Einst Preußens Glanz… Horch Tourer von 1913/14

Die Geschichte von Preußen wird von ernsthaften Historikern heute ebenso differenziert betrachtet wie andere Epochen der europäischen Geschichte auch – weder glanzvoll verklärt, noch fanatisch verdammt.

So wollen wir es auch heute halten, wenn es um ein besonderes “Glanzstück” Preußens geht – wir geben einfach wieder, was wir wissen, halten uns an die überlieferten Fakten, stellen keine kühnen Hypothesen auf und stricken keine Legenden.

Erst recht mit dem Abstand von über 100 Jahren können wir uns dem Gegenstand der heutigen Betrachtung unvoreingenommen nähern und seine unverkennbar glänzenden Seiten würdigen wie seine unübersehbaren Mängel erwähnen.

Dazu begeben wir uns – wenn auch nicht mitten ins Getümmel – so doch in das Umfeld der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, des Ersten Weltkriegs.

Die Möglichkeit zu diesem Zeitsprung in die Endphase von Preußens Glanz hat uns ein Sammler ermöglicht, der auf Fotografien jener Zeit spezialisiert ist.

Er kam auf mich zu und bat mich, das folgende Automobil zu identifizieren, von dem er nur wusste, dass es zum Stab der 105. Infanterie-Division gehörte:

Horch Tourenwagen von 1913/14; Originalfoto: Sammlung H. Wild

Eine im wahrsten Sinne glanzvolle Erscheinung, nicht wahr? Doch der preußische Adler auf der hinteren Tür sagt uns zuverlässig, dass wir uns in einer Zeit befinden, in der in Europa die Lichter ausgingen und auf allen Seiten die Kriegsfurien das Kommando übernahmen.

Doch auch wenn das Wappen, das ab 1871 zugleich das des Deutschen Reichs war, auf ein vom Militär genutztes Automobil hindeutet, scheint hier noch ein letztes Mal Preußens Glanz auf – und sei es nur in Form des Lacks dieses eindrucksvollen Gefährts.

Für einen Wagen im Dienst der Armee ist soviel Glanz eher untypisch, doch zeigen auch Beispiele aus der Frühphase des Zweiten Weltkriegs, dass von hohen Offizieren genutzte Wagen anfangs noch in Zivillackierung in den Einsatz fuhren.

Von daher ist anzunehmen, dass diese Aufnahme zu Kriegsbeginn und weit hinter der Front entstanden ist. Wo sich der auf der Rückseite des Fotos vermerkte Stab der 105. Infanterie-Division damals befand, das mögen Kenner ermitteln.

Mein Auftrag ist heute ein anderer, und für den verfüge ich über das nötige Handwerkszeug.

Der versierte Veteran in Sachen deutsche Vorkriegswagen wirft zunächst einen routinemäßigen Blick auf die Vorderpartie des ins Visier genommenen Fahrzeugs, um zu einer möglichst genauen Ansprache zu gelangen:

Festzuhalten ist hier Folgendes:

Der Wagen weist eine nahezu durchgehend horizontale Linie von Motorhaube und Windlauf – der Blechpartie vor der Frontscheibe – auf. Das findet sich bei deutschen Wagen meist erst kurz vor dem 1. Weltkrieg, selten schon 1912, aber gehäuft ab 1913.

Dass wir es mit keinem Wagen aus späterer Kriegsproduktion zu tun haben, dafür spricht, dass er noch über gasbetriebene Scheinwerfer verfügt.

Das sieht man diesen zwar nicht unmittelbar an, denn es sind aus diesem Blickwinkel keine Löcher zum Abzug der Verbrennungsabgase zu sehen. Doch die beiden am Vorderende des Trittbretts montierten Behälter sprechen eine eindeutige Sprache.

Darin wurde durch Reaktion von Calciumkarbid und Wasser das Gas Ethin (landläufig als Acetylen gezeichnet) produziert, welches in den Scheinwerfern verbrannt wurde.

Das Verfahren wurde noch bis in die 1930er Jahren auch für Fahrräder genutzt, doch ab 1913/14 wurden bei Automobilen als Extra bereits die ersten elektrischen Scheinwerfer angeboten. Im Kriegsverlauf setzte sich die neue Technik durch und war ab etwa 1920 Standard – von einigen Kleinstwagen abgesehen.

Somit haben wir erste Indizien für eine Datierung in die Zeit von 1913/14. Weitere Hinweise liefern uns die drei schrägstehenden Luftschlitze in der hinteren Hälfte der Motorhaube.

Diese Konstellation findet man nach meinem Eindruck so nur bei Wagen der sächsischen Manufaktur Horch – hier am kleinen Modell 8/24 PS zu besichtigen:

Horch 8/24 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Dieses Dokument aus dem Fundus des Dresdener Sammlers Matthias Schmidt hat den Vorteil, dass es auch den Markenschriftzug auf dem Kühler und den “Schnabelkühler” zeigt, den Horch 1913 einführte und der nur bis 1914 verbaut wurde.

Vergleichen Sie einmal die nach vorn sanft abfallende Form des Kühleroberteils mit der des eingangs gezeigten Wagens – auffallend ähnlich, nicht wahr?

Nur die Proportionen der beiden Wagen wollen nicht übereinstimmen, auch unterscheidet sich die Zahl der Bolzen an der vorderen Radnabe.

Das ist aber kein Grund, den heutigen glänzenden Kandidaten nicht ebenfalls als Horch von 1913/14 zu identifizieren. Denn wie damals üblich unterschieden sich die unterschiedlich motorisierten Modelle eines Herstellers meist nur in den Dimensionen.

Das kann man schön am folgenden Horch nachvollziehen, der ebenfalls mit drei schrägstehenden Luftschlitzen in der hinteren Haubenhälfte und Schnabelkühler daherkommt, aber wesentlich größer ist als der Typ 8/24 PS:

Horch Aufsatzlimousine von 1913/14; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dass obiges Exemplar einen geschlossenen Aufbau trägt, können wir getrost ausblenden. Denn bei diesen frühen Automobilen war in der Regel nur der Vorderwagen marken- und typspezifisch, die übrige Karosserie konnte vom Kunden frei gewählt werden.

Festzuhalten ist hier auch die übereinstimmende Gestaltung der Radnaben. Von daher bin ich – im Rahmen des Möglichen – sicher, dass auch der heute vorgestellte Wagen aus dem Fuhrpark der 105. Infanterie-Division ein großer Horch von 1913/14 war.

Als Motorisierung kommen vor allem die beiden mittleren Vierzylinder 14/40 PS (3,6 Liter) und 18/50 PS (4,7 Liter) in Betracht. Denkbar ist außerdem der ab 1914 gebaute Hubraumriese 25/60 PS (6,4 Liter), der identische Außenabmessungen aufwies.

Viel mehr lässt sich nach meinem derzeitigen Kenntnisstand zu dem großen Tourer auf dem heute vorgestellten Wagen nicht sagen.

Wie man sieht, hatte er zum Aufnahmezeitpunkt vom einstigen Glanz schon ein wenig eingebüßt und die eine oder andere Formveränderung erfahren.

Nur der auf dem Trittbrett montierte Karabiner des deutschen Standardtyps K98k wirkt noch fabrikneu – er war für Notfälle vorgesehen:

Auch der preußische Adler erscheint hier noch frisch und unversehrt, doch waren seine Tage gezählt, als der Fotograf den Auslöser betätigte. Die damaligen Zeitgenossen und auch der Fahrer dieses Horch konnten das nicht wissen.

Wo mögen die Gedanken des Kraftfahrers am mächtigen Lenkrad zum Zeitpunkt der Aufnhame gewesen sein? Wohl daheim bei seiner Familie, für die diese Aufnahme vermutlich gemacht wurde.

Als Chauffeur irgendwelcher “hohen Tiere” hatte er es vergleichsweise gut getroffen, während der Großteil seiner männlichen Altersgenossen in den Schützengräben täglich dem Tod ins Auge sahen.

Für die Männer dort war Preußens Glanz schon kurz nach Kriegsausbruch passé, als der große Horch-Tourer noch eine glänzende Erscheinung abgab.

Doch war es nur eine Frage der Zeit, bis auch dieser Wagen und die Abenteuer, die er erlebt haben mag, Geschichte waren.

Von diesen Horch-Automobilen jener Zeit, die nur in wenigen hundert Exemplaren entstanden und hohen Chargen vorbehalten waren, haben so gut wie keine die Zeiten überdauert.

So sind es nur solche Bilder, auf denen sie ein letztes Mal von Preußens Glanz künden…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Was sich Frauen wünschen! Willys-Knight 70 “Six”

Heute kommen sowohl die männlichen Leser auf ihre Kosten als auch die weiblichen (ich weiß von mindestens einer handvoll…).

Die Herren bekommen schwarz auf weiß die Antwort auf die für viele ungeklärte Frage, was sich eigentlich Frauen wünschen – die Damen unterdessen bekommen in schwarz-weiß einen echten Frauentyp präsentiert!

Selbstverständlich lesen Sie hier ja auch deshalb mit, weil es nicht bloß um Autos aus Vorkriegszeiten geht, sondern man oft etwas über Menschlich-Allzumenschliches lernt.

Ich erspare mir und Ihnen weitere Vorreden und halte gleich’s für Erste fest, was es braucht, um ein echter Frauentyp zu sein, dem die Damen bereitwillig Tür und Tor öffnen und für den sie gerne einen Haufen Geld hinlegen, nur um ihn ganz für sich zu haben.

Also: leicht lenkbar sollte er sein, einfach zur Aktivität zu motivieren, problemlos dorthin zu manövrieren, wo man ihn haben will und allgemein einfach in der Handhabung. Insgesamt sollte es eine Beziehung sein, die sich völlig reibungslos gestaltet.

Das war es auch schon. Von Äußerlichkeiten keine Rede, unauffälliger Durchschnitt genügt vollkommen, um von Frauen mit offenen Armen willkommen geheißen zu werden!

