeit aufgenommen:

Presto Typ D 9/30 PS (oder E 9/40 PS); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Presto, der zu Zeiten der sich „Deutsche Demokratische Republik“ nennenden sozialistischen Diktatur aufgenommen wurde, existiert heute noch (siehe Kommentar unten). Somit besteht die Chance zu ermitteln, wann genau der Wagen gebaut wurde.

Somit sollte sich klären lassen, ob der Presto tatsächlich bereits 1924 mit Vorderradbremsen und geänderten Luftschlitzen gebaut wurde, während die Motorisierung vorerst die alte war, was die Bezeichnung 9/30 PS rechtfertigen würde.

Meine Vermutung ist, dass die Einführung der Vorderradbremsen, die Steigerung der Leistung von 30 auf 40 PS und die Änderung der Haubenschlitze nicht gleichzeitig, sondern nacheinander erfolgte.

Sofern Vorderradbremsen und geänderte Haubenschlitze bereits vor dem Wechsel zum stärkeren Motor des Presto Typ E 9/40 PS Standard waren, wäre es praktisch unmöglich, diesen äußerlich vom Vorgängertyp D 9/30 PS zu unterscheiden.

Das würde dann auch für den Presto auf diesem exzellenten Foto gelten, das mir Leser Reinhard Sudhoff aus dem Album seiner Familie zur Verfügung gestellt hat:

Presto Typ D9/30 PS (spät) oder E 9/40 PS; Originalfoto zur Verfügung gestellt von Reinhard Sudhoff

Dieser hervorragend getroffene Presto gehörte den Großeltern von Reinhard Sudhoff: Dr. med. Walther Sudhoff und seiner Frau Marianne. Beide teilten offenbar nicht nur die Leidenschaft für rassige Automobile, sondern waren auch begeisterte Fotoamateure.

Diese scharfe (im Original noch bessere) Aufnahme wurde mit einer großformatigen Kamera aus ihrem Besitz aufgenommen, wie mir Reinhard Sudhoff mitteilte.

Auf der Verbindungsstange zwischen den Scheinwerfern sehen wir eine Plakette mit Äskulapstab, die auf die Profession von Dr. Sudhoff verwies. Außerdem haben wir hier ein Beispiel für eine der damals nur als Zubehör erhältlichen frühen Stoßstangen:

Das Nummernschild verweist auf eine Zulassung im Landkreis Salzwedel (bis 1945: Sachsen, heute: Sachsen-Anhalt).

Die zigarrenförmige Stoßstange ist mir schon auf zeitgenössischen Fotos anderer Wagen begegnet, die Variante mit vernickelten „Fanghaken“ für den Fall einer Kollision war mir bis dato nicht bekannt. Vielleicht weiß jemand mehr dazu (Kommentarfunktion).

Der Presto der Großeltern von Reinhard Sudhoff wartet aber noch mit weiteren Überraschungen auf: An der Windschutzscheibe – deren Oberteil hier waagerecht gestellt ist, sieht man einen mittig angebrachten Rückspiegel – damals noch etwas Neues.

Wenn ich mich nicht irre, besaß dieser Presto außerdem am Chassis senkrechte Stützen, die im Fall eines Reifenwechsels ausgefahren werden konnten. Dieses Detail habe ich bislang bei keinem anderen Presto registriert.

Solche Elemente lassen vermuten, dass wir es hier tatsächlich mit dem von 1925-27 gebauten Typ E 9/40 PS zu tun haben, der auf den ersten Blick kaum vom späten Typ D 9/30 PS zu unterscheiden ist.

Hinweise sachkundiger Leser, die zur Klärung der hier aufgeworfenen Fragen beitragen können, sind hochwillkommen und fließen in den Blog-Eintrag sowie ggf. die Typenbezeichnungen in der Presto-Galerie ein.

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Typenkunde: Wanderer W3 5/12 & 5/15 PS

Der erste in Serie gebaute Wagen der Marke Wanderer aus Chemnitz – intern als Typ W3 bezeichnet – war schon öfters zu Gast in meinem Blog für Vorkriegsautos auf alten Fotos.

Die Vorgeschichte des im Volksmund „Puppchen“ genannten Kleinwagens will ich an dieser Stelle nicht wiederholen – ich habe sie hier bereits erzählt.

Heute will ich mich an einer möglichst umfassenden Darstellung der serienmäßig gebauten Varianten des W3 bis Ende des 1. Weltkriegs versuchen. Neben Dokumenten aus meinem eigenen Fundus kann ich dabei auf etliche interessante Originalaufnahmen von Lesern und Sammlerkollegen zurückgreifen.

Diese Form der Online-Zusammenarbeit hat sich als äußerst ertragreich erwiesen, da sie Bildmaterial zutagefördert, das dem Einzelnen früher kaum zugänglich war.

