Fund des Monats: Maurer-Union Typ IVc um 1908

Heute reise ich über 110 Jahre zurück in die Vergangenheit – nach Nürnberg, um genau zu sein. Denn dort entstand einst der Union-Wagen, den ich anhand eines raren Fotos aus meiner Sammlung vorstellen darf.

Liebhaber deutscher Vorkriegsautos mögen beim Stichwort “Union” an die Auto-Union der 1930er Jahre denken, unter der nicht nur die Traditionsmarken Audi, DKW, Horch und Wanderer zusammengefasst waren, sondern auch Rennwagen entstanden, wie sie die Welt noch nicht gesehen hatte und deren legendärer Ruf bis heute nachhallt.

Auf Fotos von Auto-Union-Rennwagen müssen die Leser meines Blogs noch ein wenig warten – es ist nicht einfach, auf diesem Sektor etwas “Neues” hervorzuzaubern – doch einige kaum bekannte Bilder und Dokumente will ich gelegentlich zeigen.

Zu den “zivilen” Marken der Auto-Union findet sich in meinem Blog natürlich einiges, wie ein Blick auf  die  Schlagwortwolke oder auch in die einschlägigen Galerien beweist.

Nein, die “Auto Union”, von der ich heute erzählen möchte, hat einen ganz anderen Hintergrund – sowohl was ihre Blütezeit als auch die Region angeht, wo sie einst angesiedelt war.

Der eine oder Kenner mag nun an die “Maurer-Union”-Wagen denken, die ab 1901 in Nürnberg entstanden. Mit diesen eigenwilligen Kleinwagen, die über einen wassergekühlten Einzylindemotor und einen Reibradantrieb (statt eines Getriebes) verfügten, kommen wir der Sache schon näher.

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Maurer-Union; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Der Konstrukteur des Gefährts, ein begabter Mechaniker namens Ludwig Maurer, hatte sich im Jahr 1900 mit der Nürnberger Motorfahrzeugefabrik Siebe und der Düsseldorfer Maschinenfabrik Union zusammengetan – die neugegründete Firma hieß nun Nürnberger Motorfahrzeugefabrik Union, System Maurer GmbH”.

Einige Jahre lang produzierte das Unternehmen erfolgreich Automobile nach Maurers Entwürfen, der übrigens zuvor Werkmeister bei der Motorradfirma Hildebrandt & Wolfmüller in München gewesen war, der ersten Motorradfabrik der Welt.

1904 wurde der Maurer-Union-Wagen mit einem Zweizylindermotor ausgestattet und 1905 folgte ein Vierzylinder der Mittelklasse, der Typ IIIc 14 PS.

Bei diesen größeren Modellen experimentierte Maurer mit allen möglichen technischen Lösungen, unter anderem einer Ventilsteuerung über obenliegende Nockenwelle mit Königswellenantrieb. 

Wie so oft, wenn der Erfindergeist nicht von kühler kaufmännischer Ratio eingehegt wird, stand Maurers ständiges Experimentieren einer rationellen Serienfertigung der Vierzylindertypen im Weg.

Angesichts fallender Absatzzahlen zogen die Kapitalgeber 1908 die Notbremse und Ludwig Maurer musste das Unternehmen verlassen.

Die bisherige GmbH wurde liquidiert und noch 1908 wurden alle Aktiva in die neugegründete Automobilwerke Union AG mit Sitz in Nürnberg überführt. Könnte die folgende Aufnahme bei diesem Anlass entstanden sein?

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Union-Wagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Von der Datierung hier könnte das zumindest passen. Der Wagen mit seiner rechtwinklig auf die Armaturentafel treffenden Motorhaube ist mit Sicherheit nicht später als 1908/09 entstanden.

Von den Dimensionen her könnte es sich um einen Vierzylinder des Typs IVc 12-22 PS handeln, denkbar ist auch das Schwestermodell 18-33 PS mit Sechszylindermotor.

Man sieht: Aus der Kleinwagenproduktion der Maurer-Union waren am Ende erwachsene Fahrzeuge geworden, die zumindest äußerlich kaum von der Konkurrenz zu unterscheiden waren.

Zum Glück hatte man “Union Nürnberg” auf den Kühlergrill gemalt, sonst wäre dieser Wagen wohl auf ewig ein Rätsel geblieben.

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Was die hier – überwiegend – in Sektlaune posierenden Herren und Damen zum Aufnahmezeitpunkt nicht wissen konnten, war dies:

Der erhoffte Erfolg ohne den alten Konstrukteur Maurer blieb aus und schon 1909 wurde die Nürnberger Union an einen neuen Investor – die Nürnberger Feuerlöschgeräte- und Maschinenfabrikweitergereicht.

Bis 1911 führte man den Fahrzeugbau dort noch fort, dann fand das Kapitel des Automobilbaus in Nürnberger Geschichte sein Ende. Insofern sehen wir in dem heute vorgestellten Foto den Abgesang einer zeitweilig durchaus bedeutenden Marke.

Was aber wurde aus Ludwig Maurer? Nun, ein Erfinder wie er konnte trotz Konkurrenzverbots von der alten Leidenschaft nicht lassen.

Nur drei Monate nach Ausscheiden aus der Nürnberger Union war er in einem auf den Namen seiner Frau angemeldeten Unternehmen wieder aktiv, zunächst im Autoreparaturgeschäft. Später baute er unter anderem einen Motorschlitten.

Nach Militärdienst im 1. Weltkrieg betätigte sich Maurer zeitweilig als visionärer Konstrukteur im Motorradsegment. In den frühen 1920er jahren entwickelte er die erste Zweitakt-Zweizylinder-Maschine Deutschlands mit 500ccm Hubraum.

Daneben experimentierte er abermals mit einem Kleinwagen, der aber nicht in Serie ging. Maurer starb 1936 und seine Kinder führten das Unternehmen fort. Zwar fielen die beiden Söhne im 2. Weltkrieg, doch die Familie Maurer hielt die Tradition im Fahrzeugbau bis 1971 aufrecht – zuletzt als Vertretung von Magirus-Deutz.

Soviel Geschichte kann in einem einzigen alten Autofoto stecken. Wer sich nun fragt, woher ich mein Wissen zu Maurer und seinen Konstruktionen beziehe, sei auf diese Quelle im Netz verwiesen – denn die gedruckte Literatur bleibt hier an der Oberfläche.

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

 

Cooles Sommerauto: Hanomag 3/16 und 4/20 PS

Über den Sommerbeginn hierzulande kann man sich dieses Jahr (2019) kaum beklagen – wolkenloser Himmel und Sonne satt bis spät in den Abend.

Aus den angesagten 32 Grad in meinem Wohnort wurden zwar gestern “nur” 28 Grad, doch scheint die Wärme uns noch eine Weile treu zu bleiben – ähnlich wie in anderen “Jahrhundertsommern”, von denen immer wieder die Rede ist und die jedes Mal “alles Dagewesene übertreffen”…

An einen dieser wirklich heißen Sommer kann ich mich erinnern – das war 1976. In weiten Teilen Europas herrschte damals ungewöhnliche Trockenheit, die Felder waren verdorrt, die Flusspegel sehr niedrig.

Regional wurden damals Verbote ausgesprochen, private Gärten zu wässern, so ging auch unser liebevoll gepflegter Rasen vor die Hunde. Temperaturen um 38° Grad wurden damals in unserer Region gemessen.

1983 stieg das Quecksilber in Deutschland dann örtlich sogar auf über 40 Grad – davon weiß ich allerdings nichts mehr – vermutlich weil das noch nicht so hochgejazzt wurde, wie das beim Wetter neuerdings der Fall ist.

Nun aber zurück in die Vorkriegszeit – in der es bisweilen auch sensationell zuging: 1934 etwa kam es wieder einmal zu einer „beispiellosen“ Hitzewelle an der Ostküste der USA, am 5. Juli wurden in New York über 50°C gemessen!

Man war schon früher gut beraten, cool zu bleiben, auch wenn der Sensationsjournalismus heißläuft. Dabei hilft zuverlässig ein klassisches Automobil mit “smartem” Belüftungskonzept:

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Hanomag 3/16 oder 4/20 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der junge Mann, der hier bei offensichtlich hochsommerlicher Temperatur in cooler Pose eine Zigarettenpause einlegt, fuhr einen braven Hanomag 3/16 bzw. 4/20 PS – das erste vollwertige Automobil, das die Maschinenbauer aus Hannover ab 1929 bauten.

Leser meines Blogs sind schon dem einen oder anderen Exemplar dieses recht erfolgreichen Vierzylindermodells konventioneller Bauart begegnet.

Neben dem markentypischen springenden Pferd als Kühlerfigur, das das niedersächsische Wappentier zitiert, sind folgende Elemente typisch:

  • Scheibenräder mit vier Radbolzen, Nabenkappe nicht verchromt,
  • auf zwei Felder verteilte vertikale Luftschlitze in der Motorhaube
  • lackierte trommelförmige Frontscheinwerfer
  • doppelte, bis zum Heck durchlaufende Zierleiste

Gut zu sehen ist hier außerdem die nach vorne ausgestellte Windschutzscheibe, die bei sommerlichen Temperaturen in Verbindung mit heruntergekurbelten Seitenscheiben für ordentlich Durchzug sorgte.

Weniger durchzugsstark war das Motörchen mit 800 bzw. 1100ccm Hubraum, das 16 bzw. 20 PS leistete. Ganze 75 bis 80 km/h Spitzengeschwindigkeit waren damit drin. Doch die Käufer dieses wohlgestalteten Wagens hatten zuvor meist gar kein Auto besessen – für sie war so ein Hanomag 3/16 oder 4/20 PS eine Offenbarung.

Übrigens boten die Hannoveraner für sommerliche Temperaturen bei vergleichbarer Leistung einen noch “cooleren” Aufbau an, und zwar diesen hier:

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Hanomag 3/16 oder 4/20 PS Cabriolimousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ich bin nicht sicher, ob es sich um eine Version des Hanomag 3/16 bzw. 4/20 PS mit besserer Ausstattung oder um den Nachfolger 3/17 bzw. 3/18 PS (ab 1931) handelt.

Letzterer sollte am längeren Radstand und schüssselförmigen Scheinwerfern erkennbar sein. Vielleicht haben wir ein Auto vor uns, das Elemente beider Modelle vereint.