Diese sensationelle Erkenntnis entspringt freilich nicht meiner persönlichen Erfahrung, vielmehr habe ich sie 1:1 diesem Dokument entnommen, in dem bereits 1926 alles festgehalten wurde, worauf es der modernen Frau wirklich ankommt:

Willys-Knight-Reklamne von 1926; Original: Sammlung Michael Schlenger

Natürlich habe ich mir bei der Interpretation dieser Reklame der amerikanischen Marke Willys Knight einige Freiheiten genommen – aber Sie werden alles oben Aufgeführte dort wiederfinden, auch wenn der Kontext ein wenig anders sein mag.

Tatsächlich warb die seit 1909 bestehende Mutterfirma Willys-Overland aus Toledo in Ohio, mit dem Sechsyzlindertyp 70 ab 1926 gezielt um Käuferinnen aus der Mittelklasse, die einen echten Frauentyp für den Alltag suchten, der in den Staaten damals schon von jedermann mit dem Automobil bewältigt wurde.

Der Zusatz “Knight” in der Typbezeichnung spielt nicht etwa auf vermeintliche “ritterliche” Qualitäten an, mit denen man den Wagen der Damenwelt anpreisen wollte.

Vielmehr weist er auf das beim Motor verwendete Patent von Charles Knight hin, bei dem der Gaswechsel anstatt durch Ventile über bewegliche Hülsen erfolgte, die um den Kolben herum angebracht waren und deren Betriebsgeräusche weit geringer ausfielen.

Willys-Overland nutzte diese Technik von 1914 bis um 1930 und verbaute bei seinen gehobenen Modellen so viele Motoren des Knight-Typs wie kein anderer Hersteller auf der Welt. Die mit der genialen Konstruktion einhergehenden spezifischen Probleme (Dichtigkeit und Ölverbrauch) scheint man zumindest hinreichend in den Griff bekommen zu haben.

Die Overland-Einsteigermodelle und der ab 1927 gebaute preisgünstige Whippet besaßen dagegen Motoren mit konventionellem Ventiltrieb.

Während also unter der Haube des Willys-Knight ein durchaus feines Aggregat (im Idealfall) unauffällig seine Arbeit verrichtete, hatte man – wie gesagt – auf das Äußere keine besondere Sorgfalt verwendet.

Tatsächlich kam auch der Frauentyp “Willys Knight” anno 1926 vollkommen durchschnittlich daher, und das war es vermutlich auch, wonach den Damen der Mittelschicht Sinn stand nach dem Motto: keine Extravaganzen, das sorgt nur für Neid und Getuschel.

So werden mir nun die Leserinnen gewiss beipflichten, dass es an diesem Frauentyp rein gar nichts zu beanstanden gab – gepflegtes Erscheinungsbild ohne auffällige Eigenheiten und für den Alltag einer Zweierbeziehung kompetent wirkend:

Willys Knight von 1926/27; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wie die eingangs zitierte Reklame verheißt, darf man bei diesem Exemplar zurecht leichte Lenkbarkeit, mühelose Kontrolle und reibungsloses Funktionieren erwarten, meine ich.

Sollte sich das Bild indessen aus weiblicher Sicht ganz anders darstellen und der vermeintliche Frauentyp schon bei der geringsten Prüfung seiner Qualitäten durchfallen, dann bitte ich um Gegendarstellung im Kommentarbereich.

Wenn Willys-Overland also zuviel versprochen haben sollte, kann der “Frauentyp” leider nicht mehr beanstandet werden – 1942 endete diese Episode der Firmengeschichte und konzentrierte sich ganz auf einen sehr maskulinen Typ – den legendären Jeep.

Das ist eine andere Geschichte, die ich hier aber nicht erzählen kann, so sehr sich dies Männer vielleicht wünschen mögen…

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Fund des Monats: Ein Sablatnig 6/30 PS

Der Fund des Monats Juli hat eine lange Vorgeschichte und kommt auf verschlungenen Wegen daher – die längere Zeit durch die Luft führen, bevor wir schließlich auf dem Boden der Tatsachen landen…

Am Anfang meiner persönlichen Begegnung mit dem Namen Sablatnig steht diese nette Postkarte, die ich irgendwann im Rahmen meiner kleinen Sammlung von Dokumenten der frühen Luftfahrt fand:

Sablatnig-Werbemotiv; Reproduktion aus P.A.R.C.-Archiv-Edition, Flensburg

Die Beschriftung im unteren Teil dürfte neuzeitlichen Ursprungs sein, doch passt sie inhaltlich vollkommen zum Motiv.

An Ostern 1919 fand nämlich mit einem Passagier-Doppeldecker wie auf der Abbildung der erste deutsche Verkehrsflug ins Ausland statt. Er führte vom Standort der Sablatnig-Flugzeugwerke in Berlin über Warnemünde ins dänische Kopenhagen.

Die verwendete Maschine des Typs P1 war bereits ab Herbst 1918 entwickelt worden – parallel zum Bau selbstentwickelter Kampflugzeugtypen für das deutsche Militär.

Trotz der achtbaren im 1. Weltkrieg gebauten Gesamtstückzahl (167 Flugzeuge) gehören die Maschinen von Sablatnig heute zu den vergessenen Kapiteln der deutschen Luftfahrtgeschichte.

Allerdings wurde 2001 ein hervorragendes Werk über den Schöpfer der Sablatnig-Werke veröffentlicht, auf das ich mich hier stütze (Karl-Dieter Seifert: Josef Sablatnig, GBSL-Schriftenreihe 6, Nora-Verlag. Berlin).

Die Story beginnt 1886 im österreichischen Klagenfurt mit der Geburt von Josef Sablatnig. Schon während seines Maschinenbaustudiums bewegt sich Sablatnig in der Welt der Motoren und außerdem im Luftraum der Phantasie.

1903 unternimmt er mit Freunden Gleitflugversuche, die noch erfolglos bleiben. Doch die Faszination des Fliegens lässt ihn nicht los. Nach dem Erwerb seines Ingenieur-Diploms anno 1908 sehen wir ihn schon bald als Flugpionier mit Wright-Konstruktionen.

Seinen Pilotenschein erhält er nachträglich 1910. Ab 1911 unternimmt er Flüge mit einem Farman-Doppeldeckern, wobei er auch schon mutige Passagiere mitnimmt.

Als Konstrukteur eigener Maschinen tritt Sablatnig ab 1912 in Erscheinung. Jedoch entscheidet sich das österreichische Militär gegen seine Entwürfe.

Das entmutigt Sablatnig keineswegs und so wird er 1913 Teilhaber an den Union-Flugzeugwerken in Berlin, wo er auch an den Konstruktionen mitwirkt. Nach Beginn des 1. Weltkriegs ist er bis 1915 als Marineflieger aktiv, wird dann aber freigestellt.

Bis Kriegsende konstruiert er Flugzeugtypen für unterschiedliche Zwecke – vom Aufklärer über Jäger bis hin zu leichten Bombern. Die Fertigung erfolgt ab 1916 unter eigenem Namen im einstigen Goetze-Werk, von dem er auch die Belegschaft übernimmt.

Damit wären wir auch fast wieder am Ausgangspunkt – dem Kopenhagen-Flug des noch 1918 aus dem Bomber N1 entwickelten ersten Passagiertyps.

Eine Weile kann sich Sablatnig mit solchen einfachen Verkehrsmaschinen über Wasser halten. Doch erkennt er, dass die Zukunft dem Ganzmetallflugzeug gehört, wie es Junkers mit der F13 vorgestellt hatte. Dafür fehlt der Firma von Sablatnig freilich das Knowhow und 1924 ist der Flugzeugbau unter seinem Namen Geschichte.

Doch unterdessen hat sich Sablatnig neuen Tätigkeitsfeldern zugewandt. Nach Versuchen, die bis 1919 zurückreichen, baute Sablatnig 1921 den Prototyp eines Kleinwagens mit “Baer”-Motor, der jedoch nicht in Serie ging.

Sablatnig war sich der Problematik bewusst, dass Anfang der 1920er Jahr dutzende Entwickler am deutschen Markt mehr oder minder das Gleiche versuchten: sich mit einem vollwertigen Automobil am unteren Ende des Markts zu etablieren.

Sie übersahen dabei alle, dass es in diesem Marktsegment schlicht an Käufern mangelte – die in Kleinstserien gebauten Entwürfe waren viel zu teuer, um auch nur annähernd in Reichweite von Normalverdienern zu kommen.

Wie einige andere meinte Sablatnig, dem Dilemma zu entgehen, indem er etwas Besonderes bot – einen kopfgesteuerten Sechszylinder mit 1,5 Liter Hubraum und 30 PS. Hier haben wir das moderne Aggregat:

Sablatnig-Antriebsstrang, aus: Joachim Fischer, Handbuch vom Auto, 1927; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Damit trat Sablatnig freilich in der Mittelklasse gegen etablierte Konkurrenz viel größerer und besser kapitalisierter Firmen mit großem Niederlassungsnetz an.

Das konnte nicht gutgehen, auch wenn sich der Sablatnig-Wagen durch einige konstruktive Besonderheiten auszeichnete und mit Vierradbremse durchaus auf der Höhe der Zeit war.

Für die Produktion hatte man übrigens die renommierte Brücken- und Waggonbaufirma Beuchelt & Co. aus Grünberg in Schlesien gewonnen – neben Beckmann der einzige mir bekannte Autobauer aus dieser Region.

Jedenfalls trat man 1925 auf der Automobilausstellung unter dem Markennamen Sablatnig mit dem 6/30 PS-Typ an, doch konnte man damit nur begrenzten Erfolg verzeichnen. Schon 1926 wurde die Abteilung Automobilbau bei Beuchelt & Co. wieder geschlossen.

Wie öfters bei am Markt vorbeientwickelten Wagen scheint man eine gewisse Stückzahl im Droschkengeschäft untergebracht zu haben. Darauf weisen einige Aufnahmen hin. Wieviele Sablatnig-Autos letztlich entstanden, muss wohl offen bleiben.

