Geschichte, die nicht vergeht: Chenard & Walcker um 1922

Vor gut 100 Jahren ließ jemand in einem Fotogeschäft in Chartres – der französischen Kleinstadt mit einer der großartigsten gotischen Kathedralen – einen Fotoabzug seines Cabriolets anfertigen.

Das darauf abgebildete Auto sollte eigentlich unsere ganze Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Doch merkwürdigerweise will das nicht so recht gelingen – der Eindruck eines formidablen Automobils will sich einfach nicht einstellen.

Dass das schönste Umfeld bisweilen durch ein Detail „ruiniert“ oder sagen wir besser: relativiert wird, das kenne ich aus eigener Anschauung.

Gegenwärtig befinde ich mich in meiner zweiten Heimat im italienischen Umbrien, wo mir zwar nur ein kurzer Aufenthalt vergönnt ist – mehrwöchige arbeitsfreie Urlaube sind für Freiberufler wie mich utopisch – aber die wenigen Tage im Süden nutze ich intensiv.

Heute fuhr ich zum wiederholten Mal auf meinem alten Rad mit Geländebereifung die Strecke zwischen Collepino und Armenzano – entfernungstechnisch ein Katzensprung, aber die Steigungen dazwischen, teilweise auf Schotter, haben es in sich.

Auch der Zwischenhalt im Bergdorf San Giovanni hat es in sich. Das Örtchen präsentiert sich nach den Reparaturen an das letzte schwere Erdbeben zwar wie aus dem Ei gepellt.

Doch der deutsche Besucher erlebt hier wie so oft, dass speziell die jüngere Geschichte nicht einfach vergehen will:

S. Giovanni (Ortsteil von Spello, Umbrien), 8. August 2024; Bildrechte: Michael Schlenger

Ist das nicht ein Idyll? Eine schlichte einschiffige Dorfkirche mit fast 1000 Jahren auf dem Buckel, ein altes Fahrrad von etwa 1980 davor, von mir umgebaut im Vintage Gravelbike-Stil.

Was könnte hier das Bild beeinträchtigen und auf die Stimmung schlagen? Nun, die Tafel auf dem Anbau daneben.

Ich will Ihnen die Details ersparen – auch hier wurden in Reaktion auf meist sinnlose Partisanenaktionen nach der Kapitulation Italiens in der Spätphase des 2. Weltkriegs unschuldige Zivilisten von deutschen Soldaten abgeführt, im schlimmsten Fall gleich erschossen oder in Zwangsarbeiterlager gebracht.

Erstaunlich überhaupt, wozu man damals logistisch noch in der Lage war, wenn es um solche Aktionen ging, während die Fronten zusammenbrachen. Es muss wohl Begeisterung bei den ausführenden „Herrenmenschen“ im Spiel gewesen sein, wenn es gegen die „Spaghettifresser“ ging, eine Vokabel, die auf die barbarischen Urheber zurückfällt.

So, und jetzt stehe ich heute mit meinem alten Radl am Ort des Geschehens, wo vor 90 Jahren deutsche Miitärfahrzeuge vorfuhren und irgendwelche jungen Männer aus San Giovanni einluden und einem ungewissen Schicksal zuführten.

Geschichte, die nicht vergehen will, so war doch das Thema, oder?

Nun erlaube ich mir einen Ortswechsel nach Frankreich, und jetzt gibt es mehr zu sehen als eine karge Steintafel, die an Gefallene und Deportierte aus einem zauberhaften Ort in Mittelitalien erinnert.

Chenard & Walcker-Cabriolet um 1922; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Mir ist bewusst, dass sich bei diesem Gefährt keine spontane Begeisterung einstellen will.

Das Cabriolet lässt es doch an französischer Eleganz mangeln, auch wenn es sich anhand des kuriosen Knicks im Kühlergehäuse als Chenard & Walcker identifizieren lässt.