Der Aufbau als Cabrio-Limousine – also eines oben offenen Aufbaus mit feststehenden Seitenteilen und komplett niederlegbarem Verdeck – war für beide Typen verfügbar.

Diese Aufnahme ist ein gutes Beispiel für die Lücken in der Dokumentation der frühen Hanomag-Automobile, denn mir ist keine Abbildung eines vergleichbaren Wagens mit Chromradkappen und linierten Scheibenrädern bekannt.

In Sachen “Coolness” schießt ohnehin die folgende Ausführung den Vogel ab, die wir der schier unerschöpflichen Sammlung von Leser Klaas Dierks verdanken:

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Hanomag 3/16 PS, 2-sitzige Cabriolimousine; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Hier war nicht nur für maximale Belüftung bei sommerlichen Temperaturen gesorgt, sondern auch für hohen Aufmerksamkeitswert, da die Karosserie in der Regel beige lackiert war und laut Literatur mit einem roten Verdeck kontrastierte.

Fiat bietet heute beim trefflichen Retro-Modell 500 etwas ganz Ähnliches und man kann sich vorstellen, dass die Besitzer dieses luftigen Hanomag mit diesem Farbkonzept vor rund 90 Jahren ebenfalls “bella figura” machten.

Fazit: In Sachen Coolness hatten die Hanomags vor dem Krieg einiges zu bieten, während sie unter der Haube nicht gerade über die heißesten Eisen verfügten.

Entspannnt und unaufgeregt durch den Sommer zu kommen, das ermöglicht ein Hanomag 3/16 bzw. 4/20 PS auch heute noch für relativ kleines Geld – vorausgesetzt man findet einen Überlebenden von ehemals gut 9.000 Exemplaren

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Gab’s auch als Limousine: Brennabor Typ P 8/24 PS

Wie anders die Welt des Automobils in Deutschland vor rund 100 Jahren war – das verrät schon die Überschrift meines heutigen Blog-Eintrags.

Noch kurz nach dem 1. Weltkrieg war nämlich ein Limousinenaufbau bei den meisten in deutschen Landen gefertigten Wagen die Ausnahme – die Oberhand hatten die  günstigeren und leichteren offenen Tourenwagen.

In den USA begann dagegen Anfang der 1920er Jahre bereits der Siegeszug des komfortableren geschlossenen Aufbaus. Dort hatte zugleich dank des Genies von Henry Ford bereits die Demokratisierung des Automobils eingesetzt, was hierzulande erst in den 1960er Jahren gelang.

Man muss sich das vorstellen: Im Deutschland der Zeit nach dem 1. Weltkrieg war der Besitz eines Automobils ein Privileg einer dünnen Schicht von Gutsituierten, doch selbst dort reichte es meistens nur für die billigste Variante – den Tourenwagen.

Daran änderte angesichts der desolaten Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Deutschen auch der Beginn der Fließbandproduktion zunächst nur wenig.

Zeitgleich hatte neben Opel auch die Brandenburger Traditionsfirma Brennabor aus dem Vorbild der betriebswirtschaftlich überlegenen US-Autoindustrie die richtigen Schlüsse gezogen und auf die Kostendegression bei Großserienfertigung gesetzt.

Kurzzeitig war Brennabor mit seinen Autos sogar der größte Autohersteller Deutschlands, was sich bislang leider nicht in angemessener Literatur oder der Museumslandschaft widerspiegelt – aber das kann sich ja noch ändern.

Eines der Erfolgsmodelle von Brennabor war der Typ P 8/24 PS, eine Weiterentwicklung des Vorkriegstyps G 8/22 PS, die anfänglich mit Spitzkühler, später mit Flachkühler gefertigt wurde.

Diese Wagen wirken auf den ersten Blick vollkommen beliebig, doch weisen sie bei näherer Betrachtung einige Gemeinsamkeiten auf.

Dem geschulten Auge fallen folgende Dinge auf:

  • die schrägstehende, mittig unterteilte Frontscheibe
  • die Gestaltung des dem Innenraumzugewandten Blechs unterhalb der Windschutzscheibe
  • die Motorhaube ohne erkennbare (evtl. sehr schmale) Luftschlitze
  • die konischen Scheinwerfergehäuse,
  • die Ausführung von Nabenkappe und Radbolzen
  • die nicht der Radform folgende Schwung der Vorderschutzbleche

Wie schon im letzten Blog-Eintrag zum Brennabor Typ P 8/24 PS ausgeführt, ist es die Kombination dieser für sich genommen unerheblichen Details, die eine Identifikation des Modells ermöglicht.

Ich konnte es selbst kaum fassen, dass ich damit die Identität eines Wagens ermitteln konnte, von dem ich lange glaubte, dass sich sein Geheimnis nie entschlüsseln lässt:

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Brennabor Typ P 8/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme gehört trotz technischer Mängel und der Tatsache, dass man kaum etwas von dem Wagen sieht, zu meinen absoluten Favoriten.

Hier wird deutlich, welche Bedeutung ein Automobil in den 1920er Jahren in Deutschland hatte – es war ein Besitz von heute kaum mehr nachvollziehbarer Magie:

Das war keine belanglose technische Hilfe zur Fortbewegung, das war eine Belohnung für beruflichen Erfolg, die man gern herzeigte, ein Produkt großer Ingenieurs- und Handwerkskunst und ein (vielleicht nicht immer) treues Familienmitglied.

Der Stellenwert des Wunderwerks Automobil in der Vorkriegszeit wird an diesen Dokumenten deutlich. Es wurde in die Aufnahme als Hintergrund einbezogen wie sonst nur eine malerische Stadtansicht, ein Landschaftspanorama oder Haus und Hof, wo man sich stolz auf das Erreichte ablichten ließ.

Man könnte allein über den Stil dieser Autobesatzung Essays verfassen, doch frei nach Goethe kehren wir bei solchen Werken “immer wieder zur einfachen reinen Bewunderung zurück”.

Bevor ich es vor lauter Begeisterung vergesse: auch dieser Tourenwagen ist ein Brennabor Typ P 8/24 PS. Nur diesmal überlasse ich es dem Leser, die Identifikation anhand der bisherigen Dokumente nachzuvollziehen.

Tatsächlich gibt es nämlich drei weitere Aufnahmen – diesmal von Lesern meines Blogs – die noch mehr Aufmerksamkeit verdienen, zeigen sie doch geschlossene Aufbauten auf Basis des Brennabor Typ P 8/24 PS.

Hier haben wir das erste Foto aus der Sammlung Schneider:

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Brennabor Typ 8/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Schneider

Unabhängig von dem Wagen – einer Limousine mit fensterlosem Fonds – ist das eine faszinierende Aufnahme.

Die Kleidung der beiden Damen ist typisch für die Zeit um 1925, als kastige und geometrische Elemente Einzug in die Mode hielten, nachdem zuvor bereits die Taille auf die Hüfte gerutscht war – eine das Weibliche verleugnende Idee, die etwas vom ideologischen Furor des Dekonstruktivismus verrät, der damals aufkam.

Die beiden Herren dagegen sind modisch konservativ geblieben – nur der Verzicht auf den vor dem 1. Weltkrieg in der Öffentlichkeit obligatorischen Hut weist sie als Vertreter der 1920er Jahre aus.

Hier haben wir die beiden mit ihren Partnerinnen nochmals – jetzt aus einer Perspektive, die eine eindeutige Ansprache des Wagens als Brennabor erlaubt:

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Brennabor Typ P 8/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Schneider

Das nunmehr verchromte oder vernickelte Kühlergehäuse spricht für eine spätere Ausführung des von 1919 bis 1927 gebauten Brennabor-Modells P 8/24 PS.

Interessant auch, dass hier erstmals auf einem Foto dieses Typs Luftschlitze in der Motorhaube zu erkennen sind. Tauchten diese möglicherweise erst recht spät auf?

Der Hintergrund mit Nadelbäumen und sandigem Boden lässt vermuten, dass das Foto im Ostseeraum entstand. Mehr ist leider nicht zu Ort und Zeitpunkt der Aufnahme bekannt.

Dafür haben wir hier eine weitere Aufnahme aus derselben Zeit, die ebenfalls einen Brennabor Typ 8/24 PS mit geschlossenem Aufbau zeigt, hier in der Ausführung als Chauffeur-Limousine, bei der das Fahrerabteil zwar von einem Dach geschützt wird, aber keine Seitenscheiben besitzt:

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Brennabor Typ P 8/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Pochert

Diese schöne Aufnahme stammt von Leser Peter Pochert (Dresden) – nebenbei einer der vielen Personen, denen ich außer Originaldokumenten wichtige Erkenntnisse und etliche freundschaftliche Kontakte verdanke.

Während das Kühlergehäuse hier noch in Wagenfarbe lackiert ist, was auf eine recht frühe Entstehung hindeutet, möchte ich die Aufmerksamkeit des Lesers auf die Gestaltung der Räder lenken.

Unerheblich ist, dass an der Vorderachse zwei Reifen mit unterschiedlichem Profil montiert sind, das findet sich so auf vielen Aufnahmen jener Zeit.

Wichtiger ist die Ausführung von Nabenkappe und Radbolzen, die sich genau so auf allen bisher in meinem Blog gezeigten Fotos von Brennabor-Wagen des Typs P 8/24 PS findet – ein eher ungewöhnliches Leitmotiv, doch verhält es sich genau so.

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Spurensuche in Deutschland: Steyr Typ XII Limousine

Mein Eindruck ist, dass die ausgezeichneten Wagen der bedeutenden österreichischen Vorkriegsproduzenten – also Austro-Daimler, Steyr und Puch – heute in der deutschen Klassikerszene unverdientermaßen ein Schattendasein führen.

Das ist schade, denn macht sich vor klassischer Kulisse wie dieser ein offener Gräf & Stift Typ SR2 nicht weit besser als die schwer gepanzerten Limousinen der “Dem deutschen Volke” angeblich Dienenden?

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Gräf & Stift Typ SR2 vor dem Berliner Reichstag; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Während Berliner Politpersonal (wie in Vorkriegszeiten) für sich selbst PS-starke Prestigefahrzeuge aus heimischer Produktion reklamiert – und den Finanziers des Ganzen Elektroautos mit Minimalmobilität vorschreiben möchte – war die deutsche Hauptstadt in den 1920er Jahren in automobiler Hinsicht ein Hort der Freiheit.