Gewisse Spuren hat der Typ 6/30 PS dennoch hinterlassen, wie bereits die zuvor gezeigte Abbildung beweist. In derselben Publikation von 1927 findet sich eine weitere:

Sablatnig 6/30 PS Tourer, aus: Joachim Fischer, Handbuch vom Auto, 1927; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Gut zu erkennen ist hier, dass der Sablatnig-Wagen eine auffallend tiefe Straßenlage hatte. Leider ist über seine Fahreigenschaften nach meinem Kenntnisstand nichts überliefert.

Sollte jemand über eine zeitgenössische Besprechung des Autos verfügen, wäre es großartig, diese in Auszügen hier zitieren zu können. Auch weitere Reklamen oder sonstige Dokumente zum Sablatnig 6/30 PS wären hochwillkommen.

Dass es in der Hinsicht noch einiges geben muss, was bislang unerkannt in Archiven schlummerte, das beweist der heutige Fund des Monats.

So konnte Leser Klaas Dierks ein Originalfoto erwerben, das einen Sablatnig 6/30 PS von seiner besten Seite und überdies in hervorragender Qualität zeigt:

Sablatnig 6/30 PS Tourer; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Schon die ungewöhnliche unterschiedlich hohe Anbringung der gelochten Trittschutzbleche auf dem Schwellerblech unterhalb der Türen genügt hier, um diesen Tourer als identisch mit dem Sablatnig auf der zuvor gezeigten Buchabbildung ansprechen zu können.

Das setzt freilich voraus, dass man diese Abbildung kennt. Tatsächlich bekam unser Mitleser und Sammlerkollege Klaas Dierks ganz von alleine heraus, dass sein Foto einen solchen Sablatnig zeigt.

Er tat nämlich genau das Richtige und nahm die Partien genauer unter die Lupe, die in solchen Fällen am vielversprechendsten ist – Kühler und Nabenkappe:

Zwar führte das schwer erkennbare Emblem auf dem Kühlergehäuse mangels Vergleichsmaterial nicht weiter – doch das geometrische Element auf der Nabenkappe des Vorderrads erwies sich als Schlüssel zur Identikation.

Es findet sich identisch auf der Abbildung eines Sablatnig-Wagens in der 2019 erschienenen Neuauflage des Standardwerks “Deutsche Autos von 1920-1945” von Werner Oswald (S. 538).

Der Abgleich mit der oben gezeigten Buchabbildung lieferte die Bestätigung, wobei ins Auge fällt, dass die Luftschlitze in der Motorhaube anders ausgeführt sind als auf dem Foto einer Sablatnig-Limousine im Oswald’schen Opus.

Letztlich zählt aber nur, überhaupt die Aufnahme eines Sablatnig 6/30 PS in derartiger Qualität zeigen zu können – meines Erachtens haben wir hier das bislang hervorragendste Fotodokument eines dieser vergessenen Wagen mit faszinierender Vorgeschichte.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass Josef Sablatnig auch nach seinem kurzen Ausflug in die Welt des Automobils unermüdlich neue Projekte begann und für kurze Zeit sogar für den einstigen Konkurrenten Junkers freiberuflich tätig war – das war im Jahr 1931.

Vielleicht zu den Höhepunkten seines Lebens sollte freilich etwas anderes gehören: 1927 kehrt Sablatnig nämlich ganz praktisch in die Welt der Fliegerei zurück. So wird ihm die Ehre zuteil, in Italien die neue Macchi M.52 einzufliegen – eine speziell auf Geschwindigkeitsrekorde für Wasserflugzeuge zugeschnittene Maschine mit 1.000 PS starkem Fiat-12-Zylinder-Motor.

Sablatnig erreichte damals eine Höchstgeschwindigkeit von 450 km/h (spätere Versionen überschritten sogar die 500er Marke) – für den Flugpionier der ersten Stunde und einstigen Marineflieger wird das ein erhebendes Erlebnis gewesen sein.

Zugleich erfahren wir in dem erwähnten Buch über Sablatnig, dass dieser kühne Pilot und begabte Konstrukteur ein sensibler Mensch gewesen sein muss.

Sein letzter Tagebucheintrag stammt vom 15. Juni 1945, am nächsten Tag wurde er von der sowjetischen Besatzungsmacht abgeholt und in ein Lager verbracht, wo er bald darauf stirbt.

Ein Mithäftling erzählte später, dass Sablatnigs letztes Vergnügen war, im Lager Geige spielen zu können. Vielleicht hätte es ihm gefallen, dass sich im 21. Jh. noch Menschen seiner erinnern, unter anderem weil er auch einmal Autos konstruiert hat…

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Taufpate gesucht! Ein spezieller Ford “Rheinland”

Der “Fund des Monats” rückt näher – doch vorher muss ich noch das Foto eines an sich ziemlich konventionellen Vorkriegswagens einschieben.

Es zeigt ein weiteres Exemplar des zur Mitte der 1930er Jahre von den Kölner-Fordwerken gebauten Typs “Rheinland” – formal und technisch dem kurzlebigen Ford Model 4/40 aus den Staaten entsprechend.

Einige tausend Exemplare des technisch zwar biederen, aber immerhin 50 PS leistenden Wagens mit seinem elastischen 3,3 Liter-Motor entstanden zwischen 1934 und 1936.

Einige davon habe ich vor rund drei Monaten hier vorgestellt. Daher will ich heute nicht allzuviele Worte zu dem Typ an sich verlieren.

Mir geht es um etwas ganz anderes – ich suche nämlich einen Taufpaten! Nicht, dass ich auf meine alten Tage auf die Idee gekommen wäre, Nachkommen zu hinterlassen (außer vielleicht ein paar nette Autoporträts im Netz und Bildbelege in der Literatur).

Nein, ich brauche bloß jemanden, der sich der Verantwortung stellt, diesem Exemplar eines Ford “Rheinland” einen passenden Namen zu geben, der nicht einer spontanen Eingebung entspringt oder durch einen Kinofilm inspiriert ist, sondern auch morgen noch Bestand hat:

Ford “Rheinland”; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Der Ford “Rheinland” hat doch bereits einen Namen, mögen Sie jetzt einwenden – ganz so wie der Opel “Blitz”-Omnibus hinter ihm.

Gewiss – aber dennoch bin ich im Zweifel, wie ich den Wagen genau ansprechen soll. Das liegt schlicht daran, dass er einen Aufbau trägt, den man so nicht alle Tage findet, schon gar nicht an einem Ford dieses Typs.

Was sehen wir hier? Nun, das wäre leicht zu sagen, wenn der Ford ein geschlossenes Dach hätte wie das folgende Exemplar – dann wäre er mit seinem sechsfenstrigen und womöglich extralangen Aufbau als Pullman-Limousine anzusprechen:

Ford “Rheinland” PUllman-Limousine; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Gut, dann nennen wir diese Ausführung mit dem über die ganze Länge zu öffnenden Dach bei festen Seitenteilen doch einfach “Rolldach-Limousine”, oder?

Nein, damit wären wir kein seriöser Taufpate, denn dann müsste das Rolldach noch vor dem Rückfenster enden, das tut es aber nicht.

Gerollt ist es übrigens auch nicht, vielmehr ist es nach Cabriolet-Art gefaltet und wird von seitlichen Sturmstangen gehalten. Ein Cabrio ist es deshalb aber natürlich nicht, denn dann dürfte es seitlich keine festen Tür- und Fensterrahmen haben wie dieser “Rheinland”:

Ford “Rheinland”; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wie wäre es vielleicht mit Cabrio-Limousine?

Das geht schon eher in die richtige Richtung, denn diese zeichnet sich durch ein Cabrio-Verdeck bei feststehenden Seitenteilen aus. Nach meinem Eindruck wurde die Bezeichnung aber nur bei Wagen mit ein oder zwei Seitenfenstern verwendet.

Interessanterweise kann ich bislang mit keinem Foto eines Ford “Rheinland” mit Aufbau als Cabrio-Limousine aufwarten – daher muss ersatzweise dieser Ford “Eifel” zur Illustration des Konzepts herhalten:

Ford “Eifel” Cabrio-Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Was käme nun noch für eine angemessene Namensgebung unseres eingangs gezeigten “Rheinland” in Betracht?

Moment mal, es gab in den 1920er Jahren doch das Konzept des Sedan-Cabriolets. Dieser Aufbau vereinte Elemente von Limousine (wie feststehende Türsäulen) und Cabriolet (wie voll versenkkbare rahmenlose Seitenscheiben).

Hier haben wir einen Horch des Achtzylinder-Typs 350, welcher als solche Sedan-Limousine verfügbar war:

Horch 8 Typ 350 Sedan-Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Aber so ganz passt das immer noch nicht zu unserem Ford “Rheinland”, nicht wahr?

Seine Besonderheit liegt letztlich in der Kombination aus sechs Seitenfenstern, festen Tür- und Fensterrahmen und vollwertigem Cabrioletverdeck mit Sturmstange.

Mir fällt dazu nur eine passende Bezeichnung ein, die mir allerdings bislang auch nur ein einziges Mal begegnet ist – und zwar: “Landauline”.

Dass es einen Aufbau dieses Namens gab, das lernte ich auch erst, als ich hier diesen Wanderer W11 besprach, der auf einem Foto von Leser Martin Möbus festgehalten ist:

Wanderer W11 “Landauline”; Originalfoto: Sammlung Martin Möbus

Könnte das die Lösung für unser Namensfindungsproblem sein?

“Landauline” klingt sympatisch, aber vielleicht ein wenig zu feminin für den robust auftretenden Ford “Rheinland”.

Also, was meinen die Karosseriekenner unter den Lesern?

Was wäre der am besten passende Name für diesen speziellen Ford “Rheinland”, der übrigens in Deggendorf (Bayern) zugelassen war?

Bitte denken sie daran:

Die Rolle als Taufpate ist eine durchaus Verantwortungsvolle, also ist Ernsthaftigkeit angesagt – es sei denn, sie verfügen über ein besonders schöpferisches Sprachtalent und können etwas originelles Neues kreieren…

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Wunderbar wandelbar: Steyr Typ XII Tourenwagen

Seit es Automobile gibt, stehen sich zwei Fraktionen unversöhnlich gegenüber – die Anhänger offener Aufbauten und die Verfechter der geschlossenen.