Dass davon auch gedruckte Werke profitieren können, mache ich demnächst anhand der Rezension der Neuauflage von Werner Oswalds Klassiker „Deutsche Autos 1920-1945“ anschaulich.

Nun aber zurück zum Wanderer W3, dessen Fertigung nach zweijähriger Erprobungsphase im Frühjahr 1913 im Chemnitzer Stadtteil Schönau begann. Der lange Vorlauf sollte sich als segensreich erweisen, denn so fand der kleine Vierzylinder mit anfänglich 12 PS aus 1150 ccm Hubraum auf Anhieb guten Anklang.

Angeboten wurde er in zwei Karosserievarianten – zunächst mit zwei Sitzen hintereinander (Version H) und kurze Zeit später außerdem mit zwei nebeneinanderliegenden Sitzen (Version N).

Beide sind in folgender Reklame von 1913/14 genannt – abgebildet ist die Version H (Tandemanordnung):

Wanderer-Reklame für den Typ W3 5/12 PS von 1913/14; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Die Abbildung des Wanderer ist erstaunlich genau, nicht nur im Hinblick auf die Proportionen, sondern auch die für die erste Serie entscheidenden Karosseriedetails:

  • drei senkrechte Entlüftungsschlitze in der Motorhaube,
  • steil ansteigender Windlauf zwischen Motorhaube und Windschutzscheibe
  • der Karosserieform folgend unten bogenförmig abschließende Windschutzscheibe
  • waagerecht auslaufende Heckschutzbleche

Genau diese Details finden sich am folgenden Wanderer W3 5/12 PS wieder, der ebenfalls zwei Sitze hintereinander aufweist (Version H):

Wanderer Typ W3 5/12 PS (Version H) von 1913/14; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Gut zu erkennen ist hier auch, dass der automobile Erstling von Wanderer noch ohne Spritzschutzblech zwischen Trittbrett und Rahmen und ohne Spritzschutz an den freistehenden Kotflügeln auskommen musste.

Laut Literatur wurde das Spritzschutzblech erst bei weiteren Überarbeitungen des Aufbaus im Jahr 1915 eingeführt.

Interessant ist nun, dass es aber schon früher offenbar einzelne Fahrzeuge der ersten Serie gab, die wohl nachträglich mit einem Spritzschutz ausgerüstet wurden:

Wanderer Typ W3 5/12 PS (Version H) von 1913/14; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt

Obige Aufnahme entstand im 1. Weltkrieg und zeigt einen noch zivilen Wanderer W3 5/12 PS (Version H) mit Spritzschutz aus Kunstleder an den Vorderschutzblechen sowie zwischen Rahmen und Trittbrett.

Auch wenn wir hier die Haubenschlitze nicht sehen können, ist die Ausführung von Windschutzscheibe und hinteren Kotflügeln ein klarer Hinweis auf die erste Serie des Wanderer W3 von 1913/14.

Leser Matthias Schmidt aus Dresden verdanke ich nicht nur die beiden obigen Fotos, sondern auch diese seltene Aufnahme der Heckpartie des frühen Wanderer W3:

Wanderer W3 5/12 PS (Version H) von 1913/14; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Diese rückwärtige Ansicht zeigt zudem ein Detail, das bei Autos der Frühzeit kaum zu sehen ist – eine am Heck angebrachte Petroleumlampe. Angesichts der niedrigen Verkehrsdichte vor über 100 Jahren wird sie vor allem als Standlicht gedient haben.

Übrigens bekam der Wanderer W3 5/12 PS kurz vor Ausbruch des 1. Weltkriegs noch eine Leistungsspritze – durch leichte Vergrößerung des Hubraums konnten drei zusätzliche PS aus dem nun 1,2 Liter messenden Aggregat gekitzelt werden.

Die Typbezeichnung lautete ab dann intern W3/II, vermarktet wurde der Wanderer als Typ 5/15 PS.

In dieser Ausführung wurde der Wagen ab Kriegsbeginn praktisch nur noch für das Militär gebaut, das rasch von den Vorzügen eines kompakten, leichten und sparsamen Fahrzeugs für Aufklärungszwecke und Kurieraufgaben überzeugt werden konnte.

Bereits im August 1914 veröffentlichte Wanderer die folgende Reklame, die andernorts meist nur in Ausschnitten zu sehen ist, hier aber im vollständigen Original gezeigt werden kann – und noch ganz im Stil des späten Jugendstils gehalten ist:

Reklame für den Wanderer W3 5/15 PS von August 1914; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Rund 500 Exemplare pro Jahr lieferten die Wanderer-Werke den Krieg über von ihrem Typ W3/II, weshalb Fotos dieses Autos im militärischen Einsatz recht häufig zu finden sind.