Nirgends sonst hierzulande standen so viele internationale Hersteller zur Auswahl – ohne dass dem Käufer selbsternannte Lenker eines angeblichen “Weltklimas” mit Verdammnis drohten.

Neben den unvermeidlichen US-Fabrikaten, die Ende der 1920er mehr als ein Drittel des nach Mobilität dürstenden deutschen Marktes bedienten, hatten in Berlin einst auch österreichische Firmen eine prominente Position inne.

Hier haben wir die Vertretung von Austro-Daimler und Steyr in Berlin:

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Ausstellungsraum von Austro-Daimler und Steyr in Berlin; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Leider konnte ich den genauen Ort dieser reizvollen Aufnahme bislang nicht ausfindig machen. Weder am Kurfürstendamm noch “Unter den Linden”, wo sich die besten Adressen in Berlin ein Stelldichein gaben, wurde ich bislang fündig.

Vielleicht helfen die Namen der Bank H. Hentz & Co und des in Berlin mit eigener PKW-Produktion präsenten US-Autobauers Overland einem sachkundigen Leser weiter.

Nachtrag: Leser Klaas Dierks gab mir den Hinweis, dass sich der Ausstellungsraum tatsächlich an der Adresse “Unter den Linden 69” befand – als Quelle dafür nennt er das Berliner Adressverzeichnis von 1932. Der Sitz der Vertriebsgesellschaft dagegen befand sich in Berlin-Halensee.

Einstweilen befassen wir uns näher mit dem Steyr, der wie bestellt vor der Berliner Niederlassung der österreichischen Muttergesellschaft geparkt ist – gewissermaßen ein früher Fall von “Product Placement”:

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Leser meines Blogs werden sich vielleicht an einen opulent bebilderten Eintrag erinnern, der einen solchen Steyr des Typs XII auf einer Italienreise zeigte.

Das 1925 vorgestellte neue Modell aus Steyr mit kleinem, aber feinen Sechszylinder (kopfgesteuert) errang sich einen hervorragenden internationalen Ruf, unter anderem aufgrund der unabhängigen Aufhängung der Hinterräder.

Ein Qualitätsausweis besonderer Art war es, wenn sich ein neuer Wagentyp auch in der Taxibranche durchsetzte. Dieses in Berlin laufende Landaulet auf Basis eines Steyr Typ XII habe ich bereits vor einiger Zeit hier vorgestellt:

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Steyr Typ XII Landaulet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So bemerkenswert der Aufbau bei diesem Steyr Typ XII aus Berlin ist, so mäßig ist die Qualität des Abzugs – der im Original noch übler aussah, aber aufgrund der raren Karosserieversion eine Bearbeitung verdiente.

Doch wie so oft wird man bei der Spurensuche in der Welt der Vorkriegsautos in deutschen Landen früher oder später wieder fündig – auch beim Steyr Typ XII, der bis 1929 in mehr als 11.000 Exemplaren gebaut wurde.

Und dieses Mal stimmt alles: die Qualität des Abzugs, die wiederum ungewöhnliche Karosserie, die Örtlichkeit und das menschliche Element, das diesen Fotos erst das Leben einhaucht, das sie so faszinierend macht:

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Steyr Typ XII Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Nun mag man sagen, dass das doch bloß eine banale Limousine auf Basis des Typs Steyr XII sei. Ganz so banal kann der Aufbau aber nicht sein, so konventionell er auch anmutet. In der Literatur habe ich jedenfalls keine Entsprechung gefunden.

Ich vermute, dass dieser Steyr dort eingekleidet wurde, wo der Wagen auch zugelassen wurde – nämlich im Raum Duisburg. Dafür spricht jedenfalls das Kennzeichen “IY 50030. Vielleicht erkennt jemand ja auch die Plakette des Karosserielieferanten:

Steyr_Typ_XII_Zulassung_Düsseldorf_Frontpartie

Nachtrag: Steyr-Spezialist Thomas Billcsich verwies mich darauf, dass dieser Aufbau von Lindner aus  Halle in Sachsen kam.

Der Steyr sieht bei näherer Betrachtung schon ein wenig “mitgenommen” aus:

  • die Nabenkappe mit dem Firmenschriftzug ist zerdellt,
  • der in Fahrtrichtung rechte Kotflügel hat auch schon “Feindkontakt” gehabt.
  • der Zustand der wohl nachgerüsteten Doppelstoßstange spricht ebenfalls für einige Jahre Großstadtbetrieb.

Tatsächlich liefert das Foto selbst einen Hinweis darauf, dass dieser Steyr einst mitten in Duisburg lief und nicht im Umland:

Steyr_Typ_XII_Zulassung_Düsseldorf_Fahrer

“Händelstraße Ecke Oststraße” steht auf dem massiv wirkenden Schild neben dem zeittypischen Blechschild mit dem Hinweis auf eine “Kraftwagenanlage” – genau solch ein altes Stück befindet sich auch in meiner Fahrzeughalle.

In Duisburg landet man mit dieser Ortsangabe hier. Wie es scheint, ist dort einige Originalsubstanz erhalten geblieben – existiert möglicherweise die Garage noch?

Und wenn wir schon bei der Spurensuche sind: Was hat das Emblem zu bedeuten, das die Schirmmütze des Fahrers dieses Steyr Typ XII ziert?

Steyr_Typ_XII_Zulassung_Düsseldorf_Fahrer2

Leser Helmut Kasimirowicz aus Düsseldorf brachte mich darauf, dass es sich wahrscheinlich um einen Schirmmützenadler des ADAC handelt.

Nebenbei muss der wackere Steyr-Fahrer, der uns hier so selbstbewusst und zufrieden anschaut, ein großgewachsener Mann gewesen sein: Denn den Steyr mit immerhin knapp 1,75 m Gesamthöhe (in der Limousinenausführung) überragt er deutlich.

Was mag das Leben wohl für ihn noch bereitgehalten haben außer der sicher sehr anständigen Anstellung als Fahrer des Besitzers eines feinen Steyr-Typ XII? Das wird unsere Spurensuche wohl leider nicht mehr zutagefördern…

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Ein Wagen wie im Traum: Dixi 6/24 PS Sport-Tourer

Im Traum sind die Dinge ganz klar und plastisch, selbst Stimmen und Gerüche vermag unser Gehirn herbeizuzaubern, wenn das Bewusstsein die Kontrolle abgegeben hat und die grauen Zellen ohne Aufsicht miteinander austauschen, was sie wissen.

Faszinierend, zu welchen Schöpfungen der menschliche Kopf dann imstande ist – vermutlich ist er nie so kreativ wie im Traum – oft genug ist das auch besser so.

Ganz gleich, was sich das Hirn so zusammenkonstruiert – nach dem Erwachen bleibt oft nur eine verschwommene Erinnerung. Man weiß noch ungefähr, was man träumend erlebt hat, doch die Details entziehen sich dem Zugriff.

Ganz ähnlich ist das mit dem Foto, das ich heute vorstellen möchte. Es wirkt wie eine Erinnerung an einen entfernten Traum, doch vieles bleibt unscharf und ungewiss:

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Dixi Typ G2 6/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Manchen mag dieses leider etwas unscharfe Dokument an einen Bentley oder einen anderen rassigen Sportwagen der 1920er Jahre erinnern.

Wenn ja, spielen dem Betrachter da wohl persönliche Träume einen Streich. So raffiniert dieser offene Wagen auch aufgenommen ist, so ernüchternd ist es, wenn der Verstand wieder einsetzt und man sich der realen Leistungsdaten bewusst wird.

Ganze 24 PS aus 1,6 Liter trieben diesen so sportlich daherkommenden Wagen offiziell an. Und mehr als 75 km/h Spitze sollen damit nicht mehr erreichbar gewesen sein.

Hand auf’s Herz – daran glaubt doch niemand, nicht im Traum! Und tatsächlich spricht einiges dafür, dass unter der Haube einiges mehr los war. Doch der Reihe nach.

Wer die Kühlerpartie studiert, kommt früher oder später darauf, dass es sich um einen Wagen der Eisenacher Traditionsmarke “Dixi” handeln muss. Genau solch einen spitz zulaufenden Kühler mit markant “genickter” Unterseite findet man hier:

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Dixi Typ G2 6/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist die Frontpartie eines Dixi 6/24 PS Tourenwagen in der 1923/24 gebauten frühen Version ohne Vorderradbremsen (Porträt).

Dieses Volumenmodell der Eisenacher Manufaktur ist auf alten Fotos fast ausschließlich als konventioneller Tourenwagen zu finden.

Der Grund dafür ist derselbe wie bei anderen deutschen Herstellern der kargen Zeit nach dem 1. Weltkrieg – offene Aufbauten waren schlicht am billigsten. Geschlossene Karosserien waren dermaßen teuer, dass sie nur für wenig Käufer erschwinglich waren.

Im Fall des Dixi Typ 6/24 PS kam hinzu, dass dem Wagen sportliche Eigenschaften nachgesagt wurden. Die wollte man nicht durch unnötiges Gewicht riskieren, siehe auch die häufig verbauten Drahtspeichenräder mit Zentralverschluss.

Käufer konnten eine weitere Gewichtsreduktion erreichen, indem sie sich für einen besonders einfachen Aufbau als Sport-Tourer entschieden. So etwas ist in der spärlichen Literatur zu Dixi anhand eines Prospektabbildung dokumentiert – auf Seite 62 des Standardwerks “Ahnen unserer Autos” (Gränz/Kirchberg, Berlin 1975).

Wer das Buch nicht zur Hand hat, braucht dennoch nicht weiterzuträumen, denn dieser Aufbau mit niedriger Gürtellinie und flacher, gepfeilter Frontscheibe ist auf dem heute präsentierten Foto zu sehen:

Dixi_Typ_G2_6-24_PS_Sport-Tourer_Galerie4

Geheimnisvoll wirkt hier jedoch eines: Die in Fahrtrichtung rechts befindliche Frontscheibenhälfte ist klar zu sehen, während auf der linken Seite nichts davon erkennbar ist.

Stattdessen erscheint dort wie eine Traumgestalt eine ernst in die Ferne schauende Frauengestalt mit dunklem Kleid und langer Halskette.