Beide wissen für ihre Überzeugungen gute Argumente ins Feld zu bringen – ganz wie im Fall der politischen Ideale der offenen und der geschlossenen Gesellschaft.

Wir in Sachen Karosserievielfalt ziemlich kurzgehaltenen Zeitgenossen wissen meist nur noch zwischen Limousine und Cabriolet zu unterscheiden. Diese bescheidene Auswahl erfordert eine klare Richtungsentscheidung.

Dass es dazwischen eine Vielzahl von Abstufungen und Varianten geben kann, dass wussten noch unsere Altvorderen. Und wie im Fall des Wettstreits zwischen offener und geschlossener Gesellschaft zeigt sich, dass sich das Beste beider Welten vereinen lässt.

Dazu muss man freilich die Zwischentöne kennen und ihnen Raum geben. Das tun wir heute anhand eines österreichischen Automobils – des Typs XII von Steyr.

Mit nur 1,6 Litern Hubraum und 30 PS Leistung bewegte sich der 1926 eingeführte Wagen auf den ersten Blick in konventionellen Gefilden. Doch kaum jemand sonst bot in dieser Klasse einen Sechszylinder-Motor, der dank obenliegender Nockenwelle ausgesprochen drehfreudig und zugleich robust war.

Bis Produktionsende 1929 entstanden über 11.000 Exemplare – für die kleine (aber feine) österreichische Automobilindustrie ein beachtliches Ergebnis. Ganz geschlossene Aufbauten waren mit Abstand am teuersten – sie blieben trotz ihres unübertroffenen Wetterschutzes die Ausnahme.

Eines dieser seltenen Exemplare ist hier auf einem Foto zu sehen, das mir Leser Klaas Dierks in digitaler Form aus seiner Sammlung übermittelt hat:

Steyr Typ XII Limousine; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Österreichische Enthusiasten werden vielleicht mit Genugtuung zur Kenntnis nehmen, dass es sich wieder einmal um ein in Deutschland zugelassenes Fahrzeug handelt. In diesem Fall haben wir es mit einer Registrierung in Anhalt zu tun.

Tatsächlich fanden Steyr-Wagen auch beim Nachbarn mit seiner weit größeren Autoindustrie immer wieder Freunde – sie boten Qualitäten, die einheimische Produkte vermissen ließen.

Das war offenbar auch die Auffassung eines Paars aus Hamburg, das sich ebenfalls für einen Steyr Typ XII entschied – allerdings stand den Herrschaften der Sinn nach einem sportlich wirkenden Cabriolet:

Steyr Typ XII Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Diese Ausführung war vorrangig für die Fahrt zu zweit gedacht – bei geschlossenem Verdeck saßen etwaige Mitreisende im Dunkeln.

Immerhin bot das gefütterte Verdeck guten Regenschutz, dämpfte Außengeräusche und wurde durch eine massive Sturmstange in Form gehalten.

Die Limousinenfraktion wird gleichwohl auf das bessere Platzangebot und den hellen Innenraum mit den großen Glasflächen verwiesen haben, welcher das Reisen auch bei schlechtem Wetter angenehm machte.

Das Beste aus diesen beiden Welten vereinte jedoch eine dritte Variante, die auch beim Steyr Typ XII die verbreitetste war – der Tourenwagen!

Meist findet man ihn auf Fotos mit niedergelegtem Verdeck wie hier:

Steyr Typ XII Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

War das Wetter passabel – also regnete es nicht gerade – fuhr man meist offen, auch wenn es dann auf den hinteren Plätzen zugig zuging.

Ein geschlossener Kragen und eine Kopfbedeckung waren dann ratsam – vermutlich hat die dunkelhaarige Insassin nur für das Foto Kopftuch oder Kappe abgenommen.

Bemerkenswert ist bei dem hier abgebildeten Wagen, dass er an den Vorderkotflügeln angebrachte Ersatzräder besitzt – meist waren diese bei der Tourenwagenausführung des Steyr Typ XII am Heck angebracht, was wohl die preisgünstigere Lösung darstellte.

Einen wichtigen Unterschied zum zuvor gezeigten Cabriolet stellt das ungefütterte Verdeck dar, welches sich daher auch ganz flach niederlegen ließ, wie hier zu besichtigen.

Nur hin und wieder findet sich eine Originalaufnahme, auf der ein Steyr XII Tourer mit geschlossenem Verdeck zu sehen ist. Das ist so selten, dass man nehmen muss, was man kriegen kann – also entschuldigen Sie bitte die mäßige Qualität der folgenden Aufnahme:

Steyr Typ XII Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dass wir es mit einem Steyr zu tun haben, ist überhaupt nur an dem ungewöhnlichen Lochkreis der sechs Radschrauben und dem großen Nabendeckel zu erkennen.

Davon abgesehen könnte dies eirgendein Tourenwagen aus dem deutschsprachigen Raum um die Mitte der 1920er Jahre sein. Abgelichtet wurde das Auto vor der tristen Kulisse eines “Lichtspiel Excelsior” – vermutlich befinden wir uns hier am Lieferanteneingang.

Der eigentliche Reiz liegt ohnehin in etwas anderem. Man kann nämlich an diesem Exemplar das Erscheinungsbild des geschlossenen Tourenwagenverdecks mit seinem schlichten Holzgestänge studieren.

Man ahnt, dass sich der Wind- und Kälteschutz auf den einer Stoffplane beschränkte. Sonderlich elegant wirkt der voluminöse Aufbau auch nicht, wenngleich für meinen Geschmack ein geschlossener Tourer stets eindrucksvoller aussieht als ein offener.

Seitenfenster sind nicht zu sehen – den Luxus gläserner Kurbelscheiben wie beim Cabriolet gab es bei Tourenwagen generell nicht. Aber es gab etwas anderes, was die wunderbare Wandelbarkeit des Tourenaufbaus illustriert – seitliche Steckscheiben!

Das klingt erst einmal reichlich abstrakt und man bekommt dergleichen auf alten Aufnahmen nur selten zu sehen. Man muss sich vorstellen, dass zur Ausstattung eines Tourenwagens auch ein Satz an Scheiben gehört, der bei Bedarf seitlich montiert werden konnte.

Um halbwegs Dichtigkeit zu gewährleisten, waren die Scheiben in einem breiten Holzrahmen eingesetzt, der mit Kunstleder bespannt war. Die Scheiben selbst waren aus einem frühen Kunststoff, der dazu neigte, zu zerkratzen und zu vergilben: Zelluloid.

Toll sahen diese Teile also nicht aus, und man verwendete sie eher bei staubigen Straßen oder wenn es zwar trocken, aber doch eher frisch war, also nicht beim idealen Wettter für eine Ausfahrt.

Damit ließ sich ausgerechnet die relativ preisgünstige Tourenwagenvariante in etwas verwandeln, das einen Mittelweg zwischen offenem und geschlossenem Fahren erlaubte.

Wie das Ergebnis beim Steyr XII aussah, das können wir anhand dieses außergewöhnlchen Fotos aus dem Fundus von Leser Matthias Schmidt bestaunen:

Steyr Typ XII Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Wieder wirkt der Steyr hier ganz anders als die anderen bisher gezeigten Varianten.

Die Möglichkeit, das Platzangebot einer Limousine mit der Luftigkeit eines Cabriolets verbinden zu können und bei Bedarf eine halboffene Lösung zu wählen, wie sie später die beliebten Cabriolimousinen boten, das macht den besonderen Reiz des Tourers aus.

Wie im Fall des Widerstreits zwischen offener und geschlossener Gesellschaft, ist für mich hier das “Sowohl als auch” der Weg, der eine ausgewogenes Ergebnis erlaubt.

Offen sein, wenn es nützlich und angenehm ist, bei Bedarf sich vor Widrigkeiten schützen zu können und je nach Situation auch einen pragmatischen Mittelweg zwischen den Extremen zu wählen – das scheint mir generell ein vernünftiger Ansatz im Leben zu sein.

Man sieht am Ende: Wandel kann wunderbar sein, wenn man dabei sachorientiert bleibt. In automobiler Hinsicht gibt es kaum etwas Vernünftigeres als einen Tourer und auch die Käufer des Steyr XII bevorzugten diesen einst mit Abstand…

Steyr Typ XII Tourenwagen in Linz; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

So jung und schon Veteran: Ein Brennabor um 1911

Anfang der 1920er Jahre – also vor gut einem Jahrhundert – konnte man schon sehr früh den zweifelhaften Status des Veteranen erwerben – als junger Mann ebenso wie als solider Gebrauchtwagen. Man musste dazu “nur” den 1. Weltkrieg überstanden haben…

Um besser zu verstehen, wieso das damals so schnell gehen konnte, werfen wir zunächst einen Blick auf das, was Deutschlands damals größte Automobilfabrik im Angebot hatte. Die Rede ist weder von Benz noch Opel, weder von NAG noch Wanderer.

Nein, um 1920 war Brennabor aus Brandenburg an der Havel derjenige Hersteller, welcher dank konsequenter Rationalisierung der Fertigung die höchsten Stückzahlen erreichte.

So ist es kein Wunder, dass man speziell dem Typ P 8/24 auf alten Fotos am laufenden Band begegnet. Lediglich die ganz frühen Ausführungen mit dem sportlich wirkenden Spitzkühler nach Vorlage von Benz finden sich nicht ganz so häufig:

Brennabor Typ P 8/24 PS um 1920; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Typisch für die frühen Modelle war neben besagtem Spitzkühler mit aufgesetztem “B” das Fehlen von Haubenschlitzen und die optisch nach hinten versetzt wirkende Vorderkotflügel.

Gelegentlich bringe ich wieder eine Auswahl von Fotos zu diesem nur auf den ersten Blick eigenschaftslos erscheinenden Modell.

Jedenfalls war Brennabor damit gestalterisch auf der Höhe der Zeit, zumindest am deutschen Markt. Und jetzt sehen wir uns an, wie ein Brennabor gerade einmal 10 Jahre zuvor ausgesehen hat – wie aus einer anderen Welt:

Brennabor Chauffeur-Limousine um 1911; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Diese beeindruckende Aufnahme verdanken wir Leser Matthias Schmidt aus Dresden. Sie zeigt ebenfalls einen Brennabor, doch dieser weist außer dem Namen und (wahrscheinlich) der Motorengröße keine Gemeinsamkeit mit dem Typ P 8/24 PS auf.