Nachfolgend ein Exemplar, das den Entwicklungsstand ab Frühjahr 1915 repräsentiert:

  • unten gerade (nicht mehr gebogene) und bündig mit der Karosserie abschließende Frontscheibe
  • gerundete statt waagerecht auslaufende Heckschutzbleche
  • vorerst weiterhin drei Luftschlitze pro Haubenseite
Wanderer W3/II 5/15 PS (Version H), ab Frühjahr 1915; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Was an diesem Wagen neben den großen Scheinwerfern und dem Reservekanister in zeittypischer Dreiecksform auffällt, ist der nach wie vor recht steile Anstieg des Windlaufs zwischen Motorhaube und Windschutzscheibe.

Infolgedessen liegt die Gürtellinie auf Höhe des Fahrers weit über dem Haubenniveau. Dies wich entgegen der Darstellung in der Literatur (Erdmann/Westermann, Wanderer-Automobile, Verlag Delius Klasing, S. 34) erst nach den erwähnten übrigen Änderungen einer niedrigeren „Schulterlinie“.

Das Ergebnis sah dann so aus wie auf der folgenden Aufnahme eines sonst ganz ähnlich ausgestatteten Wanderer W3/II 5/15 PS (Version H):

Wanderer W3/II 5/15 PS (Version H); Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Wo aber bleibt die eingangs erwähnte, parallel verfügbare Version „N“ des Wanderer W3, also mit nebeneinander angeordneten Sitzen?

Nun, auch dazu liegen mir einige zeitgenössische Fotos vor, wenngleich ich den Eindruck habe, dass Aufnahmen der Tandemversion „H“ häufiger zu finden sind.

Folgendes hervorragendes Beispiel zeigt einen Zweisitzer in der im Lauf des Jahres 1915 vorgestellten Ausführung:

Wanderer W3/II 5/15 PS (Version N); Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt

Hier kann man den glättenden Effekt der optischen Überarbeitung nachvollziehen. Mit einem Mal ist die Karosserie ein Ganzes, dessen Bestandteile unauffällig ineinander übergehen.

Im Unterschied zum Zweisitzer in der Ursprungsversion (hier fehlt mir noch ein Foto) besitzt die Ausführung ab 1915 keinen angesetzten Koffer mehr, sondern einen im nunmehr leicht schräg abfallenden Heck integrierten Gepäckraum.

Besser erkennbar ist die Heckpartie auf der folgenden Aufnahme, die im Unterschied zum obigen Foto noch während des Kriegs entstanden ist:

Wanderer W3/II 5/15 PS (Version N); Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Übrigens gab es ab 1917 eine weitere, ganz ähnlich aussehende Ausführung mit einem dritten Sitzplatz im Heck.

Ich kenne davon nur eine Prospektabbildung aus der Literatur, der man entnehmen kann, dass dort, wo sich der Ellbogen des uns anschauenden gemütlichen Soldaten ganz links auf dem obigen Foto befindet, das Oberteil des dritten Sitzes zu sehen sein müsste.

Nachtrag: Leser Martin Möbus hat ein Foto genau dieses Typs aus seiner Sammlung beigesteuert (auf die ungewöhnliche Zahl der Luftschlitze gehe ich weiter unten ein):

Wanderer W3/II 5/15 PS (Version Nv); Originalfoto aus Sammlung Martin Möbus

Noch sind wir nicht am Ende mit der Typenkunde zum Wanderer W3. Denn irgendwann nach der Überarbeitung der Karosserie im Frühjahr 1915 ging Wanderer dazu über, die Motorhauben mit sechs statt drei Luftschlitzen pro Seite zu versehen.

Ein Beispielfoto, auf dem man dies ansatzweise erkennt, ist das folgende, das treue Leser bereits aus einem früheren Porträt des Wanderer W3 kennen:

Wanderer W3/II 5/15 PS (Version H); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sieht man zwar nur den oberen Abschluss von vier Luftschlitzen, doch die mittleren zwei werden vom Vorderschutzblech verdeckt.

Die Literatur, soweit ich sie kenne, legt sich nicht fest, was das Datum der Einführung der sechs statt drei Luftschlitze angeht. Man könnte es anhand zweier zeitlich nahe beieinander liegender datierter Fotos (z.B. Fotopostkarten) sicher sehr genau bestimmen.

Auch diesbezüglich würde ich mich über einschlägige Aufnahmen freuen, mit denen sich die Chronologie der ganz frühen Wanderer-Modelle vervollständigen ließe.

Was die Sache noch spannender macht, ist das Auftauchen von gleich zwei Fotos, die Wanderer des Typs W3 mit neun seitlichen Luftschlitzen zeigen!

Das erste ist auf Februar 1916 datiert und entstand wohl irgendwo an der Ostfront. Wie man sieht, war Schnee damals offenbar auch gerade Mangelware:

Wanderer W3/II 5/15 PS (Version N); Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Dass es sich um einen Wanderer W3/II handelt, steht außer Frage – bis auf die Zahl der Luftschlitze stimmt bei diesem Zweisitzer alles. Zudem hat man uns vor über 100 Jahren den Gefallen getan, auch den Spitznamen „Puppchen“ auf die Haube zu malen.

