Fund des Monats: Ein Dürkopp Typ P12 12/45 PS

Beinahe hätte ich heute einen Fahrradrahmen der Bielefelder Marke Dürkopp gekauft – neben motorisierten Klassikern kann ich mich auch für historische Drahtesel begeistern.

Meine kleine Fahrrad-Sammlung umfasst nichts Besonderes: Räder der 30er bis 50er Jahre von Adler, Miele, Torpedo, Presto – solide Massenware, meist ziemlich abgerockt, teilweise auf „Halbrenner“ reduziert, also ohne Schutzbleche, Beleuchtung und Gepäckträger, dafür aber mit sportlich umgedrehtem Lenker und schickem Ledersattel.

Das mit dem Dürkopp-Rad scheiterte am Zustand – der Rahmen war zwar solide und das markante Emblem vorhanden, aber mehr Oberflächenrost als Lack, das muss nicht sein.

Zur Kompensation gönne ich mir – und Ihnen, liebe Leser – heute ein Dürkopp-Vergnügen auf vier Rädern, das seinesgleichen suchen dürfte.

Der bekannte Hersteller von Fahrrädern und Nähmaschinen baute nämlich eine ganze Weile auch achtbare Automobile und zwar bereits ab Ende des 19. Jahrhunderts. Bis 1927 hielt man an dem meist verlustträchtigen Geschäft fest – weil man es sich leisten konnte.

Merkwürdigerweise fand sich immer genug Kapital am deutschen Markt für unzählige solcher defizitären Experimente, doch gelang es aus irgendwelchen Gründen hierzulande kaum, das in der Breite erhebliche Investoreninteresse am Automobil nach US-Vorbild zu bündeln, um zu einer betriebswirtschaftlich sinnvollen Großserienproduktion zu gelangen.

Im Fall von Dürkopp konnte man sich den Luxus von Verlusten aus dem Autogeschäft offenbar sehr lange leisten – vermutlich lag es an der Aktionärsstruktur. Immerhin verdanken wir diesem Umstand eine Reihe attraktiver Wagen.

Dem Fotobefund nach zu urteilen, scheint der nach dem 1. Weltkrieg eingeführte Typ P8 mit 8/24 PS-Vierzylinder (ab 1924: 8/32 PS) die größte Verbreitung gefunden zu haben.

Aufnahmen dieses Typs finden sich auch, ohne dass man speziell danach sucht, in erheblicher Zahl – hier haben wir ein hübsches Beispiel dafür:

Dürkopp Typ P8; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Wie es scheint, fühlt sich im 21. Jahrhundert niemand mehr zuständig für die Dokumentation der technisch wie gestalterisch stets makellosen, wenn auch unauffälligen Automobile aus dem Hause Dürkopp.

Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, ist das Firmenarchiv im 2. Welkrieg verlorengegangen. Vielleicht war es aber auch bloß ein besonders progressiver Geschäftsführer oder ein eifriger Hausmeister, der für Tradition nichts übrig hatte…

Dessen ungeachtet müssen neben den verbreiteten Dürkopp-Reklamen auch noch etliche Originalprospekte der gängigsten Typen in irgendwelchen Sammlungen schlummern. Bloß macht keiner etwas draus.

Also bleiben wir auf die Fotos angewiesen, die man am Wegesrand aufliest – erst jüngst konnte ich dieses hier für kleines Geld erwerben:

Dürkopp-Tourenwagen, wohl Typ P8; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Abgelichtet wurde dieser Dürkopp der 1920er Jahre – zu erkennen vor allem am beiderseits der Kühlerspitze angebrachten Markenemblem – auf dem Gelände der Großgaragen GmbH Chemnitz (Stadestraße 14).

Wenn mitten in Sachsen – damals das Zentrum der deutschen Automobilindustrie – ein westfälischer Dürkoppwagen zugelassen war, kann das entweder ein Kuriosum gewesen sein, welches Anlass zu diesem Foto gegeben hätte, oder es war nicht ungewöhnlich.

Für die letztere These spricht ein zweites Foto vom selben Ort, das einen ganz ähnlichen Dürkopp (am Rande) zeigt, der aber ein anderes Kennzeichen besitzt und auch sonst in einigen Details abweicht:

Dürkopp-Tourenwagen, wohl Typ P8; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist mal wieder ein Foto ganz nach meinem Geschmack – trotz der technischen Mängel. Der Dürkopp spielt hier nur eine Nebenrolle, wie übrigens ein weiterer Tourenwagen am linken Bildrand, den ich bei anderer Gelegenheit vorstellen will.

Doch das eigentlich Faszinierende sind hier die Arbeiter aus der Werkstatt und die Angestellten aus der Verwaltung der Chemnitzer Großgaragen GmbH, die zum Fototermin zusammengekommen sind, sich aber sonst eher selten begegnet sein dürften.

Die Wartung und Reparatur Ihres Wagens wäre bei den Männern auf der linken Seite in besten Händen gewesen, während Sie hinsichtlich der Details einer Inzahlungnahme und des Kauf eines Neufahrzeugs auf der rechten Seite einen Partner gefunden hätten.

Das ist alles sehr schön anzuschauen und gibt Anlass zu vielfältigen Überlegungen.

Doch sind wir dem Fund des Monats auf der Spur, daher können wir nicht länger in der Großgarage Chemnitz verweilen (Kommentare dazu sind natürlich wie immer willkommen).

Auch vom Dürkopp-Vierzylindertyp P nehmen wir Abschied, nicht jedoch ohne an ein schönes Exemplar zu erinnern, das wohl aus der späten Produktion stammte, als die Luftschlitze schmaler und dafür zahlreicher wurden:

Dürkopp-Tourenwagen, wohl Typ P8A 8/32 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Prägen Sie sich bitte die Proportionen dieses Fahrzeugs ein – insbesondere das Verhältnis von Haubenlänge zum Fahrgastraum.

Auch der Platz, den die Luftschlitze in der Motorhaube beanspruchen, die Position des Ersatzrads und der Durchmesser der Bremstrommeln an der Hinterachse sind Anhaltspunkte, der uns bei der Beurteilung des Dürkopp helfen werden, um den es geht.

Dabei handelt es sich trotz der eher nüchternen Umgebung um ein veritables Prachtexemplar, aufgenommen im August 1928:

Dürkopp-Tourer, wohl Typ P12 12/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die enorme Länge des Vorderwagens, die eine Anbringung des Ersatzrads ermöglicht, ohne dass dafür eigens eine Mulde im Vorderkotflügel erforderlich war, spricht aus meiner Sicht stark für einen Reihensechszylinder, der wesentlich mehr Länge beanspruchte.

Dafür kommt nach meinem Kenntnisstand nur das von 1922 bis 1926 gebaute Modell P12 mit 12/45 PS-Motor in Betracht. Dessen Radstand lag mit gut 3,40 Metern deutlich über dem der parallel gebauten Vierzylindertypen P 8 und P10.

Leider ist die Reifengröße auf dieser Aufnahme nicht zu erkennen, sonst ließe sich meine These auch anhand der wesentlich größeren Abmessungen (895 x 135) überprüfen.

Mit seinen 45 PS aus 3,1 Litern Hubraum war der Dürkopp P12 offenbar vor allem auf schaltfaules Fahren in allen Situationen getrimmt, während die Höchstgeschwindigkeit lediglich 80 km/h betrug.

Generell scheint sich Dürkopp antriebstechnisch bewusst auf der konservativen Seite bewegt zu haben. Das wurde zumindest aus Sicht des damaligen Betrachters durch die eindrucksvolle Optik aufgewogen.

Mit einem solchen Dürkopp-Sechszylinderwagen bewegte man sich in ähnlichen Sphären wie mit dem Benz 11/40 PS, der ebenfalls über einen Sechszylindermotor verfügte. Leider konnte ich nicht in Erfahrung bringen, ob der Dürkopp günstiger war.

Ich vermute aufgrund der Benz-ähnlichen Optik, dass die Bielefelder Marke mit diesem Modell bewusst im Revier der Konkurrenz zu wildern gedachte. Da die heute vorgestellte Aufnahme die erste mir bekannte ist, die sehr wahrscheinlich einen Dürkopp-Sechszylinder zeigt, wird sich der Erfolg aber in engen Grenzen gehalten haben…

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Wird erst richtig rund mit Zubehör: Hanomag 2/10 PS

Der Einstieg des Maschinenbauers Hanomag in die Automobilfertigung anno 1924 mit dem Kleinstwagen 2/10 PS war ein kühner Schritt.

Doch nicht weil es an Interesse an einem möglichst preisgünstigen Automobil am deutschen Markt mangelte, sondern aufgrund des Konzepts, für das man sich entschied.

Preislich war der Hanomag 2/10 PS unschlagbar – soweit ich weiß gab es damals keinen billigeren Serienwagen hierzulande. Für 2.650 Mark war der offene Zweisitzer 1925 zu bekommen, selbst der kleinste Opel kostete damals tausend Mark mehr.

Da Opel bereits ein Jahr zuvor die Fließbandfertigung gestartet hatte, stellt sich die Frage, wie der Neuling Hanomag es schaffte, den Preis des Opel 4 PS-Typs so drastisch zu unterbieten.

Die Antwort ist einfach: Indem man ein Primitivgefährt mit lärmendem Einzylindermotor ohne Anlasser auf die Kundschaft losließ, welches zugleich auf eine Karosserie im klassischen Sinne verzichtete.

Auf den pontonförmigen Unterbau ohne Kotflügel montierte man bei der geschlossenen Version einen aquariumsartigen Kasten, in dem sich für maximal zwei Insassen Platz fand. Entsprechend wenig begeistert wurde einst für diese Aufnahme posiert:

Hanomag 2/10 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Für das von seinen Entwicklern als Beitrag zur Volksmotorisierung geplante Vehikel entschieden sich zwischen 1925 und 1928 rund 0,25 Promille der Deutschen – knapp 16.000.

Natürlich war der Anteil der potentiellen Autofahrer hierzulande ohnehin verschwindend gering, doch zeigt das Rechenbeispiel, dass von einer oft behaupteten „Popularität“ des Hanomag 2/10 PS keine Rede sein kann.

In der Lebenswelt der allermeisten Menschen im Deutschland der Zwischenkriegszeit, in dem nicht einmal die so wichtige Landwirtschaft nennenswert mechanisiert war, spielten Automobile praktisch keine Rolle – allenfalls als bestauntes Kuriosum am Rande.

Letztlich blieb selbst der minimalistische Hanomag 2/10 PS ein Spielzeug einer hauchdünnen Schicht, und ich vermute, dass die Käufer eher Nonkonformisten waren, die das Kleingeld für den durchaus provokant gestalteten Wagen hatten:

Hanomag 2/10 PS: Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Dame mit Hund, die uns hier kess zulächelt, während sich die Herren irgendwo im Raum Berlin für eine vergnügliche Ausfahrt mit diversen Kraftfahrzeugen fertigmachen, dürfte kaum eine Akkordarbeiterin oder Magd auf dem Bauernhof gewesen sein.

Wer sich damals einen Hanomag 2/10 PS in der geschlossenen Version zulegen wollte, musste dafür mehr als das zweieinhalbfache Brutto-Jahreseinkommen eines angestellten Durchschnittsverdieners (1925: 1.469 Reichsmark) aufbringen!

Schon daran wird ersichtlich, dass es für den Hanomag 2/10 PS in der Breite der deutschen Bevölkerung keinerlei Markt geben konnte.

Wenn es in der Literatur heißt, der als seinerzeit als rollender Kohlenkasten oder Kommissbrot verspottete Wagen sei schlicht „zu visionär“ oder „seiner Zeit voraus“ gewesen, heißt das auf gut deutsch bloß: „an der Marktrealität vorbeikonstruiert“.

Doch will ich heute nicht allzu streng mit dem Hanomag 2/10 PS ins Gericht gehen, denn immerhin gelang es den Hannoveranern später, durchaus überzeugende – und das heißt unter anderem auch familien- und alltagstaugliche – Wagen zu bauen.

Vielleicht ist Ihnen auf dem obigen Foto aufgefallen, dass der dort abgebildete Hanomag 2/10 PS statt der serienmäßigen Speichenräder scheinbar Scheibenräder besitzt.

Das täuscht indessen, handelt es sich dabei nämlich um ein Zubehör, welches mir bei der Durchsicht einer Reihe weiterer Fotos aufgefallen ist.

Dass Fahrer eines Hanomag 2/10 PS keine armen Schlucker waren – die gingen im Deutschland der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu Fuß oder fuhren Rad – haben wir bereits hergeleitet.