Wer nun meint, dies liege daran, dass wir es in Wahrheit mit einem Minerva zu tun haben, zeigt sich zwar als überdurchschnittlich gebildet in Sachen frühe Automobile – denn die Wagen des belgischen Herstellers besaßen damals eine ähnliche Haubengestaltung, auf den ersten Blick. Falsch liegt man trotzdem mit dieser Einschätzung.

Hier haben wir zu Vergleichszwecken einen Minerva derselben Zeit und mit ähnlichem Aufbau als Chauffeur-Limousine (ausführliches Porträt hier):

Minerva Chaufffeur-Limousine um 1912; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Diese prachtvolle Aufnahme, die uns Leser Klaas Dierks zur Verfügung gestellt hat, erlaubt die Unterscheidung anhand der Gestaltung des Oberteils des in beiden Fällen “getreppt” gestalteten Kühlergehäuses.

Beim Minerva war dieses oben abgerundet, nicht flach, außerdem war eine runde Markenplakette angebracht, was es bei Brennabor vor dem 1. Weltkrieg nicht gab.

Zur Bestätigung flechte ich eine weitere Aufnahme ein, diesmal aus meinem Fundus. Sie zeigt unstrittig einen Brennabor um 1912, denn auf dem Kühler ist der Markenname lesbar (Porträt hier):

Brennabor Landaulet um 1912; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

In der Hoffnung, Sie überzeugt zu haben, kehre ich nun zu dem Foto zurück, das mir Matthias Schmidt in digitaler Kopie zur Verfügung gestellt hat.

Wie in den meisten Fällen steckt etwas Arbeit in der hier zu sehenden Version, falls Sie sich wundern, wie ein rund 100 Jahre altes Foto immer noch so gut aussehen kann.

Den Gesamteindruck störende Flecken und Kratzer habe ich beseitigt, die horizontale Ausrichtung verbessert und den Bildausschnitt so angepasst, dass das Fahrzeug im Mittelpunkt steht.

Das Drumherum war nämlich belanglos, bis auf eine Kleinigkeit, auf die ich noch zurückkomme, weil sie bei der Datierung der Aufnahme hilft. Aber zunächst werfen wir einen näheren Blick auf den Brennabor:

Die deutliche Stufe zwischen der Motorhaube und dem dahinter befindlichen Blech – dem “Windlauf” – ist typisch für die Zeit zwischen 1910 und 1912. Davor und danach findet man sie bei deutschen Serienautos generell nicht.

Ich würde dieses Fahrzeug daher auf “um 1911” datieren, wozu auch die noch gasbetriebenen Parkleuchten passen, denn 1913/14 setzte sich hier bereits elektrische Beleuchtung durch, zumindest bei Wagen der Mittel- und Oberklasse.

Mit den mächtigen Frontscheinwerfern, welche ihre Energie aus dem Karbidgasentwickler bezogen, der auf dem Trittbrett vor den beiden Ersatzreifen angebracht ist, wirkt der Brennabor vollkommen so, wie ein Wagen kurz vor dem 1. Weltkrieg aussah.

Nur: Das Foto ist ganz sicher erst nach dem Krieg entstanden. Darauf verweist das moderne Erscheinungsbild des jungen Mannes am Steuer, der ohne Vatermörderkragen und mit Krawatte nach der neusten Mode gekleidet (und auch frisiert) ist.

Man sieht es ihm nicht an, aber wir können annehmen, dass er zum Aufnahmezeitpunkt bereits ein Veteran war – sofern er im Krieg als Soldat dienen musste.

Was er gesehen und gelebt und vielleicht getan hat, wissen wir nicht. Aber man betrachtet ihn mit anderen Augen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass er ein Zeitzeuge der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts in Europa war.

Während er äußerlich mit der Zeit ging, blieb sein Brennabor das was, er war: Ein Zeuge der Vorkriegsautogeneration, die nach dem 1. Weltkrieg ziemlich schnell “von gestern” war.

Aber wann ist dieses Dokument überhaupt entstanden? Könnte es nicht sogar erst aus den späten 1920er Jahren stammen? Nun, denkbar wäre das schon, modisch wäre der Fahrer auch dann noch auf der Höhe der Zeit gewesen.

Doch schauen Sie sich das Foto noch einmal genau an. Dort sehen sie links – und vor allem rechts – des Autos schemenhaft Frauen, deren Kleider nicht mehr bodenlang waren wie noch anno 1914, aber auch noch nicht so kurz wie Mitte der Zwanziger.

Das spricht dafür, dass uns der heutige Ausflug mit der Zeitmascheine etwa ins Jahr 1920 befördert hat. Viel länger wäre auch kaum noch jemand mit den Gaslaternen am Auto umhergefahren.

Damit war der Brennabor noch mehr Veteran als sein Lenker, und das obwohl er gerade einmal zehn Jahre alt gewesen sein mag, wenn überhaupt.

Das gibt einem vielleicht eine Vorstellung von den rapiden Umbrüchen jener Zeit, im Vergleich zu denen es heutzutage eher beschaulich zugeht.

Ein junger Mann in den Zwanzigern ist heute kein Veteran hierzulande und wir sollten Sorge tragen, dass dies so bleibt. Auch könnte ich ein knapp zehn Jahre altes Auto kaum von einem aktuellen unterscheiden (allerdings interessiere ich mich auch nicht dafür…).

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Typenkunde einmal anders: Opel 7/34 und 8/40 PS

Heute geht es um einen speziellen Opel-Typ der späten 1920er Jahre, der kaum noch bekannt zu sein scheint – das 1927 eingeführte Sechszylindermodell 7/34 PS bzw. 8/40 PS.

Doch eigentlich dient mir dieses Modell nur als Vorwand für eine Typenkunde anderer Art.

Beginnen wir mit dem sicher jedem Vorkriegsenthusiasten geläufigen Opel 4 PS – und zwar in der Ausführung mit dem Ende 1927 vom amerikanischen Packard abgekupferten Kühler:

Opel 4/20 PS Limousine, Bauzeit: 1929-31; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Die schüssel- statt trommelförmigen Scheinwerfer verraten uns, dass dieses Exemplar erst ab Herbst 1929 entstanden sein kann. Bis 1931 blieb das Modell so noch im Rüsselsheimer Programm.

Interessanter als solche Details erscheinen aber die beiden jungen Damen, die hier auf dem Trittbrett um die Wette lächeln. Beide sind ganz der Kamera zugewandt, die Situation ist ihnen keineswegs unangenehm.

Davon – und den Zöpfen – abgesehen, haben sie wenig gemeinsam – sie sind ganz unterschiedliche Typen, und man kann sich vorstellen, dass sie auch später als erwachsene Frauen eine ganz eigene Anmutung hatten.

Man ahnt hier bereits: Nichts wäre langweiliger auf diesem Planeten, als wenn die Menschen – außer vor dem Gesetz – gleich wären. Die Unterschiede machen den Charakter und Reiz aus, was keine Wertung beinhaltet, sondern schlicht eine Tatsache ist.

Das werden wir am Ende des heutigen Blog-Eintrags bestätigt sehen. Doch bis dahin muss ich Sie noch ein wenig mit weiteren Typenstudien belästigen.

Denn Opel brachte angesichts des Erfolgs des kleinen 4 PS-Modells schon 1927 einen großen Bruder heraus, den Sechsyzlindertyp 7/34 PS. Der basierte im Wesentlichen auf der bewährten Konstruktion des berühmten Kleinwagens.

Allerdings sah der ab 1928 mit Motorisierung 8/40 PS ausgestattete Opel viel erwachsener aus:

Opel 7/34 oder 8/40 PS, Bauzeit: 1927-1930 (dieser Wagen: 1927/28); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Auch hier können wir uns wieder dem Studium menschlicher Typen hingeben, jedoch nicht nur auf einer Aufnahme und weniger anhand der weiblichen “Fotomodelle”.

Vielmehr möchte ich Sie für den “Typen” sensibilisieren, welcher vor dem Kühler in damals verbreiteter Pose steht – eine Hand in der Tasche und eine mit der unvermeidbaren Zigarette zwischen den Fingern. Der lässige Hut mit weicher Krempe verleiht einen sportlichen Touch.

Ganz anders der Typ auf der zweiten Aufnahme desselben Opels. Er hat nicht die Posen damaliger Schauspieler studiert und verinnerlicht – sein Ideal ist der ernst dreinschauende Bankertyp mit schlichter “Melone” auf dem Schädel:

Opel 7/34 oder 8/40 PS, Bauzeit: 1927-1930 (dieser Wagen: 1927/28); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Leider wissen wir nichts über die hier abgebildeten Leute und in Abwesenheit irgendwelcher Informationen verdienen sie alle unsere Sympathie, je nach Situation und Lebenslage.

Das gilt auch für die “Trittbrettfahrer”-Typen, die uns als nächste begegnen werden.

Sie dominieren klar die Situation, nur wenige Details deuten darauf hin, dass auch der von ihnen “besetzte” Wagen ein Sechszylindermodell 7/34 oder 8/40 PS war.

Bitte erwarten Sie nicht zuviel in automobiler Hinsicht, wie gesagt betreibe ich heute eine Typenkunde der anderen Art:

Opel 7/34 oder 8/40 PS, Bauzeit: 1927-1930; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wie unterschiedlich Typen wirken können – meinen Sie nicht auch?

Man kann ähnlich gekleidet und frisiert sein, doch es macht einen Unterschied, ob man griesgrämig dreinschaut wie die junge Dame ganz links, oder ob man den Fotografen anlächelt, keck einen schick beschuhten Fuß nach vorn stellt und sich nicht gänzlich in den Pelz einhüllt, bloß weil es gerade wie derzeit im Juli 2023 etwas frisch draußen ist.

Wir wollen aber auch dem Typen zwischen den beiden Maiden Gerechtigkeit wiederfahren lassen. Sein Gesicht hat ein kantiges Profil, die gerade Nase und die hohe Stirn haben etwas Ideales an sich. Es soll Frauen geben, die auf dergleichen achten, warum auch immer.