Der Abgleich mit einigen Fotos im Netz brachte mich zu der Einschätzung, dass es sich wohl um ein Modell von ca. 1922 handelt. Leider sind die vielen französischen Marken der zweiten Reihe zumindest online kaum besser dokumentiert als ihre deutschen Pendants.

Doch vielleicht kennt sich ja ein Leser mit den Besonderheiten der Wagen von Chenard & Walcker aus und kann uns mehr über das genaue Modell verraten.

Unterdessen werfen wir nochmals einen Blick auf das Originalfoto, von dem ich bisher nur einen Teil gezeigt habe- hier nun das volle Programm:

Hier sieht man zum einen, dass die Aufnahme in einem Hafen entstanden sein muss, in dem gleich drei eher kleine Passagierdampfer nebeneinander lagen.

Zum anderen kommt man nicht umhin, den einbeinigen Mann zu bemerken, der auf Krücken rechts durchs Bild „läuft“.

Auch wenn es andere Gründe für eine Beinamputation gibt, scheint mir doch hier der wahrscheinlichere Tatbestand der zu sein, dass wir es mit einem Versehrten des 1. Weltkriegs zu tun haben – man sagte einst auch brutaler dazu: einem Krüppel.

So holt einen am Ende bei der Betrachtung einer an sich idyllischen Situation die Geschichte wieder ein – der man nicht entrinnen kann.

Sich mit ihr auseinanderzusetzen und persönliche Schlüsse daraus für’s Hier und Jetzt zu ziehen, auch das ist das Gebot solcher alten Fotos…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Verblassende Erinnerungen: Chenard & Walcker Type U

Von den einst über tausend Automobilherstellern im Frankreich der Vorkriegszeit kennen die meisten Veteranenfreunde allenfalls noch ein halbes Dutzend.

Auch der Verfasser – immerhin Besitzer eines seltenen La Licorne L760 – müsste bei der Frage passen, wer Mitte der 1920er Jahre die Nr. 4 am französischen Markt war.

Klar: Citroen, Peugeot und Renault belegten die ersten drei Plätze. Aber dann? Amilcar Bugatti und Delage bestimmt nicht, vielleicht Panhard oder Delaunay?

Die richtige Antwort lautet: Chenard & Walcker.

Die 1898 von den Ingenieuren Ernest Chenard und Henri Walcker in einem Vorort von Paris gegründete Marke steht stellvertretend für Aufstieg und Niedergang so vieler anderer französischer Hersteller.

Bis zum 1. Weltkrieg hatte sich Chenard & Walcker eine solide Reputation mit selbstentwickelten Vier- und Sechszylinderwagen erarbeitet.

Die Produktion von Flugmotoren nach Lizenz von Hispano-Suiza während des Kriegs unterstreicht das Qualitätsniveau der Firma.

Nach 1918 baute man zunächst noch das 15CV-Vorkriegsmodell Type UU, ab 1920 folgte dann der 12CV-Vierzylindertyp Type U (2,6 Liter), der bis Mitte der 1920er Jahre im Programm bleiben sollte.

Hier haben wir sehr wahrscheinlich ein Exemplar davon:

Chenard & Walcker 12 CV Type U; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Aufnahme mag technisch nicht ideal sein, doch vermittelt sie auch so etwas von dem besonderen Reiz von Vorkriegsautos. Hier sind noch alle Bauteile eigenständige Elemente, die nach funktionellen Aspekten zusammengesetzt sind.

Dennoch ergibt sich daraus ein Gesamtbild von einer Magie, die schwer zu erklären ist. Ja, man sieht und versteht auf Anhieb, welchem Zweck jedes Teil dient. Doch die gestalterische Logik ist eine vollkommen andere als die der Nachkriegszeit.

Wie ein fremdes, urtümliches Wesen schaut einen dieses Gefährt über eine Kluft von über 90 Jahren an. Beinahe alles daran ist mit großem handwerklichem Können geschaffen worden, ein Chenard & Walcker war stets ein Manufakturautomobil.