So war nach dem Erwerb eines solchen Wagens oft noch das nötige Kleingeld für ein hübsches Extra drin, welches den von vorn wie hinten wie ein Brotlaib daherkommenden Hanomag endgültig zu eine runden Sache machte:

Haomag 2/10 PS Sport-Zweisitzer; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Diese Aufnahme zeigt meines Erachtens den von mir ansonsten ungeliebten Hanomag 2/10 PS von seiner besten Seite – als offenen Zweisitzer mit Türausschnitt nach Roadster-Manier.

Der braungebrannte Insasse scheint auch ausgesprochen zufrieden mit seinem Solarium auf vier Rädern gewesen zu sein. Dazu mögen die erwähnten Scheiben auf den Rädern beigetragen haben, die den Wagen hier halbwegs wie aus einem Guss erscheinen lassen.

Diese dürften aus Aluminium bestanden haben, waren somit leicht und sorgten bei Verzicht auf eine Lackierung auf einen Glanzeffekt, welcher dem Gefährt ab Werk ansonsten abging.

Man muss allerdings sagen, dass auch dieses hübsche Zubehör im Fall der geschlossenen Version am ernüchternden bis verstörenden Erscheinungsbild des Wagens wenig änderte:

Hanomag 2/10 PS, geschlossener Zweisitzer, aufgenommen 1929, Dahlener Heide bei Leipzig; Originalfoto: Martin Hothmann (Dessau)

Reizvoll ist die Aufnahme gleichwohl, was der ungewöhnlichen Perspektive von schräg hinten und der geschickten Einbeziehung des menschlichen Elements zu verdanken ist, das ich auf historischen Fotos gleich welcher Automobile schätze.

Nun könnte einer meinen, dass wir es hier mit Scheibenrädern zu tun haben, wie sie sich an späteren Hanomag-Modellen finden. Doch tatsächlich waren dies Zierblenden auf den originalen Speichenrädern, die offenbar ein populäres Zubehör waren.

Den Beweis dafür kann ich mittels dieser Aufnahme führen, welche ich Leser Klaas Dierks verdanke:

Hanomag 2/10 PS, offener Zweisitzer; Originalfoto: Klaas Dierks

Diese Aufnahme lässt keine Wünsche offen – so wird selbst ein simpler Hanomag 2/10 PS zu einem spannenden Botschafter aus längst vergangener Zeit.

Ein einziges Foto kann ein komplexes Geschehen wiedergeben, das sich über einige Zeit erstreckt, wenn man im richtigen Moment auf den Auslöser drückt. Ich schätze, das hat hier die Begleiterin des Herrn getan, der nach einem Reifendefekt aktiv wurde.

Beide Insassen haben ihre Reisemäntel abgelegt, nebenbei ein Hinweis darauf, dass der im Heck befindliche Motor bei kühleren Temperaturen keinerlei Wärme in den Innenraum abgab, wie das bei einem Frontaggregat der Fall ist.

Die scheibenförmige Blende des linken Vorderrads ist demontiert, sie liegt auf dem Boden hinter dem Herrn, der mit der damals üblichen Handpumpe Luft in den vor ihm liegenden Reifen befördert.

Doch warum tut er das eigentlich? Das Rad vorne links – vermutlich das vom Heck abmontierte Ersatzrad – sieht intakt aus, während es wenig Sinn ergibt, das defekte Rad neu aufzupumpen zu versuchen. Hat jemand eine Erklärung für die Situation?

Für mich bleibt als Fazit: Wirklich populär kann der Hanomag 2/10 PS nicht gewesen sein, doch ein spezielles Zubehör war es offensichtlich…

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Höllenfahrt mit Hindernissen: Mercedes-Benz 8/38 PS

Heute kehre ich wieder einmal zum Mittelklasse-Typ 8/38 PS zurück, mit dem Mercedes-Benz ab 1926 einen neuen Kundenkreis zu beglücken gedachte.

In der zeitgenössischen Werbung war man war sich seiner Sache absolut sicher, dass der 8/38 PS die berechtigten Erwartungen an einen Mercedes erfüllen würde:

Mercedes-Benz 8/38 PS; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Die Wirklichkeit sah zunächst leider anders aus (Quelle dazu: Halwart Schrader, Mercedes-Benz Automobile, Band 1, Heel-Verlag, ab S. 42).

So musste der Hersteller Lehrgeld in Millionenhöhe zahlen, da der neue kompakte Sechszylinder (2 Liter) den Käufern allzuoft Ungemach bereitete. Darüber habe ich bereits in einem früheren Blog-Eintrag berichtet (hier).

Nach vielen Nachbesserungen bekam man die zahlreichen Probleme in Griff und der Wagen mauserte sich. Diese zufriedene Kundin hätte damals durchaus das Titelblatt einer Werbebroschüre zieren können, wäre das Foto nicht so unscharf geraten:

Mercedes-Benz 8/38 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Spätestens in der deutlich verbesserten Version „Stuttgart 200“ ab 1928 war das Auto dann ausgereift – sodass am Ende ein achtbarer Erfolg zu verzeichnen war.

Die kostspielige Höllenfahrt für Daimler-Benz und seine Aktionäre fand einst eine kuriose Analogie, die ich heute dokumentieren darf.

So machten sich im August 1930 die Besitzer eines Mercedes-Benz 8/38 PS ganz im Vertrauen auf die Qualitäten ihres Wagens auf nach „Höllenthal“ – vermutlich im Grenzland zwischen Bayern und Franken.

Auf der Rückseite dieses Abzugs ist es jedenfalls so von alter Hand vermerkt:

Mercedes-Benz 8/38 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Doch unterwegs gab es eine Panne, das wurde ebenfalls notiert. Nun kommt das Kuriosum: Das Wasser habe gekocht, allerdings steht auf dem Foto „Kaffeewasser“, nicht Kühlwasser.

Für die Interpretation gibt es verschiedene Ansätze: Entweder jemand hat sich aus Versehen im Gedanken an einen Kaffee einen solchen Lapsus geleistet. Oder ein Spaßvogel hat kochendes Kühlwasser kurzerhand zu Kaffeewasser umgewidmet.

Eine dritte – eher abwegige – Möglichkeit wäre, dass jemand an Bord versuchte, einen Kaffee mit einem Campingkocher oder ähnlichem zu fabrizieren, was gründlich daneben ging und einen außerplanmäßigen Halt erforderte.

Weitere Ideen sind willkommen, – Hauptsache, Mercedes war nicht auch noch an diesem Missgeschick auf dem Weg ins Höllenthal schuldig, mit welchem die Firma ausgiebig Erfahrung gesammelt hatte, nachdem sie ihre Kunden mit einem unausgereiften Fahrzeug als Versuchskaninchen missbraucht hatte.

Übrigens erinnert mich dieses schöne Dokument wieder einmal an mein Vorhaben, dereinst einen Blog-Eintrag zum Thema „Vorkriegshunde und ihre Autos“ zu verfassen…

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Verdeckter Mangel enthüllt! BMW 315 Vierfenster-Cabrio

Zwar besitze ich selbst das eine oder andere Vorkriegsgefährt mit zwei und vier Rädern, doch über Erfahrung mit BMWs jener Zeit verfüge ich bislang noch nicht.

Meine BMW-Erlebnisse beschränken sich auf den gebrauchten Sechszylinder-Wagen, den ein Studienkollege Anfang der 1990er Jahre fuhr.

Von der betörenden Laufkultur und Kraftentfaltung dieser Motoren wissen inzwischen viele Zeitgenossen nichts mehr, welche mit hubraumarmen, aufgeladenen Drei- und Vierzylindern sozialisiert wurden. Aber was man nicht kennt, vermisst man auch nicht.

Was die Sechszylinder-Modelle von BMW aus den 1930er Jahren angeht, bin ich auf die Einschätzungen in der Literatur angewiesen. In dem Zusammenhang sei auf ein 2022 neu erschienenes Buch verwiesen, das neben mir liegt, während ich diese Zeilen schreibe:

„BMW 1929 bis 1945“, von H. Nyncke, R. Simons und W. Zeichner, Verlag GeraMond

Dabei handelt es sich um das Werk, welches den lange ersehnten Anschluss an „Entwicklungsgeschichte der BMW-Automobile von 1918-32“ von R. Simons und W. Zeichner darstellt.

Wer beim aufgerufenen Preis zunächst schluckt, wird auf über 400 Seiten reich entlohnt: Die enorme Bilderfülle, die drucktechnische Qualität und die Gestaltung suchen ebenso ihresgleichen wie der gefällige und zugleich von überragender Sachkunde zeugende Text.

Einen verdeckten Mangel konnte ich nach erster Durchsicht an diesem Schwergewicht der neueren Literatur zu deutschen Vorkriegswagen beim besten Willen nicht entdecken.

Im Gegenteil legen die Verfasser die Latte sehr hoch für alle, die seit langem eine Monografie zu deutschen Vorkriegsmarken abliefern könnten, aber entweder nicht fertigwerden oder gehemmt von „German Angst“ erst gar nicht anfangen.

So muss ich mich heute – was einen verdeckten Mangel in Sachen Vorkriegs-BMW angeht – auf das folgende Foto beschränken, welches ich dieser Tage frisch erworben habe:

BMW 315 Vierfenster-Cabriolet: Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die auf sechs Felder verteilten und mit einer waagerechten Zierleiste akzentuierten Luftschlitze in der Motorhaube finden sich nur an frühen Exemplaren des 1934 eingeführten BMW 315.

Dieser besaß einen gegenüber dem Vorgängermodel 303 aufgebohrten (1,5 Liter) und auf 34 PS erstarkten Sechszylinder mit kopfgesteuerten Ventilen, dem eine außergewöhnliche Drehfreude zugeschrieben wird.

In Verbindung mit dem Wagengewicht von etwas mehr als 800 kg war damit eine achtbare Beschleunigung möglich, das Spitzentempo betrug 100 km/h.

Die BMW-Freunde mögen es mir verzeihen, aber so fürchterlich spritzig erscheint das in der Papierform letztlich nicht. Der Sechszylinder-Fiat 1500 leistete ab 1935 bei identischem Hubraum satte 45 PS und war für eine Höchstgeschwindigkeit von 115 km/h gut.

Aber bleiben wir beim BMW 315, dessen Hersteller anno 1934 in Sachen PKW-Bau noch in die Lehre ging, während Fiat jahrzehntelange Erfahrung vorweisen konnte.

Formal betrachtet lässt sich an der Frontpartie des BMW nur wenig aussetzen:

Die Doppelniere am Kühler steht dem Wagen ebenso gut wie die vollverchromten tropenförmigen Scheinwerfer.

Etwas grob und fremd wirken dagegen die Luftschlitze. Die Idee, sie in Anlehnung an die Zylinderzahl auf sechs Gruppen zu verteilen, ist nicht schlecht. Doch erscheinen diese wie aufgesetzt und ihre Neigung entspricht nicht der dynamischen Ausrichtung anderer Elemente wie der Türvorderkante und der Frontscheibe.

Später wurden die Luftschlitze am BMW 315 horizontal ausgerichtet, was stimmiger wirkte.

Wirklich beanstanden muss man an dem Exemplar indessen einen ganz anderen Mangel, welcher im übertragene Sinne „verdeckt“ war. Er betraf nämlich die schlampige Handhabung des niedergelegten Verdecks:

Während die Damen sich um die Aufmerksamkeit des Fotografen bemühen, entgeht dem Beobachter nicht, dass beim Niederlegen des Verdecks etwas schiefgelaufen sein muss.

Ich weiß nicht, wie man es hinbekommt, das Verdeck so liederlich herabhängen zu lassen und gleichzeitig das Gestänge so hochaufgetürmt zu lassen, dass man nach hinten nichts sieht.

Könnte das ein „verdeckter“ Mangel gewesen sein, dass man beim Öffnen des Verdecks des BMW 315 unbeabsichtigt ein solches Ergebnis zustandebringen konnte?

Jedenfalls erscheint es nach dem Eindruck, den dieses Foto hinterlässt, keine gute Idee, die dem BMW 315 zugeschriebene sportliche Note im offenen Zustand zu erproben…

Vielleicht hat ja ein sachkundiger Leser eine Idee, wie sich im Fall eines solchen „Verdeck“ten Mangels an einem BMW 315 hätte Abhilfe schaffen lassen…

Nachtrag: Rainer Simons (Co-Autor des oben erwähnten BMW-Buchs) liefert mir noch folgenden Hinweis:

Alle Limousinen, Cabriolmousinen und Rolldach-Limousinen der BMW-ypen 303, 309, 315 und 319 wurden bei Daimler Benz in Sindelfingen karossiert, alle zwei- und viersitzigen „Werks-Cabriolets“ dagegen anfänglich bei Reutter, später aus Kapazitätsgründen in Eisenach mit Zulieferung einzelner Komponenten von Reutter. Einzige Ausnahme von dieser Trennung waren die Tourenwagen, die zwar in Sindelfingen gefertigt wurden, aber stilistisch mit vorne angeschlagenen Türen dem ursprünglichen Reutter Entwurf folgten.