Mir jedenfalls gefällt sein abwesender, in die Ferne gehende Blick.

Männer haben ja immer etwas vor, wenn meine Theorie zutrifft, dass wir Buben noch nicht viel weiter sind als die Bauern der Jungsteinzeit, die vor rund 7.500 Jahren unsere sesshafte und zugleich rastlose Lebensweise begründeten.

Wenn Sie mir bei meiner wie stets subjektiven Typenkunde gefolgt sind, dann sind Sie jetzt vielleicht bereit für das abschließende Dokument.

Dieses zeigt wiederum einen Opel des Sechszylindertyps 7/34 bzw. 8/40 PS vom Ende der 1920er Jahre.

Der Wagen ähnelt bei oberflächlicher Betrachtung der eingangs gezeigten Limousine des verbreiteten Kleinwagentyps 4/20 PS, doch die Dimensionen und die Ausführung der Luftschlitze in der Haube verraten, dass wir es mit dem selteneren 6-Zylinder zu tun haben:

Opel 7/34 oder 8/40 PS, Bauzeit: 1927-1930 (dieser Wagen: 1927/28); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Hier muss doch den Freunden von Vorkriegs-Opels wie eifrigen Studenten der menschlichen Gattung gleichermaßen das Herz aufgehen, oder?

Viel charakteristischer konnte ein Opel der damaligen Zeit kaum aussehen.

Der markante Kühler, die trommelförmigen Scheinwerfer und die mit eingeprägten Sicken versehenen Vorderkotfügel geben dem Wagen ein klar geschnittenes Antlitz. Daran gibt es nichts auszusetzen – jemand wusste genau, warum man bei Packard Maß nahm.

Doch schon bald wendet sich das Auge von dem in Leipzig zugelassene Wagen ab und den daneben posierenden Personen zu – das Kopfkino beginnt:

Seien wir ehrlich: Mit wirklicher Schönheit ist hier keine der abgebildeten Personen geschlagen – dennoch sind sie mir alle auf eigentümliche Weise sympathisch.

Die Dame ganz links hätte ich mir gut als Lehrerin vorstellen können. Ihrem Nachbarn und mutmaßlichen Partner hätte ich meine Buchhaltung oder – etwas exotischer – die Berechnung einer Kometenflugbahn anvertraut.

Der großgewachsene Mann mit dem dichten Haarwuchs wäre mein bevorzugter Arzt bei einer komplizierten Operation gewesen. Von seiner neben ihm stehenden Partnerin hätte ich mir besseren Klavierunterricht erhofft als den, welchen ich vor rund 40 Jahren genießen durfte.

Immerhin reicht es heute für Fugen von Bach und die eine oder andere Beethoven-Sonate. Die habe ich mir allerdings selbst angeeignet – ebenso wie mein mitunter fragwürdiges “Wissen”, was Vorkriegstypen betrifft…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Alles im Eimer? Ein DKW P15 “Kübelwagen”

Militärfahrzeuge sind normalerweise eine ernsthafte Angelegenheit und sie spielen in meinem Blog allenfalls am Rand eine Rolle.

Wer selbst noch zu Zeiten des Kalten Kriegs gedient hat, weiß aber auch, dass Soldaten berufsbedingt einen speziellen Humor haben – schon deshalb verbietet sich übrigens die Anwesenheit von “Frauensvolk” (Filmzitat, nicht bös gemeint…) beim Militär.

Dieser Humor speist sich aus unterschiedlichen Quellen, wie ich als einstiger Panzergrenadier weiß: dem schwer erträglichen Gehabe komplexbehafteter Unteroffiziere, evident sinnlosen Befehlen und absurden am Schreibtisch ersonnenen Vorschriften, nicht zuletzt dem Auseinderklaffen zwischen dem maßlosen Anspruch deutscher Exzellenz und dem praktischem Versagen von Kriegsgerät schon bei moderater Inanspruchnahme.

Ging es anno 1988/89 auf eigener Kette zu einer Übung, so waren die ersten unserer “Marder”-Schützenpanzer schon kurz hinter dem Rotenburger Kasernentor “im Eimer”. Ganz so lachhaft wie heute war der Zustand der Truppe damals aber wohl noch nicht.

Vom “Eimer” ist der Weg nicht weit zum “Kübel” – und um diese eigentümliche Fahrzeuggattung geht es heute. Im offiziellen Sprachgebrauch nannte man die auf Zivil-PKW basierenden offenen Militärfahrzeuge “Kübelsitzwagen”.

Diese Bezeichnung bezog sich auf die Sitze, die besonderen Seitenhalt bieten sollten, im Idealfall in Kombination mit offenen Türausschnitten. Hier haben wir ein typisches Exemplar in Form eines Stoewer M12 RW:

Stoewer M12 RW Kübelwagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dieses 1940 in der Normandie aufgenommene Fahrzeug habe ich vor längerem hier ausführlich präsentiert.

Solche Wagen mit Kübelsitzaufbau boten praktisch alle deutschen PKW-Hersteller an – in der Hoffnung, an lukrative Aufträge der Reichswehr (später Wehrmacht) zu gelangen.

Die Initiative ging also häufig von den Firmen selbst aus und man scheute sich nicht, auch mit schwach motorisierten Modellen anzutreten, wie etwa Hanomag mit dem Typ 3/20 PS.

Doch vielleicht im Vertrauen auf die Ahnungslosigkeit praxisferner Entscheider am Schreibtisch wagte sich mancher auch mit noch weniger Leistung in den Ring.

Wenn ich nicht völlig danebenliege, haben wir es hier mit so einem Fall zu tun:

DKW Typ P15 “Kübel” (vermutlich); Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

An diesem Fahrzeug ist offenbar so ziemlich alles “im Eimer” und es ist irgendwo neben einer Holzbaracke abgestellt worden.

Vier gutgelaunte Soldaten der Reichswehr hält das nicht davon ab, mit diesem Gefährt frohen Mutes und siegesgewiss an die Front zu “fahren”.

Das Gerät ist übrigens eine Beispiel für eine Variante des Kübelwagens, die einfache Türen aufweist – welche freilich ebenso leicht zu entfernen waren, wie man sieht.

Der Zustand mit platten Reifen, ausgeschlachteten Scheinwerfern und geöffneter Haube lässt darauf schließen, dass dieser Kübelwagen am Ende seiner Dienstzeit angelangt ist.

Das macht ihn freilich kaum weniger interessant. Denn dieses Exemplar fehlte bislang in meiner Kübelwagen-Galerie, die ich bis dato für ziemlich vollständig hielt.

Was könnte hier als Ausgangsbasis gedient haben? Das wollte auch der Besitzer der Originalaufnahme, Leser Klaas Dierks, von mir wissen.

Mir kam an der Frontpartie einiges auffallend bekannt vor:

Bitte prägen Sie sich folgende Details ein:

Kühlergehäuse, trommelförmige Scheinwerfer, optisch zweigeteilte und mit Sicken versehene Kotflügel, Scheibenräder mit vier Radbolzen – nicht zuletzt die Art und Weise, wie die gewölbte Blechpartie hinter der Motorhaube auf den unteren Windschutzscheibenabschluss trifft.

Nun werfen wir einen Blick auf einen DKW des Typs P15 PS, der 1928 als erstes Serienauto des bis dahin als Motorradproduzent bekannten sächsischen Herstellers eingeführt wurde.

Hier haben wir aus ähnlicher Perspektive festgehalten ein vollkommen ziviles Exemplar:

DKW Typ P 15 PS, Roadster, 1928/29; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Sicher sehen Sie die weitgehenden Übereinstimmungen, aber auch einige Unterschiede.

Abweichend ausgeführt sind beim serienmäßigen DKW Typ P 15 PS vor allem die seitlichen Luftschlitze in der Motorhaube. Doch auch der Kühler scheint anders gestaltet zu sein.

Dazu muss man allerdings wissen, dass der neuentwickelte DKW auch mit einem Kühler gebaut wurde, welcher dieselbe Ausbuchtung auf dem Oberteil aufwies wie der zuvor gezeigte “Kübelwagen”.

Ein besonders schönes Beispiel dafür zeigt diese Aufnahme aus dem Fundus von Leser und DKW-Experte Volker Wissemann:

DKW Typ P 15 PS, 1928/29; Originalfoto: Sammlung Volker Wissemann

Auf diesem Foto erkennt man außerdem klar eine oben ausstellbare Windschutzscheibe, wie sie auch das von Reichswehr-Männern “besetzte” Fahrzeug aufweist.

Nicht irritieren lassen sollte man sich von den den mittig an der Vorderachse angebrachten Reibungsstoßdämpfern, die sich als Extra nicht an jedem Fahrzeug fanden.

Volker Wissemann kann auch diesbezüglich mit dem passenden Beweisfoto aufwarten:

DKW Typ P 15 PS, 1928/29; Originalfoto: Sammlung Volker Wissemann

Zwei Hauptunterschiede bleiben indessen: Die abweichenden Luftschlitze in der Motorhaube und nicht zuletzt die Länge des Chassis.

Den DKW gab es ausweislich der Literatur (Thomas Erdmann: DKW Automobile 1904-1945, Verlag Delius Klasing) nur als Zwei- oder Dreisitzer. Auch konnte ich in den mir zugänglichen Quellen keinen Hinweis auf eine Kübelwagenversion finden.

Aber: Die Prototypen des DKW P15 PS besaßen ebenfalls noch senkrechte Haubenluftschlitze, wie sie sich übrigens auch an der Sportversion PS 600 finden.

Ich vermute daher, dass der Reichswehr-Wagen, an dem so ziemlich alles “im Eimer” war, ein speziell für die Truppenerprobung gebautes Fahrzeug auf Basis des DKW P15 mit verlängertem Chassis war.

Eine bessere Erklärung für die vielen auffallenden Übereinstimmungen mit dem zivilen Model bzw. dessen Prototyp habe ich nicht. Aber vielleicht weiß es ja jemand besser als ich und das Fahrzeug entpuppt sich als etwa ganz anderes.