Was soll man von dieser merkwürdigen Erscheinung halten? Nun, besagte Prospektabbildung lässt erkennen, dass die obere Hälfte der Windschutzscheibe vor dem Fahrer – damals noch rechts  – waagerecht ausklappbar war.

Das scheint auch hier der Fall zu sein, sodass nur die untere, dem Betrachter zugewandte Hälfte eine Reflektion (des Himmels?) aufweist. Die Frontscheibenhälfte in Fahrtrichtung links war dagegen durchgehend und da sie in einem anderen Winkel zu Sichtachse steht, ist sie hier komplett durchscheinend.

Wer genau hinschaut, kann rechts neben der geheimnsvollen jungen Dame auf dem Beifahrersitz des Dixis die nach hinten geneigte Fenstersäule erkennen.

Bleibt das Geheimnis, was sich unter der Haube dieses feschen Dixi Sport-Tourers des Typs G2 6/24 tatsächlich verbarg. Nun, genau lässt sich das nicht mehr ermitteln, doch träumen wird man ja wohl noch dürfen.

Dafür gibt es sogar eine sehr reale Grundlage. Halwart Schrader erwähnt im Dixi-Kapitel seines nach wie vor unverzichtbaren Buchs “BMW Automobile” (1. Auflage, 1978) auf Seite 135, dass der 1,6 Liter Motor des Typs G2 6/24 PS auf Wunsch auch in sportlichen Varianten erhältlich war.

30 bis 36 anstatt bloßen 24 PS waren mit klassischem “Frisieren” aus dem Aggregat zu kitzeln, also nicht durch Aufbohren, sondern durch Gewichtsverringerung bewegter Bauteile, strömungsoptimierten Ein-/Auslass und geänderte Gemischaufbereitung.

Damit dürften je nach Übersetzung Höchstgeschwindigkeiten um die 100 km/h möglich gewesen sein. Ausnutzen ließ sich diese auf den Straßen der 1920er Jahre zwar kaum, aber das deutlich bessere Beschleunigungsvermögen war ein klarer Vorteil.

So konnten sich Dixi-Fahrer einst vor über 90 Jahren ihren ganz persönlichen Traum vom sportlichen Auftritt ermöglichen – oder sich zumindest einbilden, die Damenwelt ließe sich von so etwas beeindrucken.

Einmal mehr die Frage: Wie kann ein so attraktives Auto spurlos verschwinden? Ich wüsste jedenfalls nicht, dass noch ein Exemplar dieser sportlichen Ausführung des braven Dixi 6/24 PS noch irgendwo existiert.

Vielleicht besitzt ja noch jemand ein Chassis und einen Motor dieses Typs und träumt davon, solch ein elegantes Fahrzeug wiederzuerschaffen – dann wäre das das Vorbild!

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

Rarität aus Zwickau: Audi Typ B 10/28 PS Tourenwagen

Dem heutigen Audi-Besitzer gibt der Titel meines heutigen Blog-Eintrags womöglich Rätsel auf: Ein Audi aus Zwickau, nicht aus Ingolstadt? Und eine Rarität, kein Großserienwagen?

Nun, vor über 100 Jahren war so ziemlich alles anders in Deutschland, auch die Welt der Automobile, die damals noch jung und voller Tatendrang war:

1909 verließ ein gewisser August Horch das unter seinem Namen firmierende Unternehmen im sächsischen Zwickau aufgrund interner Querelen.

Rasch gelang es Horch, das Kapital für eine Neugründung einzusammeln. Brilliant war die Namensgebung der neuen Firma: „Audi“ bedeutet „Horch!“ auf Lateinisch, klingt außerdem nach „Auto“ und ist den meisten Sprachen mühelos auszusprechen.

Ab 1910 wurden die ersten Audis gebaut – natürlich in Zwickau, damals einer der wichtigsten Standorte der deutschen Autoindustrie. Die Stückzahlen blieben gering, Audi wollte von Anfang als Qualitätsmarke wahrgenommen werden.

Großes Ansehen brachten die Siege bei der gefürchteten Österreichischen Alpenfahrt 1911-14, die sich zuletzt über knapp 3.000 km mit 30 Alpenpässen erstreckte. So wundert es nicht, dass die hervorragend konstruierten Audi-Wagen einige Jahre lang dieselbe Exklusivität genossen wie die Autos von Horch.

Ein schöner Beleg dafür ist die folgende Originalreklame aus meiner Sammlung, die im Kriegsjahr 1915 publiziert wurde:

Audi_Typ_D_Reklame_1915_Galerie
Audi Typ D 18/45 PS; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Ein Ausschnitt daraus, der nur den Wagen zeigt, ist auf Seite 53 des Standardwerks “Audi Automobile 1909-1945” (Verlag Delius-Klasing, 2. Auflage 2015) abgebildet.

Das Foto ist identisch, bloß ist die Beschriftung in dem sonst hervorragenden Werk fehlerhaft. Der Audi gehörte nämlich nicht dem sächsischen Kronprinzen, sondern dem König von Sachsen, der den deutschen Kronprinzen an der Westfront besuchte – wie aus der originalen Reklame eindeutig hervorgeht.

Zwar ein vernachlässigbarer redaktioneller Fehler, doch zeigt sich einmal mehr, dass man nicht alles für bare Münze nehmen sollte, was in der Literatur geschrieben steht.

Nach dem 1. Weltkrieg baute Audi zunächst die Vorkriegstypen weiter, so auch diesen Wagen, um den es heute geht:

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Audi Typ B 10/28 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Vielleicht erinnert sich einer meiner Leser daran, dass ich vor längerem bereits eine Vorkriegsversion des Audi Typ B 10/28 PS vorgestellt habe (hier).

Dort war die Kühlergestaltung noch eine andere, und das Audi-Emblem war plan in das Oberteil des Kühlergehäuses eingelassen:

Audi_Typ_B_Tourenwagen_vor_1914_Frontpartie

Auch Details wie der hoch aufragende Windlauf – das strömungsgünstige Blech zwischen Motorhaube und Frontscheibe – sind Hinweise auf eine frühe Entstehung dieses ab 1911 gebauten Audi mit 2,6 Liter messendem Vierzylindermotor.

Die Scheinwerfer und Positionsleuchten waren bei diesm Exemplar noch gasbetrieben und fehlen hier ganz – damals montierte man die empfindlichen Laternen mitunter nur für Nachtfahrten.

Gegen Ende des 1. Weltkriegs hatte sich elektrische Beleuchtung als Standard durchgesetzt, was für eine spätere Entstehung des Audis auf dem heute vorgestellten Foto spricht:

Audi_Typ_B_10-28_PS_Nachkrieg_Frontpartie

Weitere Unterschide sind die nun waagerecht verlaufende Motorhaube und der flacher ausgeführte Windlauf – außerdem das leicht nach unten geneigte “Audi”-Emblem, das zudem etwas in das Kühlernetz hineinragt.

Da das letztgenannte Detail auf dem obigen Ausschnitt nur schlecht zu erkennen ist, wenn man es nicht bereits woanders gesehen hat, habe ich folgende Aufnahme eines noch existierenden Audi des stärkeren Schwestermodells Typs C 14/35 PS eingefügt, der parallel zum Typ B verfügbar war und bis 1925 gebaut wurde:

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Audi Typ C 14/35 PS; Bildrechte: Michael Schlenger

Diese Aufnahme habe ich 2017 bei den Classic Days auf Schloss Dyck am Niederrhein angefertigt. Nebenbei ist das Foto ein Beleg für die außergewöhnliche Qualität der Fahrzeuge, die zum hierzulande einzigartigen Rang der Veranstaltung beiträgt.

Wann genau Audi zu dieser Gestaltung des Markenemblems überging, konnte ich bislang nicht genau ermitteln – die mir zugänglichen Fotos sprechen für das Jahr 1914.

Übrigens war es gar nicht so einfach, eine Belegaufnahme für den Audi Typ B 10/28 PS zu finden, die mit meinem Foto übereinstimmt. Dabei war jedoch nicht nur das genaue Studium der Kühlerpartie hilfreich, sondern auch ein Detail an der sonst meist wenig individuellen Karosserieflanke:

Audi_Typ_B_10-28_PS_Nachkrieg_Seitenpartie

Markant ist nämlich die Gestaltung des Kastens am hinteren Endes des Trittbretts, hinter dem sich die Aufnahme für die Blattfeder der Hinterachse befindet. Auch die Ausführung des Heckschutzblechs und die Platzierung der Tür finden sich genau so auf einer originalen Abbildung in einem Zeitungsartikel, der sich mit der Audi-Geschichte befasste.

Auch sonst stimmt der dort abgebildete Audi Typs B 10/28 PS vollkommen mit “meinem” überein. Nur mit der Datierung auf das Jahr 1911 bin ich nicht einverstanden – vermutlich bezog sich die Angabe im Artikel auf den Baubeginn des bis 1917 hergestellten Typs (1911 entstand nur 1 Wagen des Modells).

Ganze 350 Stück sollen in dem Zeitraum vom Audi Typ B 10/28 PS gefertigt worden sein. Bislang ist nur ein überlebendes Exemplar bekannt, das sich im sehenswerten Horch-Museum in Zwickau befindet, wo vor über 100 Jahren alles begann..

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

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Als Berlin noch für Können stand: NAG Typ D 10/45 PS

Dieser Tage – wir schreiben Mitte Juni 2019 – sollte mit einem besonderen Ereignis des Endes der Luftbrücke nach Berlin im Sommer 1949 gedacht werden:

  • 12 Transportflugzeuge des Typs DC3 (bzw. der Militärversion C47) sollten nochmals in Berlin landen und daran erinnern, dass einst Hunderttausende von Menschen im von den Kommunisten eingeschlossenen Westberlin versorgt wurden – aus strategischem Kalkül zwar, doch mit der Wirkung, Hunderttausende vor dem Verhungern zu retten.
  • Am Bord waren diesmal auch Veteranen, die damals unter Einsatz ihres Lebens in rund 280.000 Flügen Nahrungs- und Hilfsgüter in die eingeschlossene Stadt brachten – fast 100 Menschen bezahlten dies mit ihrem Leben. 
  • Die erneute Landung der “Rosinenbomber” wurde von den in Berlin regierenden Kommunisten (Linke), Sozialisten (SPD) und Öko-Kollektivisten (Grüne) abgelehnt. Dokumente seien nicht vollständig eingereicht worden, hieß es aus der Metropole der Toleranz gegenüber Drogenhandel, Schwarzfahren und sonstigen “Bagatellen”. 