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Funktion UND Eleganz: Stoewer V5 Sport-Cabriolet

Mit dem 1. Weltkrieg endet in Deutschland die kurze, aber enorm fruchtbare Epoche des Jugendstils.

Ein letztes Mal – zumindest aus vorläufiger Sicht – hatten der Natur entlehnte organische Formen die Gestaltung von Bauten und Alltagsgegenständen bestimmt. Auch in weiten Teilen des Habsburgerreichs dominierte dieser variantenreiche Stil bis 1914.

Es ist eine Ironie der Geschichte, dass in Deutschland, das zu den Zentren des Jugendstils in Europa zählte, danach ein Absturz in den Funktionalismus stattfand, der aus meiner Sicht bis heute die deutsche Seele beherrscht und verheert.

Dass nach dem verlorenen Krieg und angesichts der Belastung der Volkswirtschaft durch die maßlosen Auflagen des Versailler „Vertrags“ lange Zeit rein praktische Erwägungen das Alltagsleben der meisten Bürger bestimmen würden, liegt auf der Hand.

Doch unabhängig davon kam eine elitäre Bewegung auf, die den Funktionalismus in allen Gestaltungsfragen zur Doktrin erhob und dabei das menschliche Bedürfnis nach Ornament, Gefälligkeit und Gemütlichkeit rücksichtslos als überholt abtat.

Nicht durch die Funktion eines Baus oder Gegenstands gebotene Gestaltungselemente als überflüssig, ja falsch abzutun, das war Ausfluss keiner Kunstrichtung mehr, sondern einer Ideologie, die meist zu menschenverachtenden Ergebnissen geführt hat.

Ein frühes Beispiel dafür ist die von Technokraten erfundene „Frankfurter Küche“, welche zum sinnenfeindlichen deutschen Konzept der „Sättigungsbeilage“ passt. Dasselbe gilt für die von den Bauhäuslern ersonnenen gesichtslosen Massenquartiere.

Dieser radikale Bruch mit allen historischen Gestaltungstraditionen ist mitverantwortlich für das desolate Erscheinungsbild vieler unserer Städte. Noch 100 Jahre nach dem Bauhaus strahlen einem zwanghaften Kubismus entsprungene Neubauquartiere die immerselbe Tristesse aus.

Man muss sich dieses radikal-nüchternen Trends in den 1920ern Jahre bewusst sein, um das Aufleben der Sehnsucht nach der schönen Form in den 30er Jahren würdigen zu können.

Zur Illustration möchte ich nicht auf eine perfekte Werksaufnahme oder das Foto einer auf Hochglanz gebrachten Karosse verweisen, sondern auf diese Momentaufnahme einer Landpartie in den späten 1930er Jahren:

Steyr 530 und Horch 853; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ich hätte bei dieser Situation auch den Horch 853 auf der rechten Seite in den Vordergrund rücken können, denn ich besitze zwei aus unterschiedlichen Perspektiven geschossene Fotos der beiden Autos.

Doch da ich mit den in Deutschland gern übersehenen österreichischen Premium-Automobilen der Vorkriegszeit sympathisiere, soll hier der verschmutzte Steyr 530 mit Gläser-Karosserie mein Argument unterstützen, dass es in den 30er Jahren im Automobilbau zu einer Renaissance der reinen Schönheit kam, die schwer zu erklären ist.

Die Lust an der eleganten Form manifestierte sich damals sogar an der schwierigsten Partie des Autokörpers – dem Hinterteil. Hier haben wir ein Beispiel dafür, wobei ich keine Ahnung habe, mit was für einem Wagen wir es dabei zu tun:

unbekanntes Cabriolet, aufgenommen in Dortmund; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die der vermögenden Oberschicht vorbehaltene neue Lust an der puren Eleganz – gern auch auf Kosten der Praxistauglichkeit – lässt sich sogar an einem Wagen eines Herstellers veranschaulichen, welcher einer ewaigen Neigung zum Exzess denkbar unverdächtig war.

So entstand auf Basis des vor allem für seine Robustheit geschätzten, ansonsten konventionell gestalteten Typs „Sturm“ (evtl. auch „Rekord“) des Maschinenbaukonzerns Hanomag einst dieser hinreißender Roadster mit extrem flacher Frontscheibe:

Hanomag „Sturm“ Roadster; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Übrigens ist bis heute unklar, wer diese Spezialkarosserie gebaut hat. Leider sind nicht alle Blechkünstler jener Zeit (und den Begriff meine ich ernst) so perfekt dokumentiert wie die Manufaktur von Gläser aus Dresden etwa.

Man könnte stundenlang so weitermachen, doch eigentlich soll es heute ja um den Typ V5 von Stoewer gehen.

Dieser Wagen ist nun einerseits ein Beispiel für reinen Funktionalismus, jedenfalls in der Ende 1930 vorgestellten ursprünglichen Form. Stoewer gelang es damit, den ersten deutschen Frontantriebswagen auf den Markt zu bringen:

Stoewer V5 von 1931; Originalfoto aus Sammlung Helmut Kasimirowicz (Düsseldorf)

Mit seinem immerhin 25 PS leistenden und 1,2 Liter messenden Vierzylinder konventioneller Bauart und dem Frontantrieb repräsentierte der Stoewer V5 zunächst eine rein technologische Entwicklungsstufe.

Dass es dem Nischenproduzenten aus Stettin gelang, diesen Coup kurz vor den Großserienherstellern DKW und Adler zu landen, unterstreicht die Wichtigkeit kleiner innovativer Wettbewerber in einem Markt, an dem es sich gern große Anbieter gemütlich machen.

In Deutschland gibt es diese gesunde Konkurrenz längst nicht mehr, doch Anfang der 1930er war das trotz der brutalen Auslese der späten 1920er Jahre noch anders.

Stoewer machte damals aber nicht nur mit neuen funktionellen Lösungen von sich reden, sondern vermochte auch wiederholt mit Spezialausführungen zu brillieren, die einen ganz eigenen Charakter besaßen und doch als elegant wahrgenommen wurden.

Eine Version des Stoewer V5 repräsentierte diese Balance aus Funktion und Eleganz besonders vollkommen – das vom Hersteller selbst entworfene Sport-Cabriolet:

Stoewer V5 Sport-Cabriolet von 1932; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser rasant wirkende, sehr niedrig gehaltene Wagen wurde im Juni 1932 von seinen neuen Besitzern im Stoewer-Werk in Stettin abgeholt und auf eigener Achse nach Hause gefahren – ins 850 km entfernte Karlsruhe.

Obiges Foto zeigt den Wagen auf einem Halt unterwegs mit einem ziemlich mitgenommenen Überführungskennzeichen. Hinter der Stoßstange unterhalb des Kühlergrills sehen wir die noch unbeschriftete weiße Nummernschildfläche.

Dass wir es hier mit einem Fronttriebler zu tun haben, würde man kaum denken – fällt Ihnen ein modernes Auto mit Vorderradantrieb ein, das wie ein klassischer Sportwagen wirkt?

Das oben gezeigte Stoewer V5 Sport-Cabriolet kam jedenfalls glücklich in seiner neuen Heimat im Badischen an und nahm nur kurze Zeit später – Anfang Juli 1932 – am berühmten Concours d’Elegance in Baden-Baden teil, der damals als „Automobil-Turnier“ firmierte:

Stoewer V5 Sport-Cabriolet von 1932; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sehen wir den Wagen nun mit geschlossenem Verdeck und dem offiziellen Nummernschild, daneben die uns schon bekannte Insassin.

Was meinen Sie, welchen Platz der Stoewer bei dem Schönheitswettbewerb errungen hat? Nun, den ersten natürlich, so ist es jedenfalls auf der Rückseite des Fotos vermerkt.

Dank Leser Joachim Ade, der eine Originalbroschüre dieser Veranstaltung besitzt, wissen wir, dass sich der Sieg auf die Kategorie „2-3-sitzige Cabriolets bis 1500ccm Hubraum“ bezog.

Bei den damaligen Concours-Veranstaltungen stand der überzeugende ästhetische Auftritt – übrigens auch der Besitzer – im Vordergrund. Im vorliegenden Fall war dies Frau Ministerialrat Schwarz aus Karlsruhe, wie die Broschüre von Joachim Ade verrät.

Die Funktion des Wagens war bei solchen Wettbewerben uninteressant und durfte im Fall einer Traditionsmarke wie Stoewer als über jeden Zweifel erhaben vorausgesetzt werden.

So verbinden sich am Ende unauffällige, zeitgemäße Funktion mit einer eleganten und zugleich charakterstarken äußeren Form. Davon brauchen wir im tristen Deutschland dieser Tage dringend mehr – und das nicht nur in punkto Autogestaltung.

Vielleicht erleben wir noch einmal eine Renaissance der Balance aus unauffälliger Funktion und sinneverwirrender Ästhetik wie auf dieser Aufnahme, die ich bei den Classic Days 2017 auf Schloss Dyck machte:

Horch 853 auf Schloss Dyck 2018: Bildrechte Michael Schlenger

Die grandiosen Fahrzeuge der 1930er Jahre verdienen aus meiner Sicht (und etlicher Kritiker der Neuauflage der Classic Days 2022) künftig wieder eine Kulisse wie diese, welche sich in der kulturell reichen Niederrhein-Region doch finden lassen sollte – wenn man es will.

Dazu muss jedoch der Veranstalter verstehen, dass ein Parkplatz in der Einflugschneise des Düsseldorfer Flughafens rein funktionell betrachtet Vorteile haben mag, aber indiskutabel ist, was ein würdiges Ambiente für solche Kunstwerke auf vier Rädern angeht.

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Cooler Moment am Gletscher: Austro-Daimler AD 6-17

Gletscher kommen und gehen seit Jahrtausenden – warum das so ist, weiß niemand. Schon früh im 19. Jahrhundert – also lange, bevor Verbrennungsmaschinen weltweit in großem Stil zum Einsatz kamen – begannen sich beispielsweise die Alpengletscher zurückzuziehen.

Bis heute hält diese Bewegung an und das schmelzende Eis gibt preis, was einst von vordringenden Gletschern begraben wurde – Wälder, Weideflächen, Siedlungsreste.

Es war also wiederholt so warm wie in unseren Tagen, nämlich während der Klimaoptima der Antike und des Hochmittelalters, die zugleich kulturelle Blütezeiten waren.

Zwischendurch flehten die Bewohner der Alpen zu ihrem Gott, dass er das Vordringen des Eises und der Kälte abwehren möge. Letztlich ist das, was wir als Trend wahrzunehmen meinen, nur Momentaufnahme eines größeren Geschehens, welches wir nicht verstehen.

Während wie in unaufgeklärten Zeiten Profiteure der Panik wieder heißlaufen, gilt es für abgeklärte Zeitgenossen, die über den Tellerrand des Hier und Jetzt hinausschauen, cool zu bleiben.

Für den Automobilisten gab und gibt es letzlich nur Wetter und allein dessen Vohersage bereitet schon über zwei, drei Tage oft genug Schwierigkeiten. Der Angsthase und Pessimist schwört von jeher auf den geschlossenen Wagen, der Mutige und Optimist auf den offenen.

Wir schließen uns heute der letztgenannten Fraktion an und machen uns auf den Weg ins Gebirge, auf der Suche nach Abkühlung. Dabei begleitet uns ein alter Gefährte – der AD 6-17 von Austro-Daimler.

Austro-Daimler AD 6-17; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Dieses schon von den Dimensionen her eindrucksvolle Fahrzeug war die erste Neukonstruktion der österreichische Marke nach dem 1. Weltkrieg, entwickelt von niemand Geringerem als Ferdinand Porsche.

Der 1920 vorgestellte Wagen besaß ein Sechszylinderaggregat mit 4,4 Litern Hubraum und 60 PS, der Ventiltrieb mit obenliegender Nockenwelle und Königswelle war vom Feinsten.

Doch auch solch ein Gefährt der Oberklasse war damals noch empfindlich, was Überhitzung bei längeren Bergpassagen mit niedrigem Tempo angeht. Die größere Last bei anhaltenden Steigungen ließ das Kühlwasser irgendwann an den Siedepunkt gelangen.