Interessanterweise findet sich in der mir zugänglichen Literatur kein vergleichbares Foto eines Wanderer W3/II mit neun Luftschlitzen, diese Variante wird auch nirgends erwähnt.

Kurioserweise war aber der Prototyp des Wanderer W3 von 1911/12 ebenfalls mit neun statt später serienmäßigen drei bzw. sechs Luftschlitzen ausgestattet.

Die einzige Erklärung, die ich dafür habe, ist die, dass Wanderer für den erschwerten Einsatz im Krieg ab einem bestimmten Zeitpunkt auch oder nur noch Fahrzeuge mit besserer Entlüftung des Motorraums lieferte.

Laut Literatur blieb die Motorleistung den Krieg über konstant, sodass von daher kein zusätzlicher Kühlungsbedarf bestanden haben kann. Mag jedoch sein, dass man an der Balkanfront und an der Ostfront im Sommer mit Überhitzung zu kämpfen hatte.

Oder bot Wanderer doch schon während des Kriegs eine leistungsstärkere Version an, wie sie ab 1921 in Form des W8 gebaut wurde? Klar ist nur, dass es sich bei obigem Wanderer W3/II 5/15 PS mit neun Haubenschlitzen um kein Einzelstück handelte.

Denn hier haben wir gleich das nächste Belegfoto, das ohne Parallele in der Literatur ist:

Wanderer W3/II 5/15 PS (Version N); Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Wiederum haben wir es mit einem Wanderer W3/II 5-15 PS in der Ausführung mit zwei Sitzen nebeneinander zu tun, auch wenn hier die Frontscheibe fehlt. Von den Haubenschlitzen abgesehen, entspricht alles übrige den Abbildungen in der Literatur.

Diese Aufnahme könnte übrigens die These von einer speziellen Version für heiße Gegenden stützen, denn dem Erscheinungsbild der Soldaten nach zu urteilen, entstand diese Aufnahme an der Balkanfront (in Rumänien beispielsweise).

Wenn ich es richtig sehe, haben wir hier Männer der deutschen und der österreichisch-ungarischen Armee vor uns, die es sich fernab der Front gutgehen lassen und offenbar auch für ein vierbeiniges Maskottchen Muße haben:

Mit dieser so friedlich anmutenden Aufnahme, die doch mitten im 1. Weltkrieg entstand, will ich diesen Abriss über die Erscheinungsformen des Wanderer W3 „Puppchen“ für heute beenden.

Einige Details wie die Zahl der Luftschlitze sind noch zu klären, wie man sieht. Von daher hoffe ich, eines Tages mit „neuem“ Material zu dieser „Baustelle“ zurückkehren zu können…

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Allwettertauglich: DKW Typ P 15 PS „Roadster“

DKW gehört nicht zu den Vorkriegsautoherstellern, bei denen sich noch viel Erstaunliches zutagefördern ließe. Praktisch jede Variante der adretten Zweitakter ist in der Literatur dokumentiert (DKW Automobile von Thomas Erdmann, Verlag Delius-Klasing).

Auch meine DKW-Fotogalerie gehört zu den vollständigsten überhaupt, die ich bislang zu deutschen PKW-Marken aufbauen konnte.

Dennoch kehre ich gern zu den sächsischen Kleinwagen zurück, da sie immer wieder neue reizvolle Ansichten bieten – seien diese Autos technisch noch so primitiv gewesen.

Gern wird über den wenig dezenten Zweitaktsound der DKWs hergezogen, die geringe Leistung der Motoren und die fragilen Aufbauten aus Sperrholz und Kunstleder.

Dass die DKWs dennoch von Anfang an Anklang fanden und sich bis Kriegsbeginn zu einem Riesenerfolg mauserten, lag daran, dass sie die erschwinglichsten Autos am deutschen Markt waren, noch dazu zuverlässig und ggf. leicht zu reparieren.

Für viele Deutsche – und wohl auch zahlreiche Käufer im Ausland – war ein DKW das erste Auto überhaupt. Welchen Stellenwert diese von der Papierform so einfach daherkommenden Autos im Leben ihrer Besitzer hatten, das steht in keinem Buch.

Wie sehr DKW-Fahrer ihre Gefährte(n) schätzten, das steht in ihre Gesichter geschrieben – nicht zuletzt das macht den Wert der Fotos von einst aus:

DKW Typ P 15 PS Roadster; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Leser an diese Aufnahme, die ich als eines der ersten DKW-Fotos in meinem Blog besprochen habe.

Der Wagen eignete sich als Auftakt zu einer kaum noch überschaubaren Zahl von Beiträgen zu den vielen Modellen, die DKW zu einem der einfallsreichsten deutschen Hersteller der 1930er Jahre machten.

Auf obigem Foto haben wir den automobilen Erstling von DKW – den Typ P 15 PS, der 1928 der Öffentlichkeit präsentiert wurde. Er besaß noch nicht den Frontantrieb, mit dem DKW später so erfolgreich sein sollte.