Hätte man auf den unfertigen Berliner Flughafen verwiesen, der seit x Jahren unter anderem Tempelhof ersetzen soll, hätte man noch die Lacher auf seiner Seite gehabt.

So bleibt einem das sonst so leichtfallende Lachen über Berliner Inkompetenz im Halse stecken – man ahnt den Zynismus antiamerikanisch eingestellter Kreise.

Dabei gehörte Berlin – bevor es Sehnsuchtsort der Wehr- bzw. Zivildienstverweigerer und allerlei Lebenskünstler wurde – einst in jeder Hinsicht zu den führenden Metropolen der Welt: in punkto Kultur, Forschung und Technik war Berlin vor dem Krieg womöglich jeder anderen Hauptstadt auf dem Globus voraus.

Nach dieser leider notwendigen Vorrede – ein Blog ist per se eine persönliche Sache – komme ich nun zu dem Fahrzeug aus einstiger Berliner Produktion, das ich heute nach langer Abstinenz wieder anhand eines raren Originalfotos vorstellen möchte:

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NAG Typ D 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ja, in Berlin, das auch heute ohne Milliardentransfers von außen nicht überleben würde, wurden einst von unzähligen Firmen Automobile hergestellt, US-Wagen aus Bausätzen zusammengebaut oder mit individuellern Karosserie versehen.

Die Kompetenz dafür war seit dem 19. Jahrhundert vorhanden, als in Berlin unter anderem Firmen wie AEG und Siemens zu Weltmarktführern aufstiegen. Neben der Elektrifizierung von Straßen, Häusern und des Verkehrssektors engagierten sich die beiden Konzerne auch in der neuen Technologie des Autos mit Verbrennungsmotor.

Speziell die AEG-Tochter NAG brachte es auf diesem Gebiet vor dem 1. Weltkrieg zu einigem Ruhm: NAG-Wagen genossen in Europa einen hervorragenden Ruf und verkauften sich hervorragend, sogar als Laster oder Omnibusse.

Selbsverständlich besaß NAG kurz vor dem 1. Weltkrieg eine Repräsentanz an einer der exklusivsten Adressen auf dem Kontinent – in Berlin “Unter den Linden”:

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Originale Zeitschriftenabbildung von 1913/14 aus Sammlung Michael Schlenger

Nach dem 1. Weltkrieg beschränkte sich NAG zunächst auf die Produktion des Vierzylindertyps C4 10/30 PS, von dem nur einige tausend Stück gebaut wurden, die einem aber im 21. Jh. auf alten Fotos immer noch auf Schritt und Tritt begegnen.

Ohne eigens danach gesucht zu haben, sind mir mittlerweile mehr als ein Dutzend davon ins Netz gegangen – siehe meine NAG-Galerie.

Hier haben wir eine adrette Droschkenausführung des Typs C4 10/30 PS, die den NAG-typischen Spitzkühler mit ovalem Ausschnitt erahnen lässt:

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NAG Typ C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das Fehlen von Vorderradbremsen ist ein eindeutiger Hinweis auf eine Entstehung vor 1925. Dann erschien nämlich der Nachfolgetyp NAG D 10/45 PS, der bei ähnlicher Optik einen weit stärkeren Motor (2,6 Liter Vierzylinder) und Vierradbremsen bot.

Interessanterweise konnte ich von diesem bis 1927 gebauten Typ bislang nur ein einziges Foto dingfest machen, und zwar dieses hier:

NAG_Typ_D_10-45_PS_Galerie

NAG Typ D10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn man hier die Vorderradbremsen nicht sieht, ließ sich dieser mächtige Tourenwagen, der vor 90 Jahren – im Sommer 1929 – an einem unbekannten Ort aufgenommen wurde, als NAG Typ D 10/45 PS identifizieren.

Der Wagen verfügt nämlich über die in den wenigen Literaturabbildungen zu sehenden schmalen seitlichen Luftschlitze, die es beim Vorgängertyp noch nicht gab.

Moment  mal, mag jetzt ein aufmerksamer Betrachter denken: der eingangs gezeigte NAG mit Vorderradbremse besaß doch noch breite und weniger Luftschlitze!

NAG_D4_10-45_PS_Tourenwagen_früh_Frontpartie

Was soll man davon halten? Könnte das ein später NAG Typ C 10/30 PS sein, der vielleicht auf Wunsch auch mit Vierradbremse erhältlich war?

Denkbar ist das durchaus – doch ein Detail spricht aus meiner Sicht dagegen: Das Kühlergehäuse ist auf diesem Foto bereits verchromt/vernickelt, was auf keinem der mir vorliegenden oder aus der Literatur bekannten Fotos des Typs C 10/30 PS der Fall ist.

Denkbar ist, dass erst beim Nachfolgetyp D 10/45 PS ab 1925 neben den standardmäßigen Vierradbremsen ein Kühlergehäuse mit Verchromung bzw. Vernickelung optional verfügbar war.

Der Zusatz “optional” ist deshalb notwendig, da der bislang einzige NAG des Typs  D 10/45 PS in meiner Fotosammlung noch einen lackierten Kühler besitzt:

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NAG Typ 10/45 PS, Vorderwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Man sieht, die Berliner NAG-Wagen der 1920er Jahre machen es einem nicht leicht. Hinzu kommt, dass es ab 1926 auch einen Sechszylindertyp D6 12/60 PS gab, der in der Literatur zwar erwähnt wird, aber in einer Spitzkühlerversion kaum greifbar ist.

Dass es so etwas gegeben hat, wird Gegenstand eines künftigen Blogeintrags sein.

Einstweilen bleibe ich bei der These, dass das heute vorgestellte Foto eine frühe Ausführung des NAG Typ D 10/45 PS zeigt, die noch formale Elemente des Vorgängertyps C 10/30 PS aufweist.

Gern lasse ich mich hier eines Besseren belehren, allerdings fürchte ich, dass auch in dieser Hinsicht in Berlin noch das Material, nicht aber mehr die Kompetenz vorhanden ist, die Geschichte der einst so bedeutenden Marke NAG überzeugend aufzuarbeiten.

Die letzten mir bekannten Bemühungen in dieser Hinsicht wurden vor über 35 Jahren von Hans-Otto Neubauer unternommen: “Autos aus Berlin: Protos und NAG”, Verlag Kohlhammer, Stuttgart, 1983.

Seither herrscht in Sachen NAG weitgehend Funkstille in der einstigen Hauptstadt deutscher Technologiekompetenz. Das Buch über die Berliner AGA-Wagen von Kai-Uwe Merz zeigt nebenbei, dass es auch anders sein könnte, wenn man nur wollte…

Nachtrag: Zumindest die Stadt Erfurt wollte das infame Verhalten des roten Berliner Senats nicht auf sich beruhen lassen: Man ließ die historischen US-Maschinen nicht nur auf dem örtlichen Flugplatz landen, sondern organisierte für die Crews spontan eine Führung durch die wunderbar erhaltene Altstadt und einiges mehr: https://www.thueringer-allgemeine.de/startseite/detail/-/specific/Rosinenbomber-Besatzung-in-Erfurt-empfangen-nach-der-Abfuhr-in-Berlin-1999735801

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6-Zylinder-Dickschiff: Opel 12/50 und 15/60 PS

Heute kehre ich in meinem Blog für Vorkriegsautos auf alten Fotos zu einem Fahrzeug zurück, das einst zwar nicht der Gipfel der Raffinesse am deutschen Markt war, doch gemessen an heutigen Verhältnissen ziemlich sensationell anmutet.

Die Rede ist vom großen Sechszylinder-Opel, den die Rüsselsheimer ab 1927 auf Kiel legten, nachdem der Erfolg des Vierzylindertyps 10/40 PS – und die heftige Konkurrenz US-amerikanischer Wagen – Mut und Lust auf mehr geweckt hatten.

Das eine oder andere Exemplar dieser eindruckvoll dimensionierten Opels habe ich bereits vorstellen können -hier ein Potpourri der bisherigen Belegaufnahmen:

Mit einem Radstand von 3,50 m und Gesamtlänge von 4,70 m war Opels neuer fließbandgefertigter Sechszylinder ein ziemlich eindrucksvolles Geschöpf.

Nur vereinzelt waren zuvor in Manufaktur noch größere Opel-6-Zylinder der Typen 21/0 bzw. 21/60 PS und 30/75 bzw. 30/80 PS entstanden, die auf historischen Aufnahmen kaum zu greifen sind.

Diese über 5 Meter messenden Riesen gehören im wahrsten Sinne des Wortes zu den großen Unbekannten in der abwechslungreichen Opel-Historie, doch hoffe ich, früher oder später auch eines dieser Dickschiffe dingfest machen zu können.

Einstweilen lassen wir es bei der folgenden Aufnahme aus meiner Sammlung bewenden, die die Seefahrer-Weisheit “Länge läuft” bereits anhand des Opel 12/50 bzw. 16/50 PS aus den späten 1920er Jahren eindrucksvoll illustriert:

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Opel 12/50 oder 15/60 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die technisch hochwertige Aufnahme mag es an gestalterischer Rafinesse mangeln lassen, doch eines wird hier noch deutlicher als in den bislang gezeigten Bildern dieses Opel-Sechszylindertyps:

Mit dieser Karosserie konnte Opel formal mit den “Amerikanerwagen” mithalten, die im Deutschland der späten 1920er Jahre zeitweise mehr als ein Drittel der Autonachfrage stillten.

Das Kühlergehäuse folgte dem Vorbild von Packard und auch die an sich veralteten trommelförmigen Scheinwerfer waren Reflex einer vorübergehenden Modeerscheinung in den Vereinigten Staaten:

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Die Scheibenräder mit sechs Radbolzen und verchromter Radkappe finden sich auch am parallel angebotenen Vierzylindertyp Opel 10/40 PS. Doch die seitlich montierten Reserveräder weisen eher auf den großen Bruder 12/50 oder 15/60 PS hin.