Dann legte man einen Halt ein, um dem Fahrzeug Gelegenheit zur Abkühlung zu geben – das ließ sich trefflich mit einem Beweisfoto verbinden wie hier:

Austro-Daimler AD 6-17; Ausschnitt aus einer Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Der Blick der Kamera hat hier aber nicht nur den Austro-Daimler festgehalten, welchem für einen Moment Kühlung gegönnt wird, bevor es an die nächste Kehre geht.

Im Hintergrund droht zugleich auch ein Ungetüm des kalten Grauens – die Zunge eines Gletschers, welche im ungünstigten Fall alles Leben unter sich begräbt, im günstigeren Falle jedoch neuem Leben Raum gibt.

Der Mensch ist gut beraten, Demut zu zeigen angesichts der Dimensionen solcher Naturphänomene, von deren gewaltiger Dynamik er bis heute so gut wie nichts versteht.

Wie klein wir gegenüber diesem Geschehen sind, das illustriert die Originalaufnahme aus meiner Sammlung sehr gut, welcher ich obigen Ausschnitt entnommen habe.

Mit einem Mal erscheint das eben noch so mächtige Automobil wie ein Spielzeug:

Austro-Daimler AD 6-17; Originalpostkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Neben der grandiosen Kulisse, auf die ich gleich zu sprechen komme, ist hier die Fortsetzung der „Straße“ am rechten Bildrand bemerkenswert: So stellten sich die Wegeverhältnisse für Autofahrer im Alpenraum vor 100 Jahren vielerorts dar.

Nun aber zum Aufnahmeort. Auf dieser als Postkarte veröffentlichten Aufnahme fand sich der lapidare Zusatz „Glocknerstraße“. Damit ist die damals noch kaum befahrene Großglockner-Hochalpenstraße gemeint.

Nach kurzer Recherche würde ich sagen, dass dieses Foto von Südosten mit Blick auf den Pasterzegletscher am Fuß des Großglockners aufgenommen wurde.

Seit dem Halt des Austro-Daimlers vor fast 100 Jahren, welcher dem Wagen einen Moment der Abkühlung verschaffte, hat sich der Gletscher um einiges weiter zurückgezogen. Das tat er allerdings bereits, als es noch gar keine Verbrennungsmotoren gab und global betrachtet nicht einmal die Kohleverbrennung eine nennenswerte Rolle spielte.

Machen wir es daher wie einst die Insassen des Wagens, die am Pasterzegletscher haltmachten, welcher noch zu Zeiten ihrer Urgroßeltern weit größer und bedrohlicher war:

Gönnen wir uns einen Moment kühlen Innehaltens und fragen uns, welchen Anteil wir Menschenzwerge am gigantischen Geschehen der Natur wirklich haben können.

Und wenn dann partout einer die Katastrophe herbreireden will, weil doch seit damals so viel mehr Autos unterwegs sind und Energie verbraucht wird, fragen wir ihn, a) ob jemals in unseren Städten in den letzten 100 Jahren die Qualität von Luft und Wasser so gut wie war heute, und b) in welcher Zeit seit der Sesshaftwerdung des Menschen er eigentlich lieber leben möchte, wenn es doch heute so fürchterlich gefährlich ist.

Bei kühler Betrachtung werden wir feststellen: Wir leben über alle Aspekte des Daseins betrachtet in der besten aller Welten und haben dank moderner Technologie erstmals in der Geschichte Zugriff auf alles Großartige, was Menschen jemals irgendwo auf der Welt geschaffen haben, und das in vielen Fällen nahezu kostenlos.

Wie cool ist das denn!?

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Den gab’s nur als Zweisitzer: Fafnir Typ 266

Sonderlich inspiriert ist der Titel meines heutigen Blogeintrags nicht – auch der Sprachwitz muss mal Urlaub machen. Aber wie immer entspricht er der Wahrheit, und heute ganz besonders.

Auch wenn der Aufmacher etwas müde daherkommt, lohnt es sich, wach zu bleiben.

Zum einen ist es immer etwas Außergewöhnliches, wenn ich ein Originalfoto eines Wagens des Aachener Herstellers Fafnir präsentieren kann. Ab 1908 fanden diese einige Verbreitung, doch heute sind nur noch einige wenige Exemplare erhalten.

Zum anderen haben wir heute den Fall, dass die Identifikation des Typs ungewöhnlich leichtfällt. Da Fafnir-Wagen stets in mehreren Motorisierungen angeboten wurden, lässt sich bestenfalls anhand des unterschiedlichen Radstands vermuten, womit genau man es zu tun hat.

Es gibt allerdings eine Ausnahme und die findet sich in der Fotosammlung von Matthias Schmidt (Dresden):

Fafnir Typ 266 von ca. 1913; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Den Hersteller hatte Matthias Schmidt bereits selbst anhand von anderen Abbildungen zutreffend bestimmt.

Den entscheidenden Hinweis gibt dabei die Gestaltung der oberen Kühlerpartie.

Doch auch auf den ersten Blick weniger charakteristische Details wie die Drahtspeichenräder, die leicht ansteigende Haube mit dem noch steileren „Windlauf“ vor der Frontscheibe passen zu Fafnir-Wagen von 1912 und 1914.

In dieser Zeit bot Fafnir seine äußerlich ähnlich daherkommenden, bloß unterschiedlich dimensionierten Wagen mit Vierzylindermotoren an, deren Leistung von 16 PS bis 35 PS reichten.

Die Radstände reichten dabei von 2,40 Metern bis 3,40 Metern. Auch wenn wir nicht genau sagen können, wie groß die beiden Männer in dem Fafnir auf dem Foto von Matthias Schmidt waren, wirkt der Wagen eher klein.

Einen Radstand von 3 Metern und mehr wie bei den Varianten mit 25 bzw. 35 PS darf man wohl ausschließen. Mein Favorit war von vornherein das kompakte 6/16-Modell, für das sich in der Literatur zwei Angaben zum Radstand finden: 2,70 Meter und 2,40 Meter.

Wie ich vom stets auskunftsfreudigen Fafnir-Experten Hubertus Hansmann aus Aachen weiß, wurden auf dem längeren der beiden Chassis die üblichen Tourenwagenaufbauten montiert. Dieser Wagen wurde als Fafnir Typ 466 vermarktet.

Der kürzere Radstand war einem sonst bei keinem anderen Fafnir-Typ verfügbaren Zweisitzer vorbehalten – dem Typ 266 mit identischer Motorisierung 6/16 PS.

Damit dürfte klar sein, womit wir es bei dem zweisitzigen Fafnir auf obigem Foto zu tun haben. Dieses ist übrigens von alter Hand auf 1915 datiert – und auf der Vorderseite ist außerdem vermerkt: „Wie ich zuerst aus Cöln fuhr“.

Diese Aussage wird im Zusammenhang mit dem offensichtlich militärischen Einsatzzweck des Wagens zu tun haben, dessen aufgemalte Kennung EKK 37 auf ein Kraftfahrerkorps verweisen dürfte (gewiss kann es ein sachkundiger Leser genau sagen).

Das war es schon alles, was sich ad hoc dieser offensichtlich professionellen Aufnahme abgewinnen lässt – vielleicht etwas ernüchternd, aber immer hin haben wir endlich einmal einen Fafnir, dessen Typ sich genau festnageln lässt.

Aber wer weiß: vielleicht kann Hubertus Hansmann uns doch noch etwas mehr dazu mitteilen…

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Ein Wagen für jede Jahreszeit: Auburn 851 von 1935

Noch ist Sommer – endlos scheinende Wochen praller Sonne liegen hinter uns. Ich weiß: Die Wärme ist nicht jedermanns Sache, doch ich liebe sie.

Bei über 30 Grad nutze ich jeden Vorwand für eine Beschäftigung im Freien, im Garten etwa – es geht nichts über einen mit Arbeit erworbenen Teint.

Spätnachmittags dann noch eine Runde mit dem Rad – den Rhythmus von Atem und Puls, den freien Flug der Gedanken unter blauem Himmel, die Entspannung danach genieße ich.

Da stimmen mich erste Anzeichen für einen Wetterumschwung fast ein wenig melancholisch – wir werden doch keinen vorgezogenen Herbst bekommen? Die Tage werden jedenfalls merklich kürzer, die Nächte deutlich kühler.

Vielleicht ist der skeptische Blick nach vorn auf die näherrückende kalte Jahreszeit verfrüht. Doch ist es sicher nicht verkehrt, sich rechtzeitig darauf einzustellen, und sei es nur gedanklich. Keine Sorge: heute geht es nicht um Energiesicherheit oder dergleichen.

Nein, wir spielen bloß genüsslich aus automobilistischer Sicht unterschiedliche jahreszeitliche Szenarien durch, in denen wir uns in die Mitte der 1930er Jahre zurückversetzen. Der Einfachheit halber nehmen wir dabei an, dass wir Geld wir Heu haben.

Mit letzterem dürften sich die meisten spontan anfreunden können, auch wenn hierzulande gern so getan wird, als ob Geld nicht so wichtig sei – oder gar den Charakter verderbe.

Mit dieser Einstellung hätte man Ärger mit der jungen Dame auf folgenden Foto bekommen:

Auburn 851 Phaeton von 1935; Originalfoto aus Sammlung Raoul Rainer

Diese reizvolle Aufnahme stellte mir kürzlich Raoul Rainer aus Stuttgart zur Verfügung, dessen Flickr-Fotoalbum Vintage Cars & People ich jedem ans Herz lege, der sich für historische Autofotos begeistert, auf denen das menschliche Element nicht zu kurz kommt.

Natürlich wusste er bereits, was er da für ein Prachtstück an Wagen dingfest gemacht hatte – einen Auburn des Typs 851 von 1935.

Dieser Achtzylinderwagen mit Kompressor und über 150 km/h Spitzengeschwindigkeit war das letzte Modell des 1900 in Auburn (Indiana) gegründeten Herstellers, dessen Schicksal seit 1924 eng mit dem des Marketinggenies Errett L. Cord verknüpft war.

Ein Exemplar des Auburn 851 in der Ausführung als Vierfenster-Cabriolet (vom Hersteller als „Phaeton“ bezeichnet“) gelangte damals nach Lübeck. Das verrät das Kennzeichen, das mit „O“ für das einstige Herzogtum Oldenburg beginnt, gefolgt von römisch „II“ für das einstige Fürstentum Lübeck. Diese Nomenklatur wurde bis 1945 beibehalten.

Während Raoul Rainer mit sicherem Blick das beste Foto dieses großartigen Wagens ergattert hat, konnte ich immerhin eine zweite, technisch weniger brilliante Aufnahme desselben Autos für meinen Fundus sichern.

Das vorliegende Beispiel mag illustrieren, welch schöne Ergebnisse möglich sind, wenn Sammler von Automobilia zusammenarbeiten anstatt ihre Schätze vor der Öffentlichkeit zu verbergen (bis sie im Nachlassfall in alle Winde zerstreut oder gleich entsorgt werden).

Als ich das Foto von Raoul Rainer sah, dachte ich: „Den Wagen kennst Du doch.“ So erinnerte ich mich an eine Aufnahme eines „Ami-Autos“ aus meiner Sammlung, mit der ich mich noch nicht näher beschäftigt hatte – weil die Jahreszeit mir nicht passte:

Auburn 851 Phaeton; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Zweifellos handelt es sich um eine Aufnahme desselben Wagens – welche nebenbei beweist, dass dieser damals für jede Jahreszeit als tauglich angesehen wurde.

Heute ist eine solche Situation schwer vorstellbar – die überlebenden Exemplare werden sorgsam gehütet und nur bei trockenem Wetter ausgefahren.

Anno 1935 hätte die junge Dame, die sich einst auf dem Auburn hatte ablichten lassen, dafür kein Verständnis gehabt: „Selbstverständlich fahren wir den Wagen auch im Winter, was denken Sie denn, wir haben sogar eine Heizung an Bord!“

Wie so oft fällt es schwer zu verstehen, dass ein dermaßen eindrucksvolles, leistungsfähiges und teures Automobil einfach verschwunden sein soll. Ein paar Relikte davon mag es sogar noch irgendwo geben – vielleicht die Kühlerfigur oder die Radkappen.

Doch ansonsten wird das, was einst als topmodern, ewig haltbar und für jedes Wetter gemacht erschien, irgendwann achtlos verschrottet worden sein. Die Zeiten hatten sich geändert und niemand konnte ahnen, welchen Weg die Geschichte nehmen würde.