Dann wäre zwar mein schöner Blog-Eintrag “im Eimer”, aber Niederlagen gehören nicht nur beim Militär zum Geschäft. Auf verlorenem Posten kämpfen, ist sinnlos, auch wenn es nur um eine harmlose Sache wie die Deutungshoheit bei alten Autofotos geht.

Daher gilt nun, liebe DKW-Experten: Feuer frei!

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Das Glück liegt in einer Kurve: Ein Auburn von 1926/27

Motorradfahrer kennen das natürlich: “Das Glück liegt in einer Kurve”. Doch auch derjenige, der die unerreichte Individualität des Reisens mit dem Automobil zu schätzen weiß, weiß zugleich, dass der direkte Weg nicht immer der reizvollste ist.

Ein Umweg über demütig der Topographie folgende alte Landstraßen offenbart oft die großartigsten Eindrücke von der Welt.

Mit dem Automobil und ausreichendem Benzinvorrat kann man es sich leisten, unabhängig von Fahrplänen, Schienen und sonstigen einengenden Faktoren eine Landschaft in ihrer Gänze buchstäblich zu “erfahren”, ohne allzuviel Zeit opfern zu müssen.

Gewiss, eine Tour mit dem Fahrrad beispielsweise oder eine Wanderung zu Fuß hat ihren eigenen Reiz und beides möchte ich nicht missen.

Doch für den geplagten Großstädter, der in der Ebene sein Dasein fristet, lässt sich die Wunderwelt der Berge immer noch am besten mit dem Auto in greifbare Nähe holen.

Das mag auch einst das Motiv der Insassen dieses in Wien zugelassenen Tourenwagens gewesen sein:

Auburn Modelljahr 1926/27; © Salzburg-Museum (via Werner Friepesz)

Diese herrliche Aufnahme aus dem Archiv des Salzburg-Museums sandte mir Werner Friepesz mit der Bitte um Identifikation des darauf abgebildeten Wagens zu – verbunden mit der freundlichen Genehmigung, das Foto hier vorstellen zu dürfen.

Festgehalten wurde diese Situation in der kleinen Ortschaft Lofer im Pinzgau (Bundesland Salzburg), soviel war bekannt. Doch um was es für einen Wagen sich handelte, das war offen.

Wie gesagt – der direkte Weg ist nicht immer der reizvollste zum Ziel – und auch wenn ich auf Anhieb wusste, womit wir es zu tun haben, nehme ich mir die Freiheit, auf Umwegen die Lösung zu präsentieren.

Dabei erweist sich einmal mehr: “Das Glück liegt in einer Kurve”, und etwas Glück braucht man schon mitunter, wenn es um die Identifikation solcher Vorkriegswagen geht.

In meinem Fall verhält es sich so, dass ich das Glück habe, von vielen Gleichgesinnten Fotos für meinen Blog zur Verfügung gestellt zu bekommen, an die ich in vielen Fällen kaum oder nie gekommen wäre.

Einer davon ist Klaas Dierks, der mir vor längerer Zeit dieses Foto aus seiner Sammlung in digitaler Form zur Verfügung stellte:

Auburn, Modelljahr 1929/30; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Das schicke 2-Fenster-Cabrio links neben dem Nash konnte ich als Auburn des Modelljahrs 1929/30 identifizieren.

Die Kühlerform und das darauf angebrachte Emblem machten die Identifikation des Herstellers leicht. Doch diesem Dokument verdanke ich auch das Glück einer Kurve – nämlich der geschwungenen Zierleiste auf der Motorhaube – sie gab es so nur Auburn-Wagen von 1926-1930, wenn ich es richtig sehe.

Ein derartig markantes Detail erlaubt dann sogar die eindeutige Ansprache eines ansonsten schwierigen Falls wie dieser leider unscharf wiedergegebenen Limousine:

Auburn, Modelljahr 1929/30; Originalfoto: Sammlung Jörg Pielmann

Auch wenn sich besagte Zierleiste hier nur schemenhaft abzeichnet, erlaubt sie zusammen mit den schrägstehenden Luftschlitzen in der Motorhaube, der opulenten Kühlerform und der optisch zweigeteilten Ausführung der Vorderkotflügel eine sichere Identifikation.

Auch dieser Auburn von 1929/30 besaß dieselbe markante einteilige Stoßstange, die an federnden Haltern angebracht war, wie sie auf den beiden zuvor gezeigten Fotos zu sehen ist. Zwar gab es in den 1920er Jahren ähnliche Teile aus dem Zubehör, doch diese Ausführung war meines Erachtens markenspezifisch.

Nun bilden Sie sich ein eigenes Urteil, wenn Sie den Tourer auf dem Foto des Salzburg Museums näher in Augenschein nehmen:

Auburn Modelljahr 1926/27; © Salzburg Museum (via Werner Friepesz)

Das Glück des Betrachters liegt hier zunächst ebenfalls in der Kurve, welche die Zierleiste auf der Motorhaube bildet. Das muss ein Auburn aus der zweiten Hälfte der 1920er Jahre sein!

Doch mag auch die Frontpartie mit Kühler und Stoßstange auf den ersten Blick mit den entsprechenden Details auf den Fotos von Klaas Dierks und Jörg Pielmann übereinstimmen, so ergeben sich auf den zweiten Blick wichtige Unterschiede.

Die Scheinwerfer sind eindeutig anders gestaltete Modelle, wie man sie Ende der 1920er Jahre nicht mehr findet.

Nun muss das nicht viel heißen, weil bei Importfahrzeugen die jeweils landesspezifischen Vorschriften bei der Beleuchtung zu beachten waren, weshalb die Importeure Scheinwerfer aus heimischer Produktion montierten.

Doch auch drei weitere Elemente sprechen für eine frühere Datierung.

Bei dem Wiener Fahrzeug fehlt die Mittelstrebe im Kühler – ein Hinweis auf eine Entstehung vor 1928, wie mir Leser und Auburn-Besitzer Jason Palmer (Australien) mitteilte.

Des weiteren sind die Vorderkotflügel hier noch nicht glattflächig ausgeführt, sondern lassen noch eingeprägte Sicken erkennen, wie sie Kennzeichen früherer Wagen waren. Sie dienten teils der Stabilisierung, teils hatten sie eine dekorative Funktion.

Nicht zuletzt haben wir wieder einmal Glück mit einer Kurve – diesmal in Form des geschwungenen Seitenteils des Scheibenrahmens an der Frontscheibe. Auch das findet sich Ende der 1920er Jahre kaum noch, insbesondere nicht bei Auburn.

Doch im Modelljahr 1926/27 trifft alles glücklich zusammen, so mein Fazit.

Bleibt die Frage, ob die Wiener Besitzer des Auburn aus dem Archiv des Salzburg-Museums bereits den über 80 PS starken Lycoming-Achtzylindermotor geordert hatten, welcher ab 1925 verfügbar war.

Denkbar ist auch, dass in diesem Wagen der schwächere Sechszylinder verbaut war. Ich vermute aber, dass man sich mit dem Auburn antriebsseitig etwas gegönnt hatte, was die österreichischen Premium-Hersteller damals noch nicht im Angebot hatten.

Denn reisetaugliche Sechszylinder boten damals ja auch Austro-Daimler und Steyr an. Für das ultimative Glück in der Kurve – vorzugsweise beim Anstieg auf einer sich bergauf windenden Paßstraße musste es dann schon ein hubraumstarker Achtzylinder sein.

Dieses Detail werden wir nicht mehr klären können. Aber mit dem Ergebnis dürfen wir auch so zufrieden sein und mein Dank gilt dem Salzburg-Museum, welches uns an diesem schönen Fund am Wegesrand hat teilhaben lassen.

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Spurensuche: Beckmann-Wagen (Folge 1: 1898-1902)

Mitte Juli 2023 – der Sommer ist, wie er sein soll, bloß der “Fund des Monats” ist noch arg weit entfernt. Was tut man also, um seine Blog-Leser bei Laune zu halten?

Nun, man hält sie mit etwas bei der Stange, was das Warten auf “neue” Auto-Sensationen aus alter Zeit erträglicher macht. Dazu muss man schon Außergewöhnliches zu bieten haben.

Dass ich ein geeignetes Thema gefunden habe, das verdanke ich Christian Börner aus Pinneberg. Er ist der Urenkel von Paul Beckmann, der 1898 die erste und wohl einzige schlesische Automobilfabrikation ins Leben rief – in Breslau (heute Wroclaw, Polen).

Über die bis zu Übernahme durch Opel im Jahr 1927 gebauten Beckmann-Wagen ist nicht viel mehr bekannt als das, was schon in den 1960er Jahren Hans-Heinrich von Fersen in seinem Werk “Autos in Deutschland 1885-1920” veröffentlicht hat.

Christian Börner (geboren 1944 in Breslau) hat sich seit 1962 mit der Geschichte der Autofabrik seiner Vorfahren beschäftigt. Seither trägt er unermüdlich alles zusammen, was in Bibliotheken, in Museen, Autoclubs und bei Sammlern zu Beckmann zu finden ist.

Leider blieb die Resonanz auf seine Anfragen oft dürftig. So ist es einerseits beeindruckend, was er bei seinen Recherchen an Material entdecken konnte, andererseits fällt es schwer zu glauben, dass eine so profilierte Marke nicht mehr Spuren hinterlassen haben soll.

Zwar heißt es bei von Fersen in Bezug auf die Beckmann-Wagen, dass die “Verbreitung hauptsächlich auf den schlesischen und ostdeutschen Raum” beschränkt war.

Mir fällt es schwer, dieser These zu folgen. So dient diese zur Monatsmitte erscheinende Folge nicht nur der Erbauung der Leserschaft. Sie soll auch Anreiz und Aufruf sein, noch irgendwo schlummernde Dokumente und Informationen zu Beckmann-Automobilen zutagezufördern.

Nach dieser Vorrede übergebe ich das Wort an Christian Börner, Urenkel von Paul Beckmann, dem Schöpfer der ersten Wagen dieses Namens:

Beckmann-Automobile? Sie meinen wohl Bergmann, ein Berliner Unternehmen, das einst Wagen der belgischen Firma Metallurgique in Lizenz herstellte?

