Ledwinkas frühes Meisterwerk: Nesselsdorf Typ T

Mein heutiger Blog-Eintrag befasst sich zur Abwechslung wieder einmal mit einer „neuen“ Marke. Anlass dazu gibt die erst kürzlich gelungene Identifikation des Wagens auf einem Leserfoto.

Einsender Jason Palmer aus Australien hat bereits wiederholt mit Originalaufnahmen von Vorkriegswagen aus dem deutschsprachigen Raum spektakuläre Beiträge geleistet (Presto Spitzkühler und Komnick Tourer).

Das Auto, um das es diesmal geht, war ein schwieriger Fall – er illustriert, dass es mitunter einige Monate dauern kann, bis sich so ein Fotorätsel lösen lässt. Solche Aufnahmen schaue ich mir in Abständen immer wieder an, bis irgendwann der Groschen fällt.

Außer Kennern der tschechischen Marke Tatra wird der Markenname „Nesselsdorf“ kaum jemandem etwas sagen. Doch wie Tatra ist er mit einem der ganz großen Konstrukteurstalente aus dem deutschen Sprachraum verknüpft – Hans Ledwinka.

So führt uns das Auto, das ich heute präsentiere, nicht nur zu den Wurzeln der Nesselsdorfer Wagenbaufabrik in der gleichnamigen mährischen Stadt (heute: Koprivnice/Tschechien) , sondern erinnert zugleich an das frühe Wirken von Ledwinka.

Zunächst ein Überblick zur Geschichte der Firma:

  • 1850: Gründung der Nesselsdorfer Wagenbaufabrik Ignaz Schustala
  • 1882: Aufnahme des Baus von Eisenbahnwaggons
  • 1890: Umwandlung in eine AG „Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft“
  • 1898: Bau des ersten Automobils, angelehnt an eine Benz-Konstruktion

Bereits hier kommt Hans Ledwinka ins Spiel. Er war 1897 mit 19 Jahren in die Firma eingetreten und war an den Arbeiten zum ersten Nesselsdorf-Wagen beteiligt.

Dieses 5 PS-Auto – ein Einzelstück mit dem Namen „Präsident“ – ist heute noch im Technischen Museum Prag zu bewundern.

1899 entstand dann eine Kleinserie von Nesselsdorf-Wagen, an deren Konstruktion der gerade 21-jährige Ledwinka maßgeblich beteiligt war.

Nach Sporterfolgen wie dem Sieg beim Bergrennen von Nizza nach La Turbie im Jahr 1900 war Ledwinka unter Leitung von Leopold Svitak an der Konstruktion der neuen Nesselsdorf-Modelle A und B beteiligt, bevor er 1902 die Firma verließ.

Doch schon 1906 sehen wir Ledwinka wieder bei den Nesselsdorfer Wagenbau-Werken. Ausgestattet mit neuen Erfahrungen und voller Ideen schuf Ledwinka nun eine völlig neue Reihe von Automobilen, in deren Tradition dieses Prachtstück stand:

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Nesselsdorf Typ T; Originalfoto aus Sammlung Jason Palmer

Man mag es kaum glauben, doch dieses schnittige Spitzkühlermodell ab 1914 basiert maßgeblich auf dem Neuentwurf von Ledwinka aus dem Jahr 1906.

So schuf Ledwinka damals für den Nesselsdorf Typ S einen 3,3 Liter-Vierzylindermotor mit hochmodernen Konstruktionsmerkmalen: 

Die Ventile waren nicht mehr seitlich neben den Zylindern angebracht, sondern hingen im 90-Grad-Winkel im Zylinderkopf, was einen deutlich verbesserten Gaswechsel und damit mehr Leistung bei gleichem Hubraum ermöglichte.

Betätigt wurden die hängenden Ventile übrigens durch eine ebenfalls im Zylinderkopf angebrachte Nockenwelle. Das war damals eigentlich Sportwagen vorbehalten.

Die Leistungsausbeute von 20, später 30 PS mutet heute bescheiden an, doch wir befinden uns noch im Jahr 1906, in der Kinderstube des Automobils. Übrigens galten noch 30 Jahre später 30 PS Leistung in Deutschland als solider Wert...

Ledwinka hatte den Motor des Typ S vorausschauend so angelegt, dass er zu einem Sechszylinder erweitert werden konnte, der ab 1910 verfügbar war. Dieses 5 Liter große und 40-50 PS leistende Aggregat besaß eine elastische Kraftentfaltung, von der wir bei gleichstarken Wagen mit Minimalhubraum heute nur träumen können.