Sicher ist nur der ewige Gang der Jahreszeiten, alles andere ist ungewiss…

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„6 Cylinder mit Boschlicht“: Adler 10/50 PS Limousine

Kürzlich durfte ich hier einen Audi „Front“ Typ 225 Luxus auf einem Foto von 1939 vorstellen, das den Einsender selbst als Bub auf der Motorhaube zeigt. Seine Reaktion auf den Blog-Eintrag fiel so aus: „Sehr schön, dass Sie den Erinnerungswert dieser Aufnahme in den Mittelpunkt gestellt haben“.

Das ist bei einem solchem Dokument auch naheliegend – das Auto wird in solchen Fällen zur Staffage und liefert lediglich den Anlass, ein wenig über vergangene Zeiten zu reflektieren. Bei Fotos ohne menschliches Element ist das meist schwieriger.

Doch selbst bei Aufnahmen, die nur das nackte technische Objekt aus maximal nüchterner Perspektive zeigen – nämlich von der Seite – kann es in seltenen Fällen geschehen, dass der Erinnerungswert beinahe das Fahrzeug überstrahlt.

Heute kann ich dank Leser und Sammlerkollege Matthias Schmidt (Dresden) genau so ein Beispiel präsentieren. Es zeigt einen Adler des Typs 10/50 PS, der 1925 auf den Markt kam.

Bislang konnte ich nur zwei Exemplare dieses Modells dingfest machen – hier das erste in Tourenwagenausführung mit niedergelegtem Verdeck, aber noch montierten seitlichen Steckscheiben, wie man das nur selten zu sehen bekommt:

Adler 10/50 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Typisch für den 10/50 PS Typ waren die serienmäßigen Drahtspeichenräder, die Vierradbremsen und Details wie das kleine vernickelte Trittschutzblech am Schweller unterhalb der Tür.

Dass ich den Wagen seinerzeit identifizieren konnte, ist einer Mischung aus Bauchgefühl und Literaturrecherche zu verdanken – so richtig wohl war mir dabei freilich nicht.

Erst eine zweite Aufnahme desselben Typs von Leser und Adler-Enthusiast Rolf Ackermann (wie ich ein Wetterauer Bub, bloß etwas reicher an Jahren) gab mir die Sicherheit, richtig zu liegen:

Adler 10/50 PS; Originalfoto aus Sammlung Rolf Ackermann

Auf diesem Dokument sehen wir genau solch einen Tourer wie zuvor, nur ist diesmal die Kühlerpartie mit dem ins Kühlernetz hineinragenden dreieckigen Adler-Emblem zu sehen.

So weit, so gut. Aber war im Titel nicht eine Limousine angekündigt?

In der Tat und das ist dann doch eine ganz andere Erscheinung, wenngleich es sich ebenfalls um einen Adler 10/50 PS handelt und das ist im vorliegenden Fall ganz gewiss:

Adler 10/50 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Ein ziemlicher Brocken, nicht wahr? Wenn jemand unter Ihnen, liebe Leser, stattliche 1,90 Meter misst, wäre er von dieser Adler-Limousine noch um 3 Zentimeter überragt worden.

Bei einem dermaßen großzügig dimensionierten Fahrzeug – einem Salon auf vier Rädern – erfasst man wieder die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs „einsteigen“ wie einst zu Zeiten, in denen die Bahn noch pünktlich war und man ein Abteil für sich genießen konnte.

Bei der deutschen Staatsbahn des 21. Jh. muss der Insasse der 1. Klasse bekanntlich mit Unzuträglichkeiten wie weiland nur Passagiere der Holzklasse rechnen, wenn etwas mal wieder ein Wagen „fehlt“ oder ein ganzer Zug „leider ausfällt“.

Vermutlich konnte man sich in den 1920er Jahren nicht vorstellen, dass der Besitz eines Automobils einen dereinst vor dem Niedergang des einst auch von mir geschätzten und durchaus als stilvoll empfundenen Transportmittels Eisenbahn schützen würde.

Doch hatte man bereits unbewusst ein Gespür für das Außerordentliche und Erhebende, welches das Automobil mit sich brachte. Es ist kein Zufall, dass es unzählige Fotos des ersten Autos gibt, das jemand sein eigen nannte.

Ähnliches ist mir von anderen praktischen Gegenständen wie Kühlschränken, Fernsehern oder PCs nicht bekannt, obwohl sie alle den Lebensalltag grundlegend veränderten.

Der besondere Rang des Automobils lag und liegt letzlich in seiner Fähigkeit, seinen Besitzer zum Herr über Raum und Zeit werden zu lassen.

Binnen eines Tages ins Gebirge, ans Meer oder irgendwo in die Wildnis zu gelangen – unabhängig von Fahrplänen und fremden Menschen – mit der Option, jederzeit wieder auf Wanderschaft zu gehen, das stand früher selbst Kaisern und Königen nicht zu Gebote.

Und so ist es wohl zu verstehen, dass so viele Menschen die Erinnerung an ihr erstes Auto für festhaltenswert hielten wie sonst vielleicht nur die an die erste Liebe.

Genau das hat einst jemand auf der Rückseite des Abzugs getan, auf dem die Adler 10/50 PS-Limousine so nüchtern wie auf einem Werksfoto abgelichtet ist:

Adler 10/50 PS Limousine; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Mir ist bislang kein anderes Foto begegnet, auf dem jemand quasi die Biografie seines Wagens so knapp und zugleich erschöpfend festgehalten hat.

Wenn der Adler im August 1926 als Neuwagen erworben wurde, war er ein Vertreter des Typs 10/50 PS mit neuentwickeltem, aber gleichstarkem Motor – offenbar wies der ab 1925 verbaute Sechszylinder Schwächen auf.

Für erwähnenswert hielt der Besitzer bei seinem ersten Automobil nicht nur, dass es sich um einen Sechssitzer handelte – was bei sechs Seitenfenstern auch zu erwarten ist – sondern auch dass der Wagen einen Motor mit „6 Cylindern“ besaß.

Kultivierte Sechszylinderwagen hatte es vereinzelt zwar schon bei einigen deutschen Herstellern vor dem 1. Weltkrieg gegeben – bei Protos etwa – doch Mitte der 1920er Jahre schien das bei diesem Adler immer noch außergewöhnlich.

Nun sind aber Sie, liebe Leser gefragt: Was steht wohl hinter „6 Cylinder mit…“? Ich habe eine Weile herumgerätselt und dann durch Vergleich einzelner Buchstaben mit der übrigen Beschriftung das Wort „Boschlicht“ als Lösung gefunden.

Wenn ich richtig liege, scheint die Ausrüstung mit einer Lichtmaschine und Scheinwerfern des Herstellers Bosch Mitte der 1920er Jahre als fortschrittlich angesehen worden zu sein.

Wieso das der Fall war und weshalb andere Zulieferer elektrischer Komponenten damals von Bosch verdrängt wurden, das mag ein sachkundiger Leser erläutern. Wenn dann noch jemand mit der Fahrgestell- und Motornummer des Adler etwas anzufangen wüsste…

Schon Ende 1929 verkaufte der Besitzer die Adler-Limousine wieder. Vielleicht war er in der Weltwirtschaftskrise in finanzielle Not geraten und musste liquidieren, was ging. Doch blieb ihm dieses Foto seines „ersten Autos“ und irgendwann später – vielleicht nach sehr langer Zeit – hielt er auf dem Abzug fest, woran er sich erinnerte.

Das ist die eigentümliche Magie der Vorkriegswagen. Wer weiß, welche Erinnerungen aus alter Zeit durch den Kopf des einstigen Besitzers schossen, als er das Foto umseitig mit schon etwas unsicherer Hand beschriftete.

Vielleicht war das als eine Art Flaschenpost an die Nachgeborenen gedacht. Matthias Schmidt hat sie an Land gezogen und gemeinsam sinnieren wir heute über das, was nach über 90 Jahren übriggeblieben ist vom Adler-Sechszylinder mit Boschlicht…

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Mut zur Lücke: Ein Fiat 522 Cabriolet, oder?

Im Bereich der Automobilliteratur zu Vorkriegswagen deutscher Provenienz gibt es aus jüngerer Zeit einige eindrucksvolle Ergebnisse im Hinblick auf die Marken der Auto-Union sowie hervorragende Arbeiten einzelner Enthusiasten wie im Fall von Röhr oder Steiger.

Doch in der Breite tut sich seit der automobilliterarischen Blütezeit der 1970/80er Jahre in punkto Vorkriegsautos für meine Begriffe zu wenig hierzulande. Jahrbücher lassen Jahre auf sich warten, neue Markenbiografien werden nicht fertig, lang angekündigte Online-Typenübersichten bleiben unvollendet.

Dabei lässt sich doch im Netz der vorläufige Stand jederzeit darstellen und bei neuen Erkenntnissen ergänzen, korrigieren und vertiefen.

Genau das praktiziert Ferdinand Lanner in Bezug auf Fiat seit einigen Jahren und das Ergebnis seiner bisherigen Arbeit ist überwältigend – hier können Sie viele schlaflose Nächte zubringen, liebe Vorkriegsfreunde!

Das geht nur mit dem Mut zur Lücke und dem Willen, die Welt nach und nach an etwas teilhaben zu lassen, für das man brennt und das wohl niemals „fertig“ werden wird. Aber man muss einmal damit anfangen und nie war das einfacher als heute.

Illustrieren lässt sich das anhand von zwei Fiat-Fotos aus meiner Sammlung, die zwar Schwierigkeiten bei der Identifikation der abgebildeten Wagen aufwerfen, aber mit Mut zur Lücke doch eine plausible These erlauben, die sich dann bewähren muss oder auch nicht.

Los geht’s:

Fiat 522 Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Eine prachtvolle Werkstattaufnahme ist das, nicht wahr? Sie entstand 1935 im Raum Leipzig, soviel ist überliefert.

Aber was für ein Wagen ist darauf abgebildet? Der Mechaniker, der hier ein Datenblatt zu studieren scheint, wird es genau gewusst haben, steht uns aber nicht mehr zur Verfügung.

Wir Nachgeborenen sind daher auf unseren detektivischen Spürsinn angewiesen und letztlich auch auf den Mut zur Lücke.

Denn dummerweise ist die Kühlermaske mit einer kunstledernen Abdeckung versehen, an der in der kalten Jahreszeit eine Manschette angeknöpft wurde, welche den Luftdurchlass reduzierte und so bei Fehlen eines Thermostats für schnelles Warmwerden des Motors sorgte.

Welche Details liefern einen Hinweis auf die Identität des Wagens? Nach meiner Meinung vor allem die „geknickt“ verlaufende Zierleiste hinter der Motorhaube. Dieses markante Detail findet sich beispielsweise am Fiat 514 – einem 1929 eingeführten Vierzylindertyp:

Fiat 514; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses misshandelte Exemplar kam in einem deutschen Schnulzenfilm zum Einsatz, den ich hier ausführlich gewürdigt habe.

Der Fiat 514 besaß jedoch eine gerade Scheinwerferstange und besaß auch keine so markant gestaltete Doppelstoßstange wie der Werkstattbesucher auf dem eingangs gezeigten Foto.

Allerdings hatte der Fiat 514 einen großen Bruder – den Sechszylindertyp 522 – der kurze Zeit später eingeführt wurde. Dieser war mit mittig ansteigender Stoßstange und einer geschwungenen Scheinwerferstange verfügbar, daneben wies er auch die „geknickte“ Zierleiste hinter der Motorhaube auf.

Scheibenräder besaßen beide Modelle, wobei es nach meinem Eindruck vom Baujahr oder der Ausstattung abhing, ob nur eine kleine Nabenkappe oder eine auch die Radbolzen abdeckende Radkappe montiert war.

Mit diesem oberflächlichen „Wissen“ ausgestattet nähern wir uns nun dem eigentlichen Gegenstand meines heutigen Blog-Eintrags an, welcher abermals Mut zur Lücke verlangt, aber einfach zu reizvoll ist, um länger im Fundus zu schlummern:

Fiat 522 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf den ersten Blick würde man bei diesem 1935 bei Oberhof (Thüringen) abgelichteten Wagen wohl nicht auf einen Fiat tippen.

Doch der Steinschlagschutz mit den gepfeilten Streben täuscht. Dahinter verbirgt sich nach meiner Überzeugung ein Turiner Modell um 1930 – bloß welches?

Die Stoßstange ist schon einmal identisch mit derjenigen am oben vorgestellten Werkstatt-Fiat, den ich als Sechszylindertyp 522 ansprechen würde. Auf den Scheibenrädern finden sich nun die erwähnten großen Radkappen, die mir übrigens vor längerer Zeit auch die Identifikation des folgenden Wagens als Fiat (Typ 514) ermöglichten:

Fiat 514 Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch der erwähnte „Knick“ der Zierleiste hinter der Motorhaube findet sich wieder.