Nein, ich meine tatsächlich: Beckmann-Automobile. Diese wurden von 1898 bis 1926 in Schlesiens Hauptstadt Breslau produziert, also 28 Jahre lang.”

So verlief manches Gespräch mit Experten, als ich als Urenkel des Produzenten vor rund 60 Jahren begann, über die Firma meiner Ahnen und deren Fahrzeuge zu recherchieren.

Firmengründer war Otto Beckmann. Er war Sohn eines Bäckers aus Wohlau/Schlesien und erlernte zunächst das Uhrmacherhandwerk. Nach seinem Umzug nach Breslau erschien es ihm alsbald lukrativer, mit gröberen Objekten umzugehen, denn die Großstadt brauchte Gas- und Wasserleitungen in großem Umfang.

Mit der dabei erworbenen Expertise im Rohrleitungsbereich witterte Otto Beckmann Anfang der 1880er Jahre eine neue Chance. Die Nachfrage nach Fahrrädern boomte, und 1882 startete er die Herstellung der damals so genannten Velocipeden:

Beckmann-Fahrradreklame von 1896; bereitgestellt von Christian Börner (Pinneberg)

Nur ein Jahr nach Erscheinen dieser Reklame – also 1897 – starb Firmengründer Otto Beckmann.

Doch glücklicherweise hatte sein Sohn Paul bereits zeitgemäße „Flausen im Kopf“ herausgebildet, die nach Umsetzung verlangten. 

Er war von den allerersten Motorfahrzeugen angetan und prophezeite ihnen eine große Zukunft. Bereits 1898 bot er ein Motor-Dreirad an, von dem übrgens noch ein Bild fehlt.

1899 brachte Paul Beckmann dann seinen ersten vierrädrigen Motorwagen (Modell XIII) auf den Markt:

Beckmann Typ XIII; Originalreklame von 1900 via Christian Börner (Pinneberg)

Dieser Beckmann-Wagen glich wie viele deutsche Wagen seiner Zeit äußerlich und technisch noch stark damals führenden Vorbildern aus Frankreich, vor allem von DeDion-Bouton. Auch der 1-Zylinder-Motor war kein Eigengewächs, sondern wurde zugekauft.

Jetzt fragen Sie vielleicht, woher Christian Börner die genaue Typbezeichnung dieses Beckmann-Wagens kennt. Auch das kann er uns verraten:

Das bereits 1898 angebotene Motor-Dreirad wurde als Modell XII bezeichnet, die Modelle I bis XI waren Fahrräder. Das Modell XIII war der vierrädrige Wagen.

Das ergibt sich aus der Originalreklame, welche im April 1900 in der Breslauer-Morgen-Zeitung abgedruckt war:

Beckmann-Originalreklame von 1900 via Christian Börner (Pinneberg)

Bereits diese frühe Fahrzeugpalette erscheint zu beeindruckend, um lediglich auf einen lokalen Markt zugeschnitten gewesen zu sein.

Es wäre interessant zu erfahren, in welchen anderen deutschen (oder gar ausländischen) Gazetten diese Anzeige ebenfalls abgedruckt wurde. Wer etwas dazu weiß, bitte melden.

Christian Börner verfügt übrigens über ein Exemplar des Beckmann-Prospekts, in dem die weiteren Einzylindertypen XIV bis XVI beschrieben sind. Hier haben wir das etwas weiterentwickelte Modell XIV:

Beckmann Modell XIV; Prospektabbildung von 1902 aus Sammlung Chr. Börner (Pinneberg)

Auf der gleichen technischen Basis wurde das Model XV angeboten, welches keinen eigenständigen Typ darstellte, sondern sich nur durch das Vorhandensein von Türen vom Modell XIV unterschied. Dennoch ist die Wirkung eine bemerkenswert andere:

Beckmann Typ XV, Prospektabbildung von 1902 aus Sammlung Christian Börner (Pinneberg)

Diese beiden Modelle wurden als “Voituretten” oder auch “leichte Beckmann-Wagen” angeboten. Sie besaßen noch von DeDion zugekaufte Einzylindermotoren mit 6,5 PS Leistung.

Dass Paul Beckmann ehrgeizige Pläne hatte in Sachen Autofabrikation, wurde bald deutlich. Rasch wurde das Angebot um größere Wagen mit 2- bzw. 4-Zylindermotoren erweitert.

Hier haben wir eine um 1902 entstandene Abbildung des Beckmann-Typ XVII mit Motorisierung 12-16 PS, welcher einen wenig erfolgreichen Zwischentyp XVI ablöste:

Beckmann Typ XVII 12-16 PS von 1902; Abbildung via Christian Börner (Pinneberg)

Auch bei diesem Modell wurden zunächst noch französische Zuliefermotoren verbaut.

Doch bereits 1903 entwickelte Beckmann einen selbstgebauten Vierzylindermotor mit beachtlichen 30 PS.

Man hatte offenbar Großes vor in Sachen Automobilbau bei Beckmann in Breslau, und das wollen wir in der nächsten Folge im August näher unter die Lupe nehmen.

Bis dahin haben unsere Sammlerkollegen Zeit, um im eigenen Fundus nach weiteren frühen Dokumenten von Beckmann-Fahrzeugen zu stöbern. Diese würden Christian Börner und ich dann gemeinsam vorstellen auf unserer Spurensuche…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Flugauto anno 1917: Das Apperson “Roadaplane”

Lange hat man nichts mehr von den elektrisch betriebenen “Flugtaxis” gehört, die eine Weile hochgeschrieben wurden wie seinerseits das legendäre Millionengrab “Cargolifter”.

Die Vorstellung, dass sich ein Teil des Alltagsverkehrs in Städten – schon komplex genug am Boden – in die dritte Dimension verlagern soll, ist zwar faszinierend. Kaum eine Zukunftsvision von Science-Fiction-Autoren kommt ohne die Idee aus.

Doch wer glaubt, dass man demnächst mit irgendwelchen Elektrofluggeräten quasi wie im Taxi umhergondeln kann, muss von erstaunlichem Optimismus beseelt sein.

Man muss erlebt haben, was der Pilot einer kleinen Sportmaschine können muss, etwa um bei wechselnden Winden in Bodennähe sicher zu landen. Dann kann man über die Vorstellung, dass Taxifahrer mit oder ohne Soziologiestudium künftig in die Luft gehen, nur milde lächeln – oder sich Sorgen über die Sicherheit am Himmel über einem machen.

Dabei kann sich ein ähnlicher Genuss wie beim Fliegen schon dann einstellen, wenn man auf dem Boden der Tatsachen bleibt und ein souverän dahingleitendes Automobil wählt.

Das versprach jedenfalls einst die US-Firma Apperson aus Kokomo (Indiana), die uns hier schon einmal begegnet ist. Anno 1917 schaltete man diese selbstbewusste Anzeige:

Apperson Reklame von 1917; übermittelt von Varun Coutinho (USA)

Mit salbungsvollen Worten werden hier die Qualitäten des bereits 1916 eingeführten Modells gepriesen, das “sich durch die gleitende Bewegung auszeichnet, auf welche der Name Roadaplane hindeutet“.

Der Wagen wurde serienmäßig als Tourer und Roadster angeboten und konnte bei identischem Radstand von beachtlichen 3,30 Metern mit einem 6-Zylinder (ca. 50 PS) oder einem V8-Motor (ca. 60 PS) geordert werden.

Vollgetankt wog der eindrucksvoll dimensionierte Wagen umgerechnet nur 1.360 Kg, damit dürften die beiden 4,7 bzw. 5,4 Liter großen Aggregate souverän zurechtgekommen sein.

Wie komme ich aber darauf, Ihnen diese Annonce zu zeigen? Nun, sie wurde mir von einem hervorragenden Kenner heute weniger geläufiger US-Marken zugesandt, der mir schon öfters in Fällen helfen konnte, in denen ich nicht weiterkam.

Er konnte nämlich den Tourer auf meinem folgenden Foto als Apperson “Roadaplane” identifizieren und schickte mir in dem Zusammenhang eine digitale Kope der Anzeige zu.

Hier haben wir das Prachtstück, wenn auch aus nicht idealer Perspektive festgehalten:

Apperson “Roadaplane”; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ich hatte aufgrund der Dimensionen der Motorhaube auf ein großvolumiges US-Modell um 1920 getippt, aber auf Apperson wäre ich vermutlich nie gekommen – zumal das “Roadaplane” kein großer Erfolg gewesen zu scheint.

Die dem Wagen zugesprochenen “Flugeigenschaften” mögen einem skeptischen Publikum zurecht ein wenig zu phantastisch vorgekommen sein.

Doch zumindest scheint sich der Apperson “Roadaplane” durch große Zuverlässigkeit ausgezeichnet zu haben. In einem Fahrzeug dieses Typs unternahm nämlich die Varieté-Künstlerin Claire Rochester 1917 eine Fahrt quer durch die Vereinigten Staaten.

Fraglich bloß, ob sie den anvisierten Kundenkreis repräsentierte – jedenfalls verschwand das groß angepriesene Roadaplane bald wieder vom Erdboden, freilich ohne abzuheben…

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Hier gibt’s was zu feiern: Dodge von 1925/26

Erst kürzlich fragte ich an dieser Stelle “Wo geht’s hier zum Sommer?“. Jetzt ist er ohne Zweifel da, auch wenn die angedrohten “Tropennächte” auf die Tropen beschränkt bleiben.

Es ist nach Mitternacht, drinnen ist’s nach vielen Sonnenstunden noch wärmer als draußen. Bis sich das wieder einregelt, macht man alle Fenster auf und legt eine Platte auf. Ja die gibt’s immer noch, genauso wie Kerzen, Violinen oder Olivenöl.

Der Fortschritt ist eine feine Sache, wenn man ihn als Angebot versteht, das sich am Bewährten und Gewohnten zu messen hat. Der Lebenskünstler prüft alles, was die Menschheit irgendwo und irgendwann geschaffen hat und entscheidet, was ihm zusagt.

So gesehen, aber auch nur so gesehen, leben wir in den besten aller Zeiten. Passt