Übrigens wurden die beiden Sechszylindertpen mit 3,2 bzw. 3,9 Liter Hubraum und vollkommen konventioneller Konstruktion als Typ 90  bzw. 100 angeboten – was ein Hinweis auf die jeweilige Höchstgeschwindigkeit war.

Viel mehr war auf Deutschlands damaligen Straßen ohnehin nicht drin und viele US-Wagen boten ebenfalls keine wesentlichen Leistungs- oder Preisvorteile. Doch waren sie oft besser ausgestattet und vor allem waren sie in den benötigten Stückzahlen verfügbar.

Man kann daher die marktbeherrschende Stellung der US-Hersteller Ende der 1920er Jahre hierzulande schlicht damit begründen, dass diese aufgrund ihrer rationelleren Fertigungsmethoden und überlegenen Logistik imstande waren, Autos in einer Klasse zu liefern, die einige inländischen Hersteller prinzipiell zwar ebenfalls im Programm hatten, aber nicht in ausreichender Stückzahl bauen konnten.

Ganze 3.500 Stück konnte Opel von 1927 bis 1928 von seinem an US-Vorbildern geschulten Sechsyzlinder-Dickschiff absetzen. Das erklärt auch, weshalb man jede Menge von Fotos jener Zeit findet, die amerikanische Wagen vergleichbaren Kalibers in Deutschland zeigen, aber kaum einen Opel dieser Klasse.

Damit bleibt das heute vorgestellte Foto eine ausgesprochene Rarität, zumal in dieser technischen Qualität. Aufgenommen wurde es übrigens in Schöna – wofür diverse Orte in Ostdeutschland in Frage kommen.

Vielleicht kann ein Leser etwas zum Kontext dieses Dokuments sagen, das auf mich wie eine Werksaufnahme oder zumindest ein für Pressezwecke angefertigtes Foto wirkt.

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Kaum bekannter Cadillac-Konkurrent: Cole V8 von 1920

Heute unternehme ich in meinem Blog für Vorkriegsautos auf alten Fotos wieder einen Ausflug in die Wunderwelt obskurer US-Autohersteller.

Genaue Zahlen sind nicht verfügbar, doch weit mehr als 5.000 Automarken soll es in der Vorkriegszeit in den Vereinigten Staaten gegeben haben.

Zwar sind dabei auch Fabrikate berücksichtigt, die nicht mehr als einen Prototyp zustandebrachten. Aber darauf kommt es nicht an – die Zahl an Entwicklern und Unternehmern, Spinnern und Spekulanten war groß genug, um bereits vor dem 1. Weltkrieg den meisten europäischen Herstellern den Rang abzulaufen.

Dabei finden sich immer wieder typisch amerikanische Karrieren wie die, die ich zum folgenden Foto aus meiner Sammlung erzählen kann:

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Cole V8 von 1920; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hand auf’s Herz: Wer hat schon einmal einen solchen Wagen zu Gesicht bekommen? Dabei entstanden zwischen 1909 und 1925 mehr als 35.000 Fahrzeug dieses Herstellers.

Die Geschichte beginnt im US-Bundesstaat Indiana, wo der 1869 geborene Bauernsohn Joseph Cole nach seinem Schulabschluss zunächst eine steile Karriere bei lokalen Kutschenfabriken hinlegte.

1904 verfügte er über genügend Kapital, um einen Kutschhersteller in Indianapolis zu kaufen, den er kurzerhand in Cole Carriage Company umbenannte. Dabei handelte es sich keineswegs um irgendeine Klitsche, wie die Jahresproduktion von rund 3.000 Stück erkennen lässt.

Ein solcher Aufstieg mag dem von historisch und global einzigartigen Abgabenlasten geplagten deutschen Zeitgenossen märchenhaft erscheinen – doch es hat seine Gründe, warum das Unternehmer- und Erfindertum bis heute in den USA prosperiert, während hierzulande schon eine Festanstellung bei “Vater Staat” als großes Glück gilt…

Der mit einem Highschool-Abschluss ausgestattete Bauernbursche Joseph Cole tat 1908 den nächsten Schritt zu Ruhm und Reichtum: er entwickelte sein erstes Auto. Dieses war zunächst kein großer Erfolg, doch Cole ließ nicht locker.

Mit Hilfe von Charles Crawford (später maßgeblich für den Erfolg des Luxusherstellers Stutz) wurde von der neugegründeten Cole Motor Car Company 1909 ein Vierzylinder konstruiert, der sich bald gut verkaufte, nicht zuletzt aufgrund von Rennerfolgen.

1913 folgte ein Sechszylindermodell mit elektrischer Beleuchtung und Anlasser, ab 1915 gab es dann einen Achtzylinder. Den V8-Motor bezog Cole wie Cadillac von General Motors – womit klar wird, in welcher Liga die Marke Cole antrat.

Nach dem 1. Weltkrieg war Cole tatsächlich zeitweilig die Nummer 2 im US-Oberklassesegment nach Cadillac. Doch der bis Mitte der 1920er Jahre anhaltende Konjunkturabschwung ließ den Markt für Cole immer weiter schrumpfen.

Wieder bewies Cole besonderes unternehmerisches Gespür, als er 1925 das noch gewinnträchtige Unternehmen zu liquidieren begann, um eine Insolvenz zu vermeiden. Leider starb Cole noch im selben Jahr.

Das ist für sich bereits eine filmreife Geschichte – doch noch spannender ist ein Detail an dem Cole V8 von 1920 auf dem heute vorgestellten Foto:

Cole_V8_1920_Frontpartie

Der mächtige Wagen mit seinem 80 PS leistenden Achtzylinder – 1920 war ein so kraftvolles Aggregat in Europa bei Serienwagen kaum zu finden –  war nämlich ganz offensichtlich in Deutschland zugelassen.

Dummerweise ist die Kennung unvollständig. Möglich sind “IA” für Berlin, “IIA” für München und “IIIA” für Stuttgart. Die Wahrscheinlichkeit spricht zwar für Berlin, wo in den 1920er Jahren viele amerikanische Hersteller Niederlassungen hatten.

Doch für den konkret hier abgebildeten Wagen sind Wahrscheinlichkeiten unerheblich – eine Münchener oder Stuttgarter Zulassung ist ebenso möglich. Vielleicht haben wir ja das Glück, dass das Nummernschild aus einem lokalen Adressbuch bekannt ist.

Einen solchen Fall, in dem sich sogar der Besitzer und die genaue Typenbezeichnung aus dem Nummernschild ableiten lassen, stelle ich gelegentlich vor – übrigens wieder anhand eines in Deutschland zugelassenen US-Wagens.

Bleibt einstweilen die Frage, was es mit der Beschädigung des Kennzeichens auf sich hat. Ich vermute, dass das Nummernschild anlässlich der Abmeldung des Cole ungültig gemacht wurde – dafür spricht speziell das abgekratzte Hoheitswappen.

Könnte es sein, dass hier ein Wagen der frühen 1920er Jahre kurz nach seiner Stillegung oder gar vor der Verschrottung aufgenommen wurde?

Eventuell stammt die Aufnahme vom einstigen Besitzer, der sich den Luxuswagen in der Inflationszeit oder der späteren Wirtschaftskrise nicht mehr leisten konnte, aber über eine Kamera verfügte, um seinen einstigen Besitz zur Erinnerung abzulichten.

Einen Markt für einen solchen Wagen gab es in den fortgeschrittenen 1920er Jahren in Deutschland nicht mehr. Im Unterschied zu dünner besiedelten Ländern wie Frankreich oder England wanderten die Autos dann meistens auf den Schrottplatz.

Das erklärt, weshalb Autos jener Zeit hierzulande kaum überlebt haben – und wenn, dann vor allem in ländlichen Regionen Ostdeutschlands. Einen Cole wird man hierzulande dennoch heute vergeblich suchen.

Oder hat doch einer überlebt?

Im Anschluss an meinen Blog-Eintrag zum “Moon”-Wagen erfuhr ich von mindestens zwei in Deutschland existierenden Exemplaren. Man sieht: Auch nach 80 bis 130 Jahren bleibt die Geschichte des Automobils in Deutschland voller Überraschungen.

Literatur: Standard Catalog of American Cars, von Beverly R. Kimes & Henry A. Clark

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Einst auffallend präsent – Röhr “Junior” 10/30 PS

Heute geht es in meinem Blog für Vorkriegsautos um ein Modell, das einst in weniger als 2.000 Exemplaren gefertigt wurde und subjektiv dennoch in zeitgenössischen Dokumenten auffallende Präsenz entfaltet.

Die Rede ist vom letzten Automobil, das in den ehemaligen Röhr-Werken im hessischen Ober-Ramstadt serienmäßig entstand – dem Typ “Junior” 10/30 PS. Hier haben wir eine schöne Aufnahme, die ich vor längere Zeit (hier) besprochen habe:

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Röhr Junior mit Paul Kemp; Bildrechte: UfA; Originalabzug aus Sammlung Michael Schlenger

Dass der Wagen ein so auffallendes Erscheinungsbild hatte, das ihn auf Anhieb von anderen deutschen Autos der 1930er Jahre abhob, hat damit zu tun, dass es sich dabei um einen leicht modifizierten Lizenznachbau des luftgekühlten Tatra Typs 75 handelt.

Als der Röhr Junior erschien  – das war im Jahr 1933 – war vom Genius des Firmengründers Hans Gustav Röhr und seines Weggefährten Ingenieur Josef Dauben in Ober-Ramstadt nichts mehr geblieben.

Beide hatten das chronisch unwirtschaftliche Unternehmen 1931 verlassen und waren bei Adler untergeschlüpft – wo sie mit dem frontgetriebenen Modell Trumpf “den” Großserienerfolg der Frankfurter konstruierten.

In den alten Röhr-Werken kämpfte man unterdessen mit dem Boxermodell “Junior” gegen den Untergang an. Doch schon 1935 kam das Ende – die Tatra-Lizenz wanderte zu Stoewer nach Stettin, wo man bis 1939 genau 4.000 Stück des überarbeiteten Wagens als “Greif Junior” fertigte.

Ungeachtet der niedrigen Stückzahlen begegnet einem der Röhr “Junior” im Deutschland der 1930er Jahre gefühlt auf Schritt und Tritt. Hier steht ein in Berlin zugelassenes Exemplar einsam am Wegesrand – vielleicht am Ufer eines Badesees:

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Röhr “Junior” 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Erkennt jemand vielleicht die Örtlichkeit anhand des markanten Hinweisschilds? Dann wäre ich für einen Hinweis dankbar.