Der Motor nahm jedoch schon viel von dem vorweg, was später zum DKW-Standard werden sollte. Die zwei Zylinder waren in einem Block mit Wassermantel zusammengefasst und ließen kaum noch etwas davon ahnen, dass ein 500ccm-Motorradmotor Pate gestanden hatte.

Aus nunmehr 600ccm Hubraum schöpfte das Aggregat 15 PS, was in Verbindung mit der leichten und kompakten Karosserie ein Spitzentempo von 80 km/h ermöglichte.

Auf ein solches Gefährt durfte man mit Recht stolz sein, noch dazu, wenn es so flott daherkam wie der DKW Typ P 15 PS mit „Roadster“-Aufbau auf dem Foto:

Woran erkennt man aber, dass dieser DKW Typ P 15 PS tatsächlich ein „Roadster“ war? Schließlich fehlen die roadstertypisch tief ausgeschnittenen Türen.

Nun, dazu muss man wissen, dass die Werbeleute der Vorkriegszeit durchaus großzügig in der Beschreibung der Wagen waren, die es anzupreisen galt.

Wenn man nur ein simples Basismodell ohne gefüttertes Verdeck im Angebot hat, macht es sich viel besser, dieses zum „Roadster“ zu adeln, der sich ja auch nur durch ein dünnes, wenig windfestes Notverdeck auszeichnet.

Dass man nichts vom Verdeck oder seinem Gestänge sieht, ist ein Indiz, dass obiges Foto einen Roadster zeigt und nicht das sonst identische 2-Sitzer-Cabriolet, das ein hoch aufgetürmtes gefüttertes Verdeck mit seitlicher Haltestange („Sturmstange„) besaß.

Hier ein Beispielfoto für das Cabriolet, das ich ebenfalls vor längerem gezeigt habe:

DKW Typ P 15 PS, 2-sitziges Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Jetzt könnte man der Ansicht sein, dass so ein DKW Roadster mangels „richtigen“ Verdecks doch nur ein Schönwetterauto gewesen sein kann, während das Cabriolet mit seinem gefütterten, stabileren Verdeck besseren Schutz vor Regen, Wind und Kälte bot.

Nun, man sollte den Komfort des 2-sitzigen Cabriolets nicht überschätzen, denn auch dort ging es noch relativ zugig zu. Denn so wie dem „Roadster“ auf Basis des DKW Typ P 15 PS die ausgeschnittenen Türen fehlten, so musste das „Cabriolet“ auf die bei diesem Aufbau üblichen seitlichen Fenster verzichten.

Stattdessen wurden Steckfenster wie beim Roadster montiert, die aus Zelluloid bestanden und in einem Holzrahmen mit Kunstlederbespannung eingelassen waren.

Auf folgender Reklame für das Modell kann man die beiden Knebelverschlüsse erkennen, mit denen diese Konstruktion am oberen Rand der Tür befestigt wurde:

DKW Typ P 15 PS, 2-sitziges Cabriolet; Ausschnitt aus Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Nun aber genug vom Cabriolet, das übrigens einen Notsitz im Heck besaß, der dem Insassen bei schlechtem Wetter die denkbar ungünstigste Position zuwies…

Andererseits: Unsere Altvorderen waren aus dem Alltag Härten gewohnt. Die wenigen Deutschen, die in den 1930er Jahren erstmals ein Auto erwerben konnten, waren ihr bisheriges Leben lang den Unbilden des Wetters ausgesetzt gewesen – auf dem Schulweg, auf dem Weg zur Ausbildung und Arbeit.

Während es in den Städten für stark frequentierte Verbindungen Straßenbahnen und Busse gab, mussten die Landbewohner bei Wind und Wetter zu Fuß, mit dem Rad oder – wenn sie gutsituiert waren – mit dem Moped ihren Alltag meistern.

Das erklärt, welcher Sprung der Besitz eines Automobils war – ein enormer Gewinn an Komfort, Beweglichkeit und Autonomie, der für uns heute selbstverständlich ist und den die allermeisten – vorgeblich „grüner“ Propaganda zum Trotz – nicht aufgeben wollen.

Das erklärt auch, weshalb auf zeitgenössischen Fotos Besitzer dieser aus heutigen Sicht so unvollkommenen frühen DKW-Typen so zufrieden in die Kamera schauen – und das selbst bei Schmuddelwetter, das kaum an’s Offenfahren denken lässt:

DKW Typ P 15 PS Roadster; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese schöne Aufnahme verkörpert für mich vollkommen den Stolz auf’s eigene Auto, die Abgeklärtheit gegenüber schlechtem Wetter und zugleich ein Stilbewusstsein, das in dem Maß verlorengegangen ist, in dem das Automobil zur Selbstverständlichkeit wurde.