Was macht uns aber eigentlich so sicher, dass wir ein Auto dieser Marke vor uns haben? Modelle mit Rund- oder Ovalkühler gab es bis in die 1920er Jahre etliche.

In Deutschland denkt man dabei an Hersteller wie MAF, NAG oder Oryx, in Frankreich unter anderem an Delaunay-Belleville. Zum Glück haben wir eine weitere Aufnahme desselben Autos, die nun keine Wünsche übriglässt:

Chenard & Walcker 12 CV Type U; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sehen wir den markentypischen „Knick“ im oberen Teil der Kühlermaske und den ungewöhnlich weit hinten im Trittbrett platzierten Batteriekasten – ebenfalls ein Charakteristikum der Wagen von Chenard & Walcker nach dem 1. Weltkrieg.

Die Firma gelangte damals übrigens zu einigem Ruhm, da einer ihrer Rennsportwagen den Sieg bei der ersten Austragung der 24-Stunden von Le Mans 1923 errang.

Wie es scheint, war auch eine Straßenversion des kopfgesteuerten Siegerautos in der 3 Liter-Klasse verfügbar. Die beiden Fotos zeigen aber wohl das 2,5 Liter-Modell Type U mit konventionellen Seitenventilen, das bis Mitte der 1920er Jahre gebaut wurde.

Dabei unterscheiden sich die frühen Ausführungen von den späten durch das Fehlen von Vorderradbremsen wie auf den beiden Bildern.

Allgemein kann man sagen, dass bei Automobilen ab Mitte der 1920er Jahre Vierradbremsen Standard waren – Vorkriegsautos aufgrund ihrer Bremsleistung pauschal abzulehnen ist von daher unangebracht.

Davon unabhängig genießen auch die ganz frühen Wagen von Chenard & Walcker bis heute unter Kennern einen besonderen Ruf. Anders sieht dies bei den Wagen der späten 1920er und 1930er Jahre aus.

Die Modelle jener Zeit wirken beliebig und lassen jede Extravaganz vermissen. Da hilft auch die charmante Präsentation wie bei diesem 9 CV-Modell von 1929/30 nicht viel:

Chenard & Walcker 9CV; zeitgenössische Abbildung aus Sammlung Michael Schlenger

Man mag kaum glauben, dass diese biedere Limousine mit Anleihen bei US-Modellen von dem traditionsreichen Pariser Hersteller stammen soll. Doch die Beschriftung der originalen Abbildung aus einer französischen Zeitschrift ist eindeutig.

Die Marke war damals bereits auf dem absteigenden Ast – wie vielen Mitbewerber gelang es ihr nicht, ihre durchaus zeitgemäßen Konstruktionen wirtschaftlich zu fertigen.

Die letzten eigenständigen Modelle wurden 1936 gefertigt, bevor der Karosseriebauer Chausson die ehrwürdige Firma übernahm. Bis Kriegausbruch 1939 wurden unter der Marke Chenard & Walcker nur noch Fremdentwicklungen verkauft.

Nach dem 2. Weltkrieg gelang kein Neugebinn mit eigenständigen Konstruktionen mehr. So gesehen steht folgende Aufnahme von Mai 1940 sinnbildlich für das Ende der Marke:

Chenard&Walcker; Originalfoto von Mai 1940 aus Sammlung Michael Schlenger

Offenbar schoss einst ein Soldat der in Frankreich vorrückenden Wehrmacht die Aufnahme dieses aufgegebenen Chenard & Walcker.

Das schon betagte Auto war vermutlich von den zivilen Besitzern zum Ausweichen vor den Kämpfen genutzt worden, bevor es irgendwo am Wegesrande den Geist aufgab.

Zu diesem Zeitpunkt war auch die Lebenszeit der einst angesehenen Marke längst abgelaufen.

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.