Übrigens haben wir es hier mit dem neben der Limousine verfügbaren Aufbau als Cabrio-Limousine zu tun – im Deutschland der 1930er Jahre eine bei den meisten inländischen Herstellern besonders beliebte Variante.

Wie eine solche Cabrio-Limousine mit niedergelegtem Verdeck aussah, lässt sich auf der folgenden – technisch und formal hervorragenden Aufnahme studieren:

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Röhr “Junior” 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Gut zu erkennen ist der feste Türrahmen, der nach Öffnen des Verdecks stehen bleibt. Bei einem Cabriolet wäre hier nur der Rahmen der Seitenscheibe zu sehen, sofern diese nicht ohnehin heruntergekurbelt war.

Auffallend ist hier, dass der Röhr schon stark gebraucht wirkt. Der in Fahrtrichtung linke Kotflügel weist ebenso wie das Nummmernschild erste “Gefechtsspuren” auf.

Zugelassen war dieser Röhr “Junior” übrigens in Wuppertal. Dort dürfte auch das junge Paar gewohnt haben, das hier so schön für die Kamera posiert. Während sie selbstbewusst in die Ferne schaut, lässt er es bei einem verhaltenen Lächeln bewenden.

Seine Ausgehuniform weist ihn als Gefreiten der deutschen Luftwaffe aus, die Auszeichnungen an der Brust scheinen Sportabzeichen zu sein. Die Aufnahme ist jedenfalls vor Kriegsausbruch entstanden, sonst besäße der Röhr die ab 1939 vorgeschriebenen Tarnüberzüge an den Frontscheinwerfern.

Wie weit es dieser Wehrpflichtige bei der Luftwaffe gebracht hat, wo er eingesetzt war (nicht zwangsläufig beim fliegenden Personal) und ob er den Krieg überlebt hat, das alles wissen wir nicht.

Nur dass es für beide – wie für Millionen andere Menschen im damaligen Europa – keine Rückkehr in das Idyll gab, das auf dieser Aufnahme festgehalten ist, das lässt sich mit Gewissheit sagen. Noch im März 1945 fielen die letzten Bomben auf das heimische Wuppertal, dessen Bebauung danach zu fast 40 % zerstört war.

Über etwaige Verwendung von Wagen des Typs Röhr “Junior” bei der Wehrmacht ist nur wenig bekannt. Zwar gab es eine Kübelwagenversion des Typs, doch scheint diese nur in geringen Stückzahlen gebaut worden zu sein.

Das letzte mir vorliegende Dokument eines Röhr “Junior” aus der Zeit vor 1945 ist eine Postkarte von Januar 1941. Sie zeigt einen Junior aus Berlin auf dem Marktplatz von Garmisch-Partenkirchen vor dem Hintergrund des grandiosen Zugspitzmassivs.

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Röhr “Junior” 10/30 PS; Ausschnitt aus Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Nebenbei ist das hier als Rathaus fungierende Gebäude im Hintergrund ursprünglich als Kurhaus gebaut worden – ich vermute in den 1920er Jahren. Es nimmt in Form und Gestaltung klar Bezug auf seine Umgebung, wie das vor dem Einbruch der Moderne über Jahrhunderte selbstverständlich war.

Noch auf Ansichtskarten der 1950er Jahre findet sich dieser schöne Bau – doch wenn nicht alles täuscht, wurde er später abgerissen. Ich konnte jedenfalls keinen Hinweis mehr darauf finden, würde mich aber freuen, hier zu irren.

Leider muss man bei der Beschäftigung mit der Welt der Vorkriegszeit immer wieder feststellen, was alles verlorengangen ist – beileibe nicht nur durch Kriegseinwirkung.

Vielerorts kam es im Zuge mehrerer “Modernisierungs”wellen zu immer neuen sinnlosen Zerstörungen der wenigen noch vorhandenen historischen Substanz.

Auch hier ging und geht man hierzulande besonders gründlich vor – ich wüsste kein Land in Europa, wo man derartig rabiat bei historischen Bauten Fassaden mit gut brennbarer “Dämmung” ruiniert, Vorgärten mit grauem Schutt vernichtet, Holzfensterläden achtlos fortwirft und buntglänzende Ziegel auf’s Dach montiert.

Eine Vorstellung von einer äußerlich heilen Welt der Vorkriegszeit – die nichts von den bedrückenden politischen Verhältnissen ahnen lässt – vermitteln diese Aufnahmen aus den späten 1930er Jahren, die unter anderem Rothenburg ob der Tauber zeigen:

© Videoquelle youtube.com, hochgeladen von Deutschlandsender

Hier reist man durch ein ländliches, romantisch anmutendes Deutschland, in dem Automobile noch die Ausnahme – und Alltagshärten, Samstagsarbeit und eine Woche Urlaub der Normalfall – waren.

Beschwingt von den Rhythmen des Orchesters von Willy Glahe geht es gemächlich durch eine märchenhaft anmutende untergegangene Welt. Bei 1:07 min fährt dann ein Röhr Junior durch’s Bild!

Tatsächlich – auffallend präsent war einst dieses heute extrem rare Modell…

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Lang ist’s her: Endlich wieder ein Selve Tourenwagen

Lang ist’s her, dass ich in meinem Blog für Vorkriegsautos auf alten Fotos einen Wagen der heute kaum noch bekannten deutschen Marke Selve zeigen konnte.

Im November 2017 durfte ich folgendes Foto aus dem Werksarchiv der Werkzeugfirma HAZET ausführlich besprechen (hier):

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Selve 8/20 oder 8/24 PS; Originalfoto aus Werksarchiv der Hazet Gmbh & Co. KG

Den mächtigen Tourenwagen konnte ich als ein frühes Exemplar aus der 1919 gestarteten Automobilproduktion des Selve-Konzerns identifizieren.

Zur Historie der Marke Selve gehört die Flugmotorenproduktion von Basse & Selve im westfälischen Altena während des Ersten Weltkriegs.

Hier haben wir eine Originalreklame aus meiner Sammlung, die aus Heft Januar/Februar 1918 der Zeitschrift “Motor” stammt:

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Basse & Selve Flugmotor, Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Keine 12 Monate nach Erscheinen dieser Anzeige war der 1. Weltkrieg vorbei und wie viele andere Rüstungsfabrikanten im In- und Ausland musste sich auch der Selve-Konzern nach einer neuen Verwendung der Kapazitäten im Motorenbau umsehen.

Man entschied sich für den Kauf von NAW in Hameln, wo einst die “Sperber”-Automobile gebaut worden waren. Dort fand man eine Kompetenz im Fahrzeugbau vor, die durch die Motorenfabrikation von Basse & Selve ideal ergänzt wurde.

So entstanden ab 1919 in Hameln in den neugegründeten Selve-Automobilwerken Wagen, die mit hauseigenen Vierzylinderaggregaten ausgestattet waren, die anfänglich bei Hubräumen von 1,6 bis 2,1 Litern zwischen 20 und 32 PS leisteten.

Welcher Motor genau unter der Haube verbaut war, sah man vielen Autos jener Zeit von außen nicht an. Das gilt auch für den Selve, den ich heute vorstellen will:

Selve_8-32_PS_Vw-Bezirk_Heidenheim_Galerie

Selve Tourenwagen Typ 6/20 oder 6/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Identifikation als Selve ist anhand der Position der ovalen Markenplakette auf dem Spitzkühler möglich. 

Einige Details wie die abweichende Ausführung der Vorderschutzbleche und die schlichte Ausführung des Tourenwagenaufbaus ohne hinten angesetzten Verdeckkasten sprechen tendenziell dafür, dass es sich bei dem Selve nicht mehr um eines der frühen Nachkriegsmodelle handelt.

Gleichzeitig deutet das Fehlen von Vorderradbremsen auf eine Entstehung  vor 1925 hin. Damit kommen zwei äußerlich ähnlich Selve-Typen in Betracht, das Modell 6/24 PS mit 1,6 Liter Hubraum und das größere und länger gebaute Modell 8/32 PS.

Mangels Vergleichsfotos oder sonstiger Abbildungen in der dünnen Literatur zu der bis 1929 aktiven Marke erscheint eine genauere Ansprache des Selve vorerst nicht möglich.

Das ist aber hinnehmbar, denn die Erfahrung zeigt, dass sich früher oder später neue Belegaufnahmen finden oder Markenkenner weiterführende Hinweise geben.

Darin liegt einer der Vorteile des Blog-Formats – neue Erkenntnisse kann ich in bisherige Artikel und die Markengalerien einfließen lassen oder auch neue Einträge verfassen.

Ebenso lassen sich Fehleinschätzungen korrigieren – ein Beispiel dafür wird übrigens Gegenstand des nächsten “Fund des Monats” sein…

Unterdessen begnügen wir uns mit der nicht nur für die raren und reizvollen Selve-Autos geltenden Erkenntnis “Lang ist’s her”, hier vorgetragen von Zarah Leander:

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Nur 7 PS, aber schon lebensgefährlich: Apollo “Piccolo”

Der heutige Autofahrer, der so sicher, sauber und geräuscharm wie nie zuvor reisen kann, verdankt sein fast anstrengungs- und risikoloses Dasein dem Erfindungsgeist, dem Mut und Beharrungsvermögen von Pionieren aus über 120 Jahren.

Der Grad der Vollkommenheit moderner Kraftfahrzeuge wird jedoch oft entweder als Selbstverständlichkeit betrachtet oder von Lobbygruppen abgestritten, die ausgerechnet in den besten Autos aller Zeiten die Wurzel vielfältiger Übel sehen.

Die Konfrontation mit den Wagen der Frühzeit ist in beiden Fällen ausgeprochen heilsam. Die damaligen Standards in punkto Effizienz, Sicherheit und Umweltbelastung waren aus heutiger Sicht haarsträubend.

Für die frühen Automobilisten zählte vor allem eines: Zuverlässigkeit und Reichweite. Erst diese beiden Eigenschaften sorgten für die ersehnte Unabhängigkeit von Pferdekutsche, Eisenbahnfahplänen und Batterieladungen.