Man könnte es beim Genuss dieses Dokuments bewenden lassen, wäre da nicht noch die Frage, ob wir hier nun einen DKW des Typs P 15 PS in der Ausführung als Roadster oder als 2-sitziges Cabriolet vor uns haben.

Das Verdeckgestänge ist mit einem Überzug verdeckt, sodass nicht zu erkennen ist, ob eine Sturmstange vorhanden ist, die kennzeichnend für das Cabriolet war.

Allerdings spricht der flache Verlauf des Überzugs dafür, dass sich darunter tatsächlich nur das dünne Roadsterverdeck verbirgt und nicht das hoch aufbauende Cabrioverdeck. Vielleicht kann ein DKW-Kenner diesen Punkt klären.

Möglicherweise gibt es aber kaum noch jemanden, der sich dazu aus eigener Anschauung äußern könnte. Denn überlebende Exemplare dieses ersten serienmäßigen DKW-PKW müssten sehr rar sein.

Die Holzkarosserie wird in der Literatur als wenig dauerhaft beschrieben, was unter dauerhaft feuchten Bedingungen auch zugetroffen haben mag. Andererseits ist Holz ein Material, das im richtigen Umfeld sehr lange haltbar ist. Ich besitze selbst zwei Vorkriegsautos mit völlig intaktem originalem Holzrahmen.

Immerhin hat der obige DKW Roadster des Typ P 15 PS zum überlieferten Zeitpunkt der Aufnahme – 1935 – bereits fünf bis sechs Jahre auf dem Buckel. Nach einer solchen Zeit wanderten in den 1970er Jahren viele Autos durchgerostet auf den Schrott…

Auf mich macht der DKW auf dem Foto jedenfalls einen mindestens so soliden Eindruck wie der Fahrer, aus dessen Fotoalbum diese Aufnahme wohl stammen dürfte und der uns hier anschaut, als würde ihn das miese Wetter rein gar nichts angehen…

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Hansa Typ A: Evolution von 1907 bis 1912

Heute beschäftige ich mich nach längerer Abstinenz wieder mit einem der sehr frühen Modelle der einst blühenden Hansa-Automobil-Gesellschaft im oldenburgischen Städtchen Varel.

Fotos von Hansa-Wagen jener Zeit sind trotz des beachtlichen Erfolgs der Marke sehr selten zu finden. Die Literatur bietet kaum ein Dutzend Originalaufnahmen für die Zeit vor dem 1. Weltkrieg und stützt sich ansonsten auf Prospektabbildungen.

Im Netz scheint es keine eigenständige Präsenz dieser einst so bedeutenden Marke zu gegeben – ich lasse mich aber diesbezüglich gern eines Besseren belehren.

Ein A-Modell von Hansa – titelgebend für den heutigen Blog-Eintrag – begegnet einem nach der 1905 erfolgten Gründung der Hansa-Automobil-Gesellschaft (HAG) erstmals um 1907 – so ausdrücklich zwar nicht in der Literatur, aber in folgender Reklame:

HAG Typ A10 6/10 PS; Originalreklame vor 1908

Dieser kleine A-Typ besaß noch einen Zweizylindermotor. Die Literatur erwähnt zwar nicht diese Typbezeichnung, wohl aber einen Zweizylindertyp mit identischem Hubraum – das Modell 5/10 PS. Korrekt wäre nach obiger Reklame 6/10 PS – wohl einer der unvermeidlichen (und zahlreichen) Übertragungsfehler.

Daneben gab es ab 1907 einen weiteren A-Typ mit identischen Steuer-PS, aber Vierzylindermotor. Auch hier scheint die Bezeichnung in der Literatur (6/14 PS) nicht ganz zu stimmen – korrekt wären nach folgender Reklame 6/12 PS:

HAG Typ A6/12 PS; Originalreklame vor 1908

Der Zweizylinder-A-Typ wurde beinahe jährlich in der Leistung gesteigert. So finden sich in rascher Abfolge ab 1908 die Bezeichnungen 6/12 PS, 6/14 PS (1909) und 6/16 PS (1910-12) – nunmehr unter dem Markennamen Hansa statt HAG.

In einem früheren Blogeintrag konnte ich einen solchen Hansa A-Typ von 1908/09 identfizieren, nämlich diesen hervorragend aufgenommenen Tourenwagen:

Hansa Typ A 6/12 oder 6/14 PS bzw. A 10/18 PS oder A10/20 PS, 1908 bzw. 1909; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Weiter kompliziert wird die Sache dadurch, dass es parallel zum A-Typ mit 6 Steuer-PS einen äußerlich wohl schwer unterscheidbaren 10 PS-Hansa gab, der ebenfalls als A-Typ firmierte.

Im seinerzeitigen Blogeintrag hatte ich mich tendenziell für das stärkere Modell ausgesprochen, aber solche Zuschreibungen können angesichts der prekären Überlieferungslage bei frühen Hansa-Wagen nur unter Vorbehalt erfolgen.