So fuhr der Hutfabrikant und Automobilenthusiast Fritz Hückel mit einem solchen Nesselsdorf des Typs S6 im Jahr 1912 die über 1.000 km lange Strecke von Wien nach Stettin in knapp 24 Stunden – und zwar komplett im vierten Gang!

Das Getriebe war dazu im vierten Gang arretiert worden, sodass auch nach Tankstopps keine andere Gangstufe zur Verfügung stand.

Auf den damaligen, kaum befestigten und unbeleuchteten Landstraßen über eine derartige Distanz einen solchen Schnitt binnen 24 Stunden herauszufahren, stellt eine Leistung dar, vor der man nur den Hut ziehen kann.

Der Erfolg dieses Sechszylindermodells mündete vor dem 1. Weltkrieg im 65 (z.T. auch 70) PS leistenden Typ U. Äußerlich unterschied sich dieser von den Vorgängern vor allem durch die serienmäßigen Vierradbremsen.

Auch darin schlug sich Ledwinkas Weitsicht nieder, denn Vierradbremsen sollten bei Autos im deutschsprachigen Raum erst 10 Jahre später Standard werden.

Damit haben wir zugleich ein wichtiges Merkmal zur Identifikation des Nesselsdorf auf dem Foto von Jason Palmer:

Offfensichtlich waren hier keine Vierradbremsen montiert. Dass wir es mit einem Nesselsdorf ab 1914 zu tun haben, verrät der Spitzkühler mit dem zweiköpfigen Doppeladler, der für die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie stand.

Fast dieselbe Frontpartie mit dem Emblem findet man auf dem Foto eines Nesselsdorf von 1915, der im Standardwerk „Österreichische Kraftfahrzeuge“ von Seper/Krackowizer/Busatti (Verlag Welsermühl, 1982) auf Seite 51 abgebildet ist.

Die Aufschrift „K.u.k. Autotruppe“ verweist übrigens auf die Verwendung des Nesselsdorf bei der Armee der Habsburger Doppelmonarchie im 1. Weltkrieg.

Aus den Proportionen des Vorderwagens und speziell dem Raum, den die seitlichen Luftschlitze in der Motorhaube einnehmen, ist abzuleiten, dass wir hier ein Vierzylindermodell des Typs T vor uns haben, der sich vom Vorgängertyp S unter anderem durch die in einem gemeinsamen Block gegossenen Zylinder unterschied.

In der Sechsyzlinderausführung S6 bzw. U war die Haube länger und die Luftschlitze beschränkten sich auf das hintere Drittel.

Ob die Insassen dieses Nesselsdorf im Militäreinsatz der österreichischen oder der ungarischen Armee angehörten, werden sachkundige Leser aufklären können:

Festgehalten seien an dieser Stelle nur folgende Details:

  • komplett fehlende (nicht lediglich nach vorn umgeklappte) Windschutzscheibe,
  • zwei mechanische Ballhupen in Griffweite neben dem Lenkrad,
  • Schalthebel und Handbremse außenliegend wie damals Standard,
  • Benzinkanister in typischer Dreiecksform, mit Riemen am Trittbrett befestigt,
  • Ersatzfelge mit Reifen, zweite bereifte Felge fehlt (siehe leere Halterung),
  • glatte Seitenpartie mit eingelassener Tür ohne außenliegenden Griff,
  • niedergelegtes, dünnes Verdeck – typisch für Tourenwagen ohne Seitenfenster.

Nichts davon ist marken- oder gar typspezifisch. Eine Identifikation solcher Wagen aus der Zeit vor 1925 ist meist nur anhand des Vorderwagens möglich, so auch hier.

Über Stückzahlen und etwaige überlebende Fahrzeuge der von Hans Ledwinka konstruierten Nesselsdorf-Typen S, T und U ist mir nichts bekannt.

Auch das Standardwerk von Wolfgang Schmarbeck zur „Geschichte der Tatra-Automobile“ (Verlag Uhle & Kleimann, 1989) schweigt sich dazu aus, obwohl die Vorgängerfirma Nesselsdorfer Wagenbau dort einigen Raum einnimmt.

Eines noch zum Abschluss: Die auf Hans Ledwinkas Konstruktionen von 1906 und 1910 basierenden Motoren trieben die Vier- bzw. Sechszylinder-Modelle T und U noch bis 1925 an, dann unter dem neuen Markennamen Tatra.

Hans Ledwinka war unterdessen zum zweiten Mal zu „seiner“ Firma zurückgekehrt und sollte dort noch zu großer Form auflaufen – doch das ist eine andere Geschichte…

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.