Doch dahinter beginnt „terra incognita“ – und wie einst Kolumbus auf dem Weg nach Indien muss man Mut zur Lücke haben. Vielleicht bekommt man ja auf der Reise ins Ungewisse irgendwann wieder festes Land unter die Füße.

Doch wird man auch ans erhoffte Ziel gelangen? Kolumbus musste bekanntlich einsehen, dass er sich mit seinem Mut zur Lücke auf dem Globus zwar gründlich verkalkuliert hatte, aber immerhin hatte er den Blick auf eine faszinierend neue Welt eröffnet.

Ist das am Ende auch bei diesem wunderbar gestalteten zweitürigen Cabriolet der Fall? Ich konnte zwar bislang keine Entsprechung finden, doch halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass wir es mit einem Manufakturaufbau auf Basis eines Fiat 522 zu tun haben:

Ein dermaßen exquisites Cabriolet mit schräggestellter Frontscheibe und elegant geschwungenem unteren Türabschluss auf Basis eines Fiat um 1930 konnte ich bislang auch in Ferdinand Lanners Dokumentation der in Frage kommenden Typen nicht finden.

Meine Vermutung – Sie sehen, ich habe immer noch Mut zur Lücke – geht dahin, dass wir es bei diesem erlesen schönen Exemplar mit Berliner Zulassung um eine Sonderanfertigung einer deutschen Karosseriefirma zu tun haben.

Das stand zwar im Widerspruch zur Ausrichtung von Fiat auf Großerienproduktion, die bereits 1919 begann. Doch im Deutschland der Vorkriegszeit waren Automobile dieser Kategorie nach wie vor Luxusobjekte, die nur für einen sehr geringen Teil der Bürger überhaupt erreichbar waren.

Diese Kundschaft konnte sich oft auch einen nochmals wesentlich teureren Manufakturaufbau leisten – was übrigens auch bei vielen importierten US-Wagen zu beobachten ist, die in der Heimat reine Massenprodukte waren.

Was meinen Sie nun zu diesem Wagen? Liege ich richtig mit meiner Vermutung, oder habe ich mich mit meinem Mut zur Lücke doch zu weit hinaus gewagt ins Ungewisse? In letzterem Fall könnte ich aber doch immerhin Glück gehabt haben wie einst Kolumbus und auf etwas ganz anderes gestoßen sein als vermutet, aber was?

Nachtrag: Dem Hinweis von Leser Erhardt Schmidt folgend konnte ich ermitteln, dass der Fiat 522 tatsächlich auch im Heilbronner NSU-Werk als NSU-Fiat 10/52 PS (bzw. NSU-Fiat 2500) gefertigt wurde. Wagen aus der Heilbronner Fiat-Fertigung wurden gern auch mit deutschen Sonderkarosserien versehen (hier vermutlich von Drauz).

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Ein Opfer des Kriegs: Audi 225 Luxus Cabriolet

Historische Fotos von Vorkriegswagen haben etwas von einer Zeitmaschine. Sie bewahren oder wecken die Erinnerung an vergangene Lebenswelten und Menschen, deren Träume und Leidenschaften – noch dann, wenn diese selbst längst Geschichte sind.

Die große Zäsur, die uns davon trennt – abgesehen von der langen Zeit, die seither vergangen ist – stellt der 2. Weltkrieg dar. In den meisten Ländern Europas war nach 1945 kaum noch etwas wie zuvor und sollte es auch nur in den seltensten Fällen wieder werden.

Opfer dieses Kriegs finden sich in den beteiligten Ländern praktisch in allen Familien und oft ist die Erinnerung an sie noch lebendig – oder sie wird es wieder bei der Betrachtung alter Fotos in den Alben der Altvorderen.

Mit einem Opfer dieses Kriegs – oder bei genauer Betrachtung mit zwei – beschäftigt sich mein heutiger Blog-Eintrag.

Möglich gemacht hat ihn Wolfgang Müller-Judex, der mir ein Foto zur Verfügung gestellt hat, das für ihn voller persönlicher Geschichte ist. Es ist zugleich für uns Dritte ein Dokument, das uns mit der Geschichte unseres Landes konfrontiert, die solange lebendig ist, wie sich jemand mit ihr beschäftigt und ihr etwas für’s Heute abzugewinnen versucht.

Das Auto, um das es dabei (auch) geht, ist uns bereits wiederholt begegnet, unter anderem auf diesem Foto von Leser Matthias Schmidt (Dresden):

Audi Front 225 Luxus Vierfenster-Cabriolet von Gläser; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

1936 brachte Audi diese optisch überarbeitete Version seines Frontantriebswagens 225 heraus. Die verbesserte Ausstattung, das größere Platzangebot und der reichlichere Chrom-Zierrat rechtfertigten die offizielle Bezeichnung als „Front Typ 225 Luxus“.

Das zweitürige Cabriolet mit vier Seitenfenstern, das wir hier sehen, besaß einen Aufbau der Manufaktur Gläser aus Dresden, die mit ihren perfekt ausbalancierten Formen eine Klasse für sich im deutschen Automobilbau war.

Die ovale dunkle Plakette am unteren Ende der A-Säule des Wagens findet sich bei allen Gläser-Aufbauten (sofern der Käufer nicht darauf verzichtete).

Denselben Aufbau gab es von Gläser freilich in noch raffinierterer Farbgestaltung – ebenfalls in Hell-Dunkel-Ausführung, doch zusätzlich mit farblich akzentuierter Partie oberhalb der Schulterlinie (im Fachjargon als Sattel bezeichnet).

Aus meiner Sicht entfaltet sich die Schönheit der offenen Gläseraufbauten am vollkommensten in einer solchen Ausführung:

Audi Front Typ 225 Luxus; Originalfoto aus Familienbesitz (Wolfgang Müller-Judex)

Diese schwer überbietbare Ausführung des Gläser-Vierfenster-Cabriolets auf Basis des Audi Front Typ 225 Luxus gönnte sich einst der Vater von Wolfgang Müller-Judex.

Er konnte sich dieses Prachtstück leisten, hatte er als studierter Versicherungsmathematiker doch einen gut dotierten Posten als Direktor einer Assekuranz erlangt.

Beinahe 7.000 Reichsmark waren für dieses Manufaktur-Automobil zu berappen – das entsprach beim Erscheinen des Typs im Jahr 1936 annähernd dem vierfachen Brutto- Jahreseinkommen eines durchschnittlichen sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmers.

Nur darf man nicht meinen, dass der Besitzer eines solchen Luxuswagens zwangsläufig auf Rosen gebettet war. Zum einen hatte er eine äußerst anspruchsvolle und langwierige Ausbildung absolviert und sich mit besonderem Können seine Position erarbeitet.

Zum anderen machte der Ausbruch des 2. Weltkriegs früher oder später alle mehr oder weniger gleich – denn dem Kriegseinsatz entging man nur bei Vorliegen körperlicher Behinderungen, da half alles Geld der Welt nicht.

So wurde auch der Vater von Wolfgang Müller-Judex 1940 zu einer Einheit der Luftwaffe einberufen. Sein Audi wurde in Berlin stillgelegt – der Räder beraubt aufgebockt.

Wolfgang Müller-Judex liefert eine interessante Begründung dafür, dass der Wagen zunächst nicht wie unzählige andere Privat-PKW von Staats wegen eingezogen und dem Militär zur Verfügung gestellt wurde.

So sei die Bodenfreiheit des Audi Front Typ 225 Luxus zu gering gewesen, um den Wagen für den Fronteinsatz abseits befestigter Straßen geeignet zu machen. Der Frontantrieb kann es jedenfalls nicht gewesen sein, waren doch Adler-Fronttriebler und ab 1940 vor allem Citroens des Typs „Traction Avant“ bei der Wehrmacht sehr verbreitet und geschätzt.

Was im weiteren Kriegsverlauf mit dem eingemotteten Audi seines Vaters geschah, konnte mir Wolfgang Müller-Judex nicht sagen. Er besitzt aber eine lebhafte Erinnerung an das Fahrzeug, saß er doch einst selbst mit seinen Schwestern auf der Haube des Wagens!

Mit diesem 1939 entstandenen Foto haben wir also den ganz seltenen Fall, dass wir noch quasi aus erster Hand etwas über einen Vorkriegswagen erfahren können.

Dass uns Wolfgang Müller-Judex an dieser persönlichen Erinnerung aus den späten 1930er Jahren teilhaben lässt, das ist ein außerordentliches Privileg und wir dürfen uns heute vor einem im besten Sinn „alten Herrn“ in Dankbarkeit verneigen.

Die Geschichte des Audis ist an dieser Stelle freilich noch nicht zuende. Wie der Titel bereits ahnen lässt, ist das Auto höchstwahrscheinlich am Ende ein Opfer des Kriegs geworden, jedenfalls ist nichts über seinen Verbleib bekannt.

Etwas mehr als ein Dutzend Audis des Typs Front 225 Luxus in der Ausführung als Vierfenster-Cabriolet haben die Zeiten überdauert (Quelle: Audi Automobile, Peter Kirchberg/Ralf Hornung, Verlag Delius-Klasing, 2. Auflage 2015).

Könnte einer davon der Wagen des Vaters von Wolfgang Müller-Judex sein? Denkbar, aber nicht mehr beweisbar. Auch solche Verluste an Familientradition zählen zu den Opfern des Kriegs.

Noch mehr gilt das aber für die Teilnehmer desselben, sofern diese sich nichts haben zuschulden kommen lassen. Das muss auch für diejenigen Soldaten auf deutscher Seite gelten, die den Krieg zwar gefochten, aber nicht angezettelt haben (das waren Politiker).

Der Vater von Wolfgang Müller-Judex geriet im Kriegsverlauf in sowjetische Gefangenschaft und kehrte erst eine Weile nach Kriegsende nach Deutschland in die Heimat zurück. Was er in der Zwischenzeit erlebt hatte, das wollen wir nicht wissen.

Sein früher Tod im Jahr 1957 macht ihn jedenfalls für Wolfgang Müller-Judex ebenfalls zu einem Opfer des Kriegs. Damit wir uns recht verstehen: Unser Mitgefühl verdienen auch die unzähligen Opfer speziell auf russischer Seite, die ebenfalls bloß Verfügungsmasse waren.

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Relikt einer untergegangenen Welt: Ein Siddeley-Deasy

Bei Ausbruch des 1. Weltkriegs standen die führenden Länder Europas in vielerlei Hinsicht auf dem Höhepunkt: Wissenschaft und Technik, Kunst und Architektur, aber auch das Bildungsniveau und die politische Teilhabe eines selbstbewussten Bürgertums hatten einen Stand erreicht, wie es ihn in dieser Breite zuvor noch nie gegeben hatte.

Was hätte daraus werden können, wenn nicht die Regierungen aller europäischen Großmächte entschlossen gewesen wären, ihre männliche Jugend auf den Schlachtfeldern zu opfern und ihre Ressourcen komplett der Kriegswirtschaft zu widmen?

In England setzte man das gesamte Empire aufs Spiel und verlor es am Ende – trotz eines Siegs, der ohne das Eingreifen der Vereinigten Staaten 1917 wohl ausgeblieben wäre. Die gigantischen Verluste an Menschenleben, welche die Londoner Regierung nonchalant in Kauf nahm, hinterließen in der Erinnerung noch größere Spuren als der 2. Weltkrieg.

Nach 1918 sollte in England nichts mehr sein wie zuvor und für die einstige Weltmacht markiert der 1. Weltkrieg die Zeitenwende schlechthin.

Wie vollkommen anders die Welt vor 1914 auch in Großbritannien war, das mag das folgende Foto dokumentieren, das ich meinem Sammlerkollegen Jörg Pielmann verdanke:

Siddeley-Deasy um 1913; Originalfoto aus Sammlung Jörg Pielmann

Diese eigenwillige Kreation, deren Motorhaube an den Rammsporn antiker Kriegsschiffe erinnert, mutet an wie der Phantasie des großen Futuristen Jules Verne entsprungen.

Seine wohl bekannteste und schillerndste Romanfigur – Kapitän Nemo – hätte vermutlich ein eigenwilliges Fahrzeug wie dieses bevorzugt, wenn er denn je sein Unterseeboot „Nautilus“ für einen Landgang verlassen hätte.

Mit der wie ein Kristall gebrochenen Haube konnten auch frühe Wagen von Renault oder Komnick nicht mithalten, die auf den ersten Blick eine ähnliche Gestaltung aufwiesen:

Mich erinnert diese aus geometrischen Formen zusammengesetzte Haube an Elemente des strengen Jugenstils, wie es ihn neben den stärker organischen Varianten ebenfalls gab.