Klar war nur von der Karosserieform her, dass dieser Hansa-Typ vor 1910 entstanden sein dürfte, da ihm der ab dann fast durchgängig verbaute Windlauf zwischen Motorhaube und Windschutzscheibe fehlt.

Besagter Windlauf – seinerzeit auch als Windkappe oder Torpedo bezeichnet – ist dagegen auf folgendem Foto eines Hansa zu sehen, das ich hier erstmals zeige:

Hansa Typ A 6/16 PS (Zweizylinder) oder 6/18 PS (Vierzylinder) von 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Anhand dieser „neuen“ Aufnahme lässt sich sehr schön der optische Entwicklungssprung des A-Typs von Hansa zwischen ca. 1909 und 1912 nachvollziehen – nach heutigen Maßstäben ein zu vernachlässigender Zeitraum – vor über 100 Jahren dagegen eine ganze Fahrzeuggeneration.

Geblieben ist nur der typische Kühler, während ansteigende Motorhaube und Windlauf von den neuen Zeiten künden, die ab 1910 anbrachen.

Kurze Zeit nach dem Beginn des neuen Jahrzehnts nahm Hansa auch Abschied vom Zweizylinder mit 6 Steuer-PS. Er wurde 1912 von einem annähernd gleichgroßen Vierzylindertyp abgelöst, der nun als 6/18 PS firmierte.

Damit hatte sich binnen vier Jahren die Leistung des 6 PS-Typs um 50 % erhöht. Ob der heute neu vorgestellte Wagen nun einer der letzten Zweizylinder-Hansa des Typs 6/16 PS oder einer der ersten Vierzylindertypen 6/18 PS war, lässt sich derzeit nicht sagen.

Tatsächlich könnte es sich auch um den zeitgleichen Typ C mit nahezu identischen Abmessungen handeln, der über einen 8/20 PS-Vierzylinder verfügte.

Überhaupt ist festzustellen, dass die Dokumentation der Hansa-Modelle vor dem 1. Weltkrieg derartig lückenhaft, teils auch widersprüchlich ist, dass man alle hier gemachten Angaben zu Typen und Motorisierungen nur als vorläufig betrachten kann.

Lediglich bei der Datierung bin ich mir nahezu sicher:

Eine solche Frontpartie mit Flachkühler, ansteigender Haube und daran sauber anschließendem, noch steiler aufwärtszeigendem Windlauf findet man bei deutschen Autos schwerpunktmäßig um 1912 plus/minus 1 Jahr.

Ausnahmen bestätigen die Regel, doch hat sich diese Einordnung anhand der Gestaltung der Frontpartie aus meiner Sicht oft genug bewährt, um bis zum Vorliegen von mehr datierten Originaldokumenten auch bei Hansa als Arbeitshypothese gelten zu können.

Wie immer bin ich dankbar für weiterführende Hinweise – auch fundierte Korrekturen von Markenkennern. Das Schöne am Blog-Format ist ja die Möglichkeit, nachträgliche Verbesserungen und Ergänzungen vornehmen zu können.

Bei Bedarf kann man irgendwann auch eine komplett neue Abhandlung schreiben, in die neue Erkenntnisse und Einschätzungen einfließen.

Von daher kann ich das Blog-Format nur allen Spezialisten empfehlen, die zu „ihren“ Marken weit mehr wissen als ich, aber vermutlich stets einen guten Grund finden, von einer „richtigen“ Publikation abzusehen, weil man sich noch nicht sicher ist…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Klein, aber oho! Ford Eifel Cabrio von Gläser

Den Freunden von Vorkriegs-Fords etwas Besonderes zu präsentieren, ist nicht ganz einfach – zu groß waren die Stückzahlen ab Einführung der Massenproduktion beim legendären und bis heute stark verbreiteten Model T.

Dessen Nachfolger – das ab 1928 gebaute Model A – begegnet einem auf alten Fotos ebenfalls auf Schritt und Tritt – auch in Deutschland. Hier eine Limousine von 1928/29 – erkennbar am noch nicht lackierten Unterteil der Kühlereinfassung – mit Zulassung im Raum Wuppertal:

Ford Model A von 1928/29; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auffallend sind an diesem Wagen die großen Radkappen – denkbar, dass der Besitzer Räder vom Nachfolger Model B montiert hatte, die allerdings einen kleineren Durchmesser hatten (18 statt 19 Zoll).

Vielleicht wurden die originalen Drahtspeichenräder auch gegen passende Scheibenräder eines anderen Wagens getauscht – hat jemand eine Erklärung parat?

Der nächste große Wurf von Ford am deutschen Markt war – nach geringen Erfolg des arg primitiven Models „Köln“ (abgeleitet aus dem britischen Ford Y-Type) der ab 1935 gebaute „Eifel“ (abgeleitet aus dem ebenfalls in England entwickelten Ford Model C).