Dass die neugewonnene Autonomie oft auf Kosten der nicht motorisierten Mitmenschen ging, wurde lange in Kauf genommen. So gehörte das Motiv des von rücksichtslosen Benzinkutschern über den Haufen gefahrenen Fußgängers bis zum 1. Weltkrieg zum Repertoire von Karikaturisten.

Manche frühen Autobesitzer machten sogar scherzhafte Aufnahmen, die solche Situationen simulierten, etwas diese aus dem Jahr 1908:

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unbekanntes Automobil, Postkarte von 1908 aus Sammlung Michael Schlenger

Nebenbei: Wenn ein Leser eine Idee zum Hersteller dieses Wagens hat, würde ich mich über einen Hinweis freuen.

Doch lebten auch die Pioniere der Automobilität selbst nicht gerade ungefährlich: Leistungsfähige Bremsen oder splittersicheres Glas setzten sich erst ab Mitte der 1920er Jahre durch, Gurte und Knautschzonen erst ab den 1960er Jahren.

Vor diesem Hintergrund relativieren sich selbst die aus heutiger Sicht niedrigen  Geschwindigkeiten bei Kleinwagen, die bis vor dem 1. Weltkrieg oft keine 10 PS leisteten.

Dass man als Besitzer eines solchen “Geschosses” durchaus gefährlich lebte, zeigt eine historische Originalaufnahme, die ich erst kürzlich erworben habe. Sie zeigt ein Fahrzeug, das ich bereits anhand eines Fotos von 1931 vorgestellt habe:

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Apollo “Piccolo” von 1907; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bei der damaligen Besprechung zeigte sich, dass das auf der Haube aufgemalte Baujahr “1902” falsch sein muss. Denn es handelt sich um das erst ab 1907 in dieser Form verfügbare Modell “Piccolo”, das von den Automobilwerken Ruppe & Sohn im thüringischen Apolda gebaut wurde.

Obwohl die Marke “Apollo” erst ab 1910 verwendet wurde, sortiere ich die bisher aufgetauchten Originalaufnahmen solcher frühen Modelle ebenfalls unter “Apollo” ein – es handelt sich dabei um Raritäten, wie sie die Literatur nur teilweise bietet.

Auch das Modell Piccolo mit seinem luftgekühlten Zweizylindermotor, das ab 1907 ganze 7 PS aus 800ccm leistete, ist in den einschlägigen Druckwerken fast nur in alten Prospektabbildungen vertreten.

Heute kann ich nun eine kurz nach dem 1. Weltkrieg entstandene Aufnahme zeigen, die auf scherzhafte Weise von den Gefahren erzählt, denen man einst als Pionier der motorisierten Kutsche ausgesetzt war:

Apollo_Piccolo_Angriff_Galerie

Apollo “Piccolo” 7 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Natürlich ist dieser “Überfall” sich aufgebracht gebender Fußgänger auf einen wackeren Automobilisten nur gestellt.

Die Situation hat etwas Theatralisches und die Männer, die den armen Fahrer hier scheinbar so entschlossen angehen, könnten von Mimik und Körperhaltung her Schauspieler sein.

Für einen spaßeshalber entstandenen Schnappschuss wirkt die Szene zu inszeniert. Möglicherweise war diese Aufnahme zur Publikation vorgesehen, in welchem Kontext auch immer.

Dass es sich bei dem Wagen tatsächlich um einen Typ “Piccolo” aus dem Hause Ruppe & Sohn (späterer Markenname “Apollo”) handelt, belegt der Vergleich des Schriftzugs auf der Kühlerattrappe mit der Aufnahme eines auch sonst identischen Zweisitzers im verdienstvollen Standardwerk zu ostdeutschen Automarken “Ahnen unserer Autos” von Gränz/Kirchberg (Verlag Transpress, 1975).

Im Unterschied zu sämtlichen mir bekannten Abbildungen dieses Typs ist hier eine höhenverstellbare Windschutzscheibe montiert. Was diese bei einem Unfall mit den Insassen anrichtete, stellt man sich besser nicht vor.

Ja, die Automobilisten der Pionierära lebten ausgesprochen gefährlich. Doch ihrem Mut und ihrer Leidensfähigkeit verdanken wir eine heute bis auf’s Äußerste verfeinerte Erfindung, ohne die unser moderner Lebensstandard nicht vorstellbar wäre.

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Auf den 2. Blick ein echter Sportstyp: Presto 9/30 PS

Alte Bekannte können sich irgendwann als lästig erweisen oder erfreuen einen immer wieder aus Neue – mit altbekannten Qualitäten und bisweilen neuen Facetten.

Ein perfektes Beispiel für letzteres aus der Welt der Vorkriegsautos ist der Typ D 9/30 PS der Chemnitzer Presto-Werke. An die 20 historische Fotos dieses attraktiv gezeichneten Vierzylinders sind mittlerweile in meiner Presto-Galerie versammelt.

Kaum einer der darauf abgebildeten Wagen besaß die gleiche Karosserie. Selbst bei den am häufigsten verkauften offenen Versionen findet man etliche ganz unterschiedliche Varianten.

Die wohl sportlichste davon hatte ich 2018 im Zusammenhang mit dem Fund des Jahres vorgestellt. Zur Erinnerung hier nochmals das Foto des Presto mit Aufbau als Sportviersitzer beim Zieleinlauf:

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Presto Typ D 9/30 PS Sportversion; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Charakteristisch für die sportliche Variante des Presto D-Typs war der ungewöhnlich niedrige Tourenwagenaufbau mit hoch angesetztem Trittbrett.

Man kann sich gut vorstellen, dass diese Version um einiges leichter war als konventionelle Tourenwagenvarianten, für die die Literatur ein Gewicht von immerhin 1,25 Tonnen nennt.

Bei der massigen Ausführung auf dem folgenden Foto würde man in der Tat keine sportlichen Qualitäten erwarten, hier erscheint eine Maximalgeschwindigkeit von 70 km/h durchaus realistisch:

Presto_D-Typ_mit_Dame_Galerie

Doch gab es ganz offensichtlich nicht nur karosserieseitig deutlich abgespeckte Versionen, sondern auch leistungsstärkere Varianten.

So erwähnen Paul Gränz und Peter Kirchberg in ihrem auch nach über 40 Jahren unverzichtbaren Standardwerk “Ahnen unserer Autos” (Verlag transpress, Ostberlin 1975), dass die Leistung des ab 1921 gebauten Presto Typs D 9/30 PS bis zur Ablösung durch den optisch ähnlichen Typ E 9/40 PS auf 35 PS gesteigert wurde.

Damit waren dann sicher deutlich mehr als 70 km/h erreichbar – je nach Übersetzung wohl 90 bis 100 km/h. Dies würde auch die Präsenz von Presto-Wagen bei zeitgenössischen Sportveranstaltungen erklären.

Der eingangs beim Zieleinlauf gezeigte Presto besaß dementsprechend auch Vierradbremsen, wie sie ab 1925 Standard wurden. Jedoch findet sich der leichte und flach bauende Sportaufbau bereits bei früheren Exemplaren des Presto D-Typs.

Leser und Sammler Matthias Schmitt verdanke ich ein großartiges Belegfoto dafür:

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Presto Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmitt

Das ist ein in jeder Hinsicht herausragendes Foto, wie man es sich besser nicht wünschen kann.

Wer auch immer diese Aufnahme anfertigte, verstand nicht nur sein Handwerk vollkommen – er wusste auch, wie man den schnittigen Sporttyp auf Basis des Presto D-Typs besonders wirkungsvoll inszeniert – aus spitzem Winkel von vorne und in gebückter Haltung.

Im Vergleich zu dieser mutmaßlichen Privataufnahme wirken die meisten Werkssufnahmen jener Zeit – auch bei anderen Marken – meist einfallslos.

Übrigens ist dies die erste Aufnahme eines Presto D-Typ, die mir bekannt ist, auf der der Markenschriftzug schräg auf dem Kühlergrill zu sehen ist – ein weiterer, das Vorwärtsstreben des Wagens betonender Effekt.

Die Kennung auf dem Nummernschild verweist übrigens auf den Zulassungsbezirk Nürnberg – demnach wusste hier jemand aus dem Mittelfränkischen die Qualitäten der Chemnitzer Presto-Wagen zu schätzen.

Auch auf dem zweiten Foto desselben Wagens, das uns Matthias Schmitt freundlicherweise zur Verfügung gestellt hat, macht der Besitzer einen mehr als zufriedenen Eindruck:

Presto_D-Typ_Matthias Schmidt_Galerie

Presto Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmitt

Selbst aus dieser konventionellen Perspektive wirkt der Presto enorm sportlich – wozu neben der gepfeilten Frontscheibe vor allem der niedrige Aufbau beiträgt.

Dabei profitiert das Erscheinungsbild von einem Kunstgriff: Das Vorderschutzblech verläuft weit flacher als bei gängigen Tourenwagenaufbauten und trifft auf ein um schätzungsweise 20 cm höher angesetztes Trittbrett. 

Dadurch wirkt die Gürtellinie des ohnehin flach gehaltenen Aufbaus nochmals deutlich niedriger. Entsprechend mehr ist vom Unterbau zu sehen, was aber den Gesamteindruck keineswegs trübt:

Presto_D-Typ_Matthias Schmidt_Galerie2

Was genau hier zu sehen ist, erschließt sich nicht ohne weiteres:

  • Umschließt der unter dem Trittbrett erkennbare Kasten vor der Vorderachse den hinteren Fußraum oder etwas anderes?
  • Sind davor Kabel oder Kraftstoffleitungen zu sehen?
  • Was liegt auf dem Trittbrett vor dem Handbrems- und Schalthebel?

Wie immer freue ich mich über weiterführende Hinweise von Lesern, auch über Anmerkungen zu Elementen, die ich übersehen oder vielleicht falsch interpretiert habe.

Ebenso wie mein Blog auch von solch großartigen Bildbeiträgen aus der Leserschaft lebt, sind es sachkundige Kommentare von Markenkennern, die mir eine immer genauere Ansprache auch obskurer Varianten von Vorkriegswagen ermöglichen.

Alle neuen Erkennntisse fließen unmittelbar in die Blog-Einträge und die Beschriftung der laufend wachsenden Fotogalerien ein – und gerade bei Presto gibt es noch jede Menge Lücken zu füllen…

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