Überhaupt fasziniert die Eigenständigkeit der Entwürfe aus der Frühzeit des Automobils als tausende unabhängige Firmen um die Gunst der Käufer rangen – kein fachfremder Politiker hätte sich damals angemaßt, „lenkend“ in die vollkommen offene Entwicklung einzugreifen. Das ist ein wesentlicher Grund für die ungeheure Dynamik jener Zeit.

Der folgende kurze Abriss mag dies illustrieren:

Zwischen 1904 und 1906 baute ein gewisser George Iden, der zuvor bei Daimler tätig war, in Coventry Autos unter seinem Namen. Die Fabrik wurde anschließend von Hugh Peter Deasy übernommen, der bis dato Wagen von Rochet Schneider und Martini importiert hatte.

Deasy überwarf sich allerdings mit seinem Chefentwickler, was die Konstruktion der von ihm geplanten Wagen anging und verließ schon 1908 wieder die von ihm gegründete Firma.

1909 stieg ein gewisser John Siddeley bei Deasy ein und wurde im Folgejahr Geschäftsführer. Siddeley hatte bereits 1902 unter seinem Namen eine Autofabrikation aufgezogen, die 1905 von Wolseley übernommen wurde.

Sieben verschiedene Hersteller sind hier in einer Spanne weniger Jahre beiläufig erwähnt – allein daran vermag man die Aufbruchstimmung jener Zeit zu ermessen.

Unter der Leitung von Siddeley kam Deasy in Schwung, sodass die ab 1912 gebauten Wagen des Herstellers als Siddeley-Deasy vermarktet wurden. Verfügbar waren Antriebe mit 16 bis 24 PS, darunter auch zwei Sechszylinderaggregate mit „Knight“-Schiebermotor.

Welchen davon genau das Bild von Jörg Pielmann zeigt, ist eigentlich unerheblich. Letztlich illustriert diese Aufnahme um 1913 ein Relikt einer untergegangenen Welt, in der alles möglich erschien, bevor plötzlich die Lichter der Zivilisation ausgingen…

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Dienstwagen für privilegierte Genossen: Ein Dinos 16/72 PS

Die wahre Natur der vermeintlich menschenfreundlichen Ideologie des Sozialismus tritt dann hervor, wenn sie an die Schaltstellen der Macht gelangt.

Wer nun an die Ausplünderung und Bevormundung der Bürger, die Drohung mit Energierationierung und die Selbstbedienung denkt, welche der Politadel im Berlin unserer Tage praktiziert, macht sich neuerdings der „Delegitimierung des Staats“ verdächtig – die war lange übrigens Aufgabe kritischer Journalisten.

Zwar liegt es dem Untertanen fern, an das Handeln der heute Herrschenden den Maßstab seiner beschränkten Einsicht zu legen. Gegenüber vergangenen Regimen darf man indessen noch als Kritiker auftreten – genau das erlaube ich mir im Folgenden.

Möglich gemacht hat mir das mein russischer Sammlerkollege Stanislav Kirilets mit einem Foto, das Anlass zu manchen Mutmaßungen gibt.

Ich übernehme dabei die Angaben, die er zu der Aufnahme macht – zum einen, weil er ein ausgewiesener Kenner der Materie ist, zum anderen, weil mir keine verlässlichen Quellen vorliegen, die mich zu einer anderen Einschätzung bewegen könnten:

Dinos Typ 16/72 PS; Originalfoto via Stanislav Kirilets

Laut Stanislav Kirilets ist überliefert, dass es sich bei diesem eindrucksvoll dimensionierten Tourenwagen um einen Typ 16/72 PS des Berliner Herstellers Dinos handelt. Abgelichtet wurde das Fahrzeug auf dem Land in der Nähe von Moskau.

Ich habe die Geschichte dieser wie so oft schlecht dokumentierten deutschen Marke bislang nur gestreift. Sie beginnt mit der Automobilfabrikation der Firma Loeb & Co., welche in Berlin unter der Marke LUC ab 1909 selbstkonstruierte Wagen anbot.

Bis 1914 genossen LUC-Automobile den Ruf zwar teurer, aber ausgezeichnet konstruierter und leistungsfähiger Wagen.

Hier eine grafisch reizvolle Reklame, die deutlich macht, dass man sich nicht mit Kleinwagen abgab und auch laufruhige Modelle mit Schiebermotor (Patent: Knight) anbot:

LUC-Reklame von 1914; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Nach dem 1. Weltkrieg gelangte das Unternehmen unter die Kontrolle des Stinnes-Konzerns und fertigte nun unter der Marke „Dinos“ weiterhin gut motorisierte Qualitätsautos.

Gewisse Verbreitung scheint das neue 8/35 PS-Modell gefunden zu haben. Es verfügte über einen Motor mit drehzahlfreudiger Charakteristik (Ventiltrieb über obenliegende Nockenwelle und Köngswelle) und erreichte damals beachtliche 100 km/h.

Den Vogel ab schoss man indessen mit dem 1921/22 gebauten Sechszylindertyp 16/72 PS. Dieser schnelle Wagen ließ die aufgewärmten Vorkriegsmodelle etlicher etablierter deutscher Hersteller so lahm und alt aussehen, wie das damals auch der Lancia Kappa tat.

Wenn die Überlieferung stimmt, war das ein veritables Luxusuautomobil mit sportlicher Charakteristik, welches einst im Umland von Moskau für die Nachwelt festgehalten wurde.

Zwar waren frühe deutsche Fabrikate in Russland alles andere als selten – tatsächlich war das Deutsche Reich damals der bedeutendste Handelspartner und deutsche Autos bewährten sich unter den harten Bedingungen in den russischen Weiten.

Doch fragt man sich: Wer konnte nach der „Revolution“ in Russland, die doch über das Zwischenstadium Sozialismus den ersehnten Kommunismus anstrebte, jemand noch so ein unglaublich exklusives Automobil (oder überhaupt irgend ein Kraftfahrzeug) besitzen?

Die Antwort ist so einfach wie ernüchternd:

Nach jeder ideologischen Umwälzung – ganz gleich unter welchem Vorzeichen – gibt es eine neue Oberschicht, die sich aus den Gewinnern des Umsturzes speist (meist aus der Unterschicht und dem akademischen Prekariat) und daneben anpassungsfähige Vertreter der alten Feudalschicht umfasst.

Zwar können wir nicht wissen, welcher der beiden Gruppen die Insassen dieses Dinos 16/72 PS angehörten – sie werden sich aber so oder so als „verdiente Genossen“ präsentiert haben, denen solche Privilegien quasi von Natur aus zustehen:

Die Ansprache des Dinos als Typ 16/72 PS mag unsicher sein – vielleicht war es doch „nur“ das Vierzylindermodell 8/35 PS – doch sicher ist eines:

Den Gewinnern roter, brauner (oder wie auch immer eingefärbter) sozialistischer Revolutionen war und ist das Schicksal der Masse egal – wer romantische andere Auffassungen hegt, sollte Alexander Solschenizyns „Archipel Gulag“ oder bei eher nüchterner Veranlagung gleich das „Schwarzbuch des Kommunismus“ lesen…

Freilich weiß man auch, dass in totalitären Verhältnissen mancher „verdienter Genosse“ unter die Räder kam, wenn er sich irgendwelcher Fehltritte schuldig machte – so mag das auch mit den Insassen des Dinos gewesen sein – welcher selbst ebenfalls bald Geschichte gewesen sein dürfte…

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Autobahntempo schon 1919: Lancia „Kappa“

Meinen heutigen Blog-Eintrag sollten die Freunde früher Benz-Wagen besser ignorieren, denn „ihre“ Marke kommt zumindest darin nicht sonderlich gut weg.

Natürlich weiß ich auch Benz-Automobile zu schätzen, allein schon wegen ihrer markanten Optik, die sie freilich mit Konkurrent Daimler teilten, bevor es zum Zusammenschluss kam.

Auch sind mit der Marke Benz einige herausragende Sporterfolge verbunden. Doch gab es später Zeiten, in denen der Hersteller schlicht den Anschluss verloren hatte.

Das war der Fall im Jahr 1919, als zwar die Auftragslage auf dem Papier recht gut aussah, aber letztlich bloß Vorkriegsmodelle aufgewärmt wurden. Eines davon war der mächtige Benz 25/55 PS, für den es seinerzeit immerhin rund 200 Bestellungen gab.

Das war ein Koloss mit 6,5 Liter messendem Vierzylindermotor, der freilich gerade einmal 55 PS Spitzenleistung abwarf. Für ein Fahrzeug, dessen Fahrgestell alleine bereits 1,3 Tonnen wog, war das etwas dürftig. Das Spitzentempo von 85 km/h war zwar für die meisten Situationen damals ausreichend, aber es ging auch anders.

Das bewiesen ausgerechnet die gern mit deutscher Arroganz geringgeschätzten „Itaker“, die clever genug waren, sich im 1. Weltkrieg auf der richtigen Seite zu positionieren.

Italien war 1919 zwar insgesamt noch bitterarm und in vielerlei Hinsicht rückständig, doch im Norden des Landes blühte eine Wissenschafts- und Ingenieurskultur, die es mit der gern überschätzten deutschen durchaus aufnehmen konnte.

Fiat bewies damals mit dem Riesenerfolg des neu entwickelten Typs 501, dass man besser von den geschäftstüchtigen, nüchtern rechnenden Amerikanern lernt, als bloß über sie herzuziehen und selbst in überholten Produktionsmustern zu verharren.

Selbst ein Nischenhersteller wie Lancia hatte die Zeichen der Zeit erkannt und stellte 1919 mit dem neuen Modell „Kappa“ etwas auf die Beine, was hierzulande seinesgleichen suchte:

Lancia Kappa um 1920; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das Pferd, welches auf dieser Aufnahme traurig den Kopf hängen lässt, hatte vermutlich gerade erfahren, was Lancia an Pferdestärken mit seinem neuen „Kappa“ bot.

Trotz (im Vergleich zum Benz) nur 4,9 Litern Hubraum leistete der Motor des Lancia annähernd 70 PS Spitzenleistung. Verbunden mit einem drastisch niedrigeren Gewicht war damit eine Kraftentfaltung möglich, von der Benz-Kunden seinerzeit nur träumen konnten.

Auch die Höchstgeschwindigkeit bewegte sich in völlig anderen Sphären – gut 120 km/h gab Lancia für den „Kappa“ an. Die konnte man zwar 1919 noch nirgends wirklich ausfahren, aber dieser Wagen zeigte, wohin man wollte.

Kein Wunder, dass bei solchen Ambitionen schon 1924 in Oberitalien der erste Autobahnabschnitt der Welt entstand. Der wurde übrigens ebenfalls mit einem Lancia eröffnet – dem ab 1922 gebauten 100 PS-Modell Trikappa.

In Deutschland lagen die großen Hersteller damals leider noch im Tiefschlaf – man kann es leider nicht anders sagen – erst die existenzbedrohende Konkurrenz aus den Vereinigten Staaten machte den intelligenteren unter ihnen Ende der 1920er Jahre Beine.

Für das Autobahntempo des Lancia Kappa reichte es dennoch bis in die 1930er Jahre bei etlichen deutschen Fabrikaten noch nicht – das sollte erst nach einem weiteren verlorenen Krieg gelingen…

Die große Klappe gegenüber den „Spaghettifressern“ behielt man allerdings auch dann noch lange bei – erst in unseren Tagen hält die Einsicht Einzug, dass man südlich der Alpen in mancher Hinsicht doch deutlich besser fährt…

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Unzeitgemäße Betrachtungen: Presto D 9/30 PS

Im ersten Impuls wollte ich meinen heutigen Blogeintrag zum Presto Typ D der ersten Hälfte der 1920er Jahre mit dem Titel „Versuch einer Chronologie“ versehen.

Zwar liegen mir inzwischen beinahe 40 historische Fotos dieses seinerzeit recht verbreiteten, heute aber praktisch ausgestorbenen Wagens der sächsischen Presto-Werke vor, die eine Vielzahl unterschiedlicher Details erkennen lassen.

Doch darauf auch nur den Versuch einer Chronologie aufzubauen, erwies sich bei näherer Betrachtung als vermessen oder zumindest verfrüht.

Da sich auf der Zeitschiene aus meiner Sicht noch keine eindeutige Entwicklung nachvollziehen lässt, verfiel ich stattdessen auf das Motto „Unzeitgemäße Betrachtungen“.

Freunde oder Feinde des brillant-bösen Polemikers und Meisters der deutschen Sprache – Friedrich Nietzsche – verbinden mit diesem Titel vier Essays, von denen einer sogar Bezug zu dem hat, was ich hier betreibe: „Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben“.