Die folgende Cabrio-Limousine des Ford „Eifel“ in der frühen Ausführung von 1935-37 habe ich bereits hier präsentiert:

Ford „Eifel“ von 1935-37; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Eine ganze Reihe Fotos weiterer konventioneller Exemplare des Ford „Eifel“, darunter auch solche des späteren Modells (1937-39) waren vor längerer Zeit Gegenstand eines ausführlichen Porträts des Typs.

Beendet hatte ich die damalige Darstellung mit einem schönen Foto von Leser Klaas Dierks, das eine besonders feine Ausführung des Ford „Eifel“ zeigt, die nach dem Zweiten Weltkrieg an der See abgelichtet wurde:

Ford „Eifel“ Roadster von 1938/39; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Bei dieser schnittigen offenen Ausführung wird es sich um den Roadster oder das 2-Fenster-Cabriolet gehandelt haben, das von der Kölner Karosseriebaufirma Deutsch zugeliefert wurde.

Es gab zwar ein ganz ähnliches Cabriolet auch von Gläser aus Dresden (Beispiel hier); aufgrund von Details wie der Frontscheibeneinfassung tendiere ich im obigen Fall aber zu Deutsch.

Bei der Aufnahme, auf die sich der Titel meines heutigen Blog-Eintrags „Klein, aber oho!! bezieht, lässt sich dagegen eindeutig sagen, dass sie einen Ford „Eifel“ mit Gläser-Karosserie zeigt:

Ford „Eifel“ Cabriolet von Gläser; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese hübsche Privataufnahme ist zwar, was das Auto angeht, nicht ganz vollständig. Doch war die Identifikation als Ford nicht schwierig. So ist auf den Radkappen der oval eingefasste Markenschriftzug zu ahnen.

Die Verwendung von Drahtspeichenräder spricht für ein Modell vor 1938, da ab spätestens dann alle in Deutschland gefertigten Ford-Modelle Scheibenräder besaßen. Die geringe Größe des Autos lässt an den Ford „Eifel“ denken – der parallel verfügbare Typ „Rheinland“ und die diversen Versionen des V8 waren wesentlich größer.

Tatsächlich findet sich in der Literatur (Werner Oswald, Deutsche Autos 1920-45) und im Netz ein ganz ähnlicher Wagen, der als Ford Eifel mit Gläser-Karosserie identifiziert ist. Dieser ist bis auf ein Detail identisch – die Ausführung der seitlichen Haubenschlitze.

Tatsächlich gab es von Gläser aber auch eine Version des 2-Fenster-Cabriolets auf Basis des Ford Eifel mit einer Reihe kurzer und leicht schrägstehender Luftauslässe:

Ford „Eifel“, 2-Fenster-Cabriolet von Gläser; Bildquelle: https://www.coachbuild.com/forum/download/file.php?id=69150&mode=view

Abgesehen von der Hinterradverkleidung stimmt dieser Ford „Eifel“ mit klar erkennbarer „Gläser“-Plakette am unteren Ende der A-Säule vollkommen mit dem Wagen auf meinem Foto überein.

Man darf sich von dessen mattgrauer Lackierung – die Aufnahme ist offenbar im 2. Weltkrieg entstanden – nicht täuschen lassen. So trägt der Wagen denselben üppigen Chromschmuck, der unlackiert blieb, was für eine frontferne Verwendung spricht.

Dass es sich um ein für die Wehrmacht requiriertes Privatauto handelt, lässt auch die armeetypische Vorgabe für den Reifenluftdruck am Kotflügel erkennen, die von Hand oder mittels Schablonen aufgetragen wurde – vorn ist sie schon halb abgeschabt, hinten ist sie dagegen gut lesbar:

Hier zeichnet sich nun auch die ovale „Gläser“-Plakette ab, die allerdings ebenfalls übertüncht wurde – sie war dem Nutzer des Wagens offenbar nicht so wichtig.

Ich vermute, dass dieser Ford „Eifel“ einem in der Heimat stationierten Offizier zur Verfügung stand, der das Auto auch privat nutzen konnte.

Bei einer solchen Gelegenheit muss dieses Foto entstanden sein, auf dem Sohnemann an dem kleinen Flitzer „Hand anlegen“ durfte.

Über Ort, Datum und sonstige Umstände der Aufnahme ist leider nichts überliefert. Wenn der Ford nicht in der Spätphase des Kriegs doch noch an der Front gelandet ist oder bei einem Bombenangriff zerstört wurde, hatte er passable Überlebenschancen.

Während vom Zweifenster-Cabriolet in der von Deutsch gelieferten Version einige Exemplare überlebt haben, wäre es interessant zu wissen, ob das auch für diese wohl deutlich seltenere Ausführung von Gläser gilt.

Wer etwas dazu beitragen kann, benutze dazu bitte die Kommentarfunktion, damit alle Leser und Liebhaber solcher Raritäten etwas davon haben.

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