Der Essay ist nebenbei wie etliche andere Werke von Nietzsche hervorragend dazu geeignet, sich an einem Thema abzuarbeiten, verschiedene (durchaus zugespitzte) Sichtweisen nachzuvollziehen und sich am Ende ein eigenes Bild zu machen.

„Zugespitzt“ und „ein eigenes Bild“ – damit lässt sich trefflich zum Gegenstand meiner heutigen unzeitgemäßen Betrachtung überleiten.

So haben wir hier ein Foto aus meinem Fundus, welches den 1921 eingeführten Presto Typ D 9/30 PS mit seinem vorne scharfkantigen, oben leicht abgerundeten Kühler zeigt:

Presto-Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Folgende Details sind hier festzuhalten:

Der Kühler ist in Wagenfarbe lackiert, sechs Luftschlitze befinden sich am hinteren Ende der Motorhaube, der Belag des Trittbretts endet an der Schwellerpartie und die Radschrauben sind schlicht in Wagenfarbe gehalten, lediglich die Nabenkappe glänzt ein wenig.

Der Tourenwagenaufbau weist am Heck einen „tulpenartigen“ Querschnitt auf, gewinnt also nach oben an Breite, und das niedergelegte Verdeck verbirgt sich in einem umlaufenden Kasten ohne „aufzutragen“.

Markant ist außerdem die „Bügelfalte“ zwischen dem hinteren Ende der Motorhaube und der Frontscheibe. Diese ist schräggestellt, mittig unterteilt und zumindest auf der Fahrerseite oben ausstellbar.

Beinahe das gleiche Bild zeigt sich auf der nächsten Aufnahme:

Presto-Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Einziger Unterschied: Hier ist der Kühler vernickelt, was die Frage aufwirft, ob dies bereits eine weitere Entwicklungsstufe des Presto Typ D kennzeichnet oder ob es sich lediglich um ein anfänglich aufpreispflichtiges Extra handelt.

Jedenfalls taucht ein lediglich in Wagenfarbe lackierter Kühler auf keinem meiner weiteren Fotos dieses Modells mehr auf.

Ein Extra scheinen jedenfalls die Drahtspeichenräder gewesen zu sein, die auf folgender Aufnahme dokumentiert sind:

Presto-Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Von den Rädern abgesehen scheint hier alles so zu sein wie auf den zuvor gezeigten Fotos. Doch der Tourenwagenaufbau ist am Heck nun schlichter und schmaler gehalten und das niedergelegte Verdeck ist jetzt außen angebracht.

Diese sachliche Gestaltung setzte sich in den 1920er Jahren gegenüber der expressiveren Tulpenform durch, doch könnte es beide Varianten eine Weile parallel gegeben haben.

Ein weiteres Detail lässt sich anhand geeigneter Aufnahmen dokumentieren – und zwar die Anbringung des Ersatzrads auf diesem bislang unpublizierten Foto aus meiner Sammlung:

Presto-Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme stammt aus dem Raum Dresden (das lässt zumindest der Stempel des Fotogeschäfts auf der Rückseite vermuten), als Fahrer des Wagens ist W. Hilpert genannt – vermutlich ein angestellter Chauffeur.

Er konnte im Zweifelsfall auf zwei Ersatzräder zugreifen , welche nicht eigens auf die Felgen aufgezogen werden mussten, sondern auf den Radkranz geschraubt werden konnten.

Davon abgesehen scheint alles den Erwartungen zu entsprechen, die man in Bezug auf einen Presto Typ D 9/30 PS hegt. Auch eine eigenwillige Zweifarblackierung wie auf der nächsten Aufnahme bringt einen noch nicht aus dem Konzept:

Presto-Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Allenfalls bemerkt man an diesem Wagen eine zwar schräggestellte, aber nunmehr durchgehende Windschutzscheibe. Wiederum stellt sich die Frage: Optional oder Hinweis auf eine weitere Entwicklungsstufe des Presto Typ D 9/30 PS?

Ich schätze, dass hier einfach jemand seine persönlichen Vorstellungen hat umsetzen lassen, was im Rahmen der Manufakturproduktion bei Presto sicher möglich war.

Auf den ersten Blick eine weitere Variation über dasselbe Thema findet sich auf der nächsten Abbildung:

Presto-Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses schöne Dokument zeigt einen in Schlesien zugelassenen Wagen, wie ihn meine von dort stammenden Großeltern mütterlicherseits vielleicht einmal gesehen haben.

Alle bislang besprochenen Details scheinen hier vorhanden zu sein – doch nicht ganz: Die sechs Luftschlitze sind näher zur Mitte der Motorhaube gerückt und auf den Rädern findet sich mit einem Mal eine vernickelte breite Nabenkappe mit nunmehr sechs Radbolzen.

Karosserie und Frontscheibe erscheinen wie bisher, dennoch dürften wir es hier mit einer modellgepflegten Variante zu tun haben – Einführungsdatum ungewiss.

Die weiter nach vorne gewanderten Haubenschlitze finden sich auch an dem folgenden Fahrzeug, allerdings sind hier wieder die wie bisher schmucklosen Radnaben zu sehen:

Presto-Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die vernickelten Radkappen würde ich daher als zumindest anfänglich aufpreispflichtiges Zubehör ansehen. Doch findet sich an diesem Presto Typ D ein weiteres neues Detail, welches auf dem vorherigen Foto leicht zu übersehen ist.

Hier endet das Trittblech nämlich nicht am Schweller, sondern reicht abgewinkelt noch ein Stück daran nach oben. Das findet sich dann durchgehend auf allen mir vorliegenden otos von Presto-Wagen des Typs D 9/30 PS mit näher zur Mitte gerückten Haubenschlitzen:

Presto-Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wie es scheint, finden sich in Verbindung mit den vernickelten Radkappen und den näher zur Mitte gerückten Luftschlitzen tendenziell auch eher horizontal durchgehende Windschutzscheiben, meist senkrecht stehend.

Aus meiner Sich ging im Zuge dieser Veränderungen die anfänglich sportliche äußere Anmutung des Presto Typ D 9/30 PS verloren – vielleicht an diesem Beispiel eines darauf basierenden Taxis gut erkennbar:

Presto-Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Doch nicht nur diese bieder wirkende Droschkenausführung lässt den ursprünglichen Reiz des Modells D 9/30 PS von Presto vermissen.

Dasselbe gilt für die folgende (bisher unpublizierte) Aufnahme eines weiteren Tourenwagens dieses Typs, welcher einst im Raum Stettin (seit 1945 zu Polen gehörig) zugelassen war:

Presto-Typ D 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So schön dieses hochsommerlich anmutende Foto sein mag – irgendwie hat der Presto D 9/30 PS in dieser Ausführung seinen ursprünglichen Reiz als schnittiger Tourer verloren.

Nun ist aus meinen subjektiven unzeitgemäßen Betrachtungen vielleicht doch so etwas wie der Versuch einer Chronologie des Presto Typ D 9/30 PS geworden. Doch würde ich dieses Feld gerne den Markenexperten überlassen.

Aber gibt es denn für die Presto-PKWs überhaupt welche? Schwer zu sagen. Bestimmt gibt es jede Menge originales Prospektmaterial und sonstige Dokumentation in Spezialistenhand, auf die ich als bloß dilettierender Vorkriegsautofreund keinen Zugriff habe.

Friedrich Nietzsche plädiert in seinen Unzeitgemäßen Betrachtungen dafür, die rechte Balance zwischen einem Zuviel und einem Zuwenig der Auseinandersetzung mit der Historie zu finden.

Vielleicht traut sich ja gelegentlich jemand in Sachen Presto oder einer der anderen unterbelichteten deutschen Marken hervor, gern auch zugespitzt und meinungsstark wie Meister Nietzsche…

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Machte Mädels aufsässig: Wanderer W10-IV von 1932

Gerade aus dem Süden zurückgekehrt, finde ich sogleich neue Inspiration in Form einer Bildzusendung von Friedrich Bartels im Auftrag des Kulturvereins Ottersberg (Lkr. Verden).

In der kleinen Gemeinde hoch oben in Deutschlands Norden pflegt man mit Hingabe die Auseinandersetzung mit der eigenen Historie anhand alter Fotos, die sämtliche Aspekte vergangenen Lebens dokumentieren.

Dazu gehören bisweilen auch Aufnahmen, die Automobile zeigen, welche freilich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der ländlichen Region noch eine Seltenheit waren und für einiges Aufsehen sorgten.

Wenn ich nun behaupte, dass einer dieser Wagen einst die Mädels im Ort aufsässig machte, so mag das übertrieben klingen – vor allem, wenn man erfährt, dass es sich um einen braven Wanderer des Typs 6/30 PS von 1932 handelte, welcher intern die Bezeichnung W10-IV trug.

Der in jeder Hinsicht konventionelle Wagen mit seitengesteuertem Vierzylindermotor, der aus 1,6 Litern Hubraum gerade einmal 30 PS herausholte, war nicht eben das, was das Blut in Wallung bringt, möchte man meinen.

Aber wir dürfen eines nicht vergessen: Selbst ein biederer Wanderer dieses Typs repräsentierte damals das große Versprechen individuellen Reisens, das sich für die allermeisten Deutschen erst lange nach dem 2. Weltkrieg erfüllen sollte.

Tatsächlich ist uns genau so ein Wanderer W10-IV in der Ausführung von 1932 schon einmal auf großer Fahrt begegnet – nämlich hier:

Wanderer W10-IV; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das in Bozen (Südtirol) entstandene Foto ist etwas körnig geraten, gibt aber genügend Details preis, um die Ansprache dieser Limousine als Wanderer des Typs 10-IV in der letzten Ausführung von 1932 zu ermöglichen.

Der Typ als solcher ist an der Gestaltung des reich verchromten Kühlergrills mit dem typischen Wanderer-Emblem, den Doppelstoßstangen sowie an den recht weit unten angebrachten Luftschlitzen in der Motorhaube zu erkennen.

Auf das letzte Baujahr des 1930 eingeführten, damals schon nicht mehr ganz taufrischen Modells deuten die großen Radkappen hin. Vor 1932 musste der Wagen noch ohne diese auskommen, was seine sonst gediegene Erscheinung etwas nach unten zog.

Hier zum Vergleich die Aufnahme einer frühen Cabriolet-Ausführung:

Wanderer W10-IV Cabriolet, Baujahr: 1930-31; aufgenommen vor der Dreilägerbach-Talsperre bei Aachen; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt

Hier sieht man einen weiteren Unterschied zur Version von 1932 – die Luftschlitze sind senkrecht ausgeführt, erst zuletzt wurden sie leicht schräggestellt.

Das erkennt man zwar nicht auf Fotos, welche von vorne aufgenommen worden, dennoch besteht aus meiner Sicht kein Zweifel, dass auch der folgende Wanderer, der einst in der Gemeinde Ottersberg für Furore sorgte, ein Typ W10-IV von 1932 war:

Wanderer W10-IV; Originalfoto des Kulturvereins im Rektorhaus Ottersberg (via Friedrich Bartels)

Was soll man zu diesem bezaubernden Foto noch viel mehr sagen?

Klar, dass so ein Wagen die Vertreterinnen der örtlichen Weiblichkeit spontan „aufsässig“ machte – für einen kostbaren kleinen Moment konnten sie sich vorstellen, mit dem Wanderer in die große weite Welt hinauszufahren.

Die eine scheint gerade einem imaginierten Ziel in der Ferne entgegenzublicken – gern wüsste man, was das wohl gewesen sein mag.

Unterdessen legt die andere dem Wanderer beinahe liebevoll die Hand auf die vielleicht noch warme Motorhaube und schaut versonnen lächelnd drein – selten habe ich auf einem Autofoto jener Zeit einen solchen Ausdruck reinen Glücks gesehen.

Seien wir ehrlich: Bei einem solchen Dokument ist das Fahrzeug doch letztlich reine Staffage – für den Menschen gibt es am Ende nichts Spannenderes als den Menschen.

Daher gönnen wir den beiden „aufsässigen“ Mädels rund 90 Jahre nach diesem Moment noch einmal alle Aufmerksamkeit:

Na, meine Herren, von welcher der beiden hätten sie eher die Hausaufgaben abgeschrieben? Und mit welcher wären sie nach der Schule lieber zum Badesee entschwunden?

Und für die Damen: Welcher würden Sie eher die Führung der ererbten Landwirtschaft anvertrauen? Und von welcher würden Sie sich eher den neusten Modetanz beibringen lassen?

Das sind die allzumenschlichen Fragen, die ein solches Foto unwillkürlich aufwirft, während das Auto bei aller solider Qualität doch rasch vergessen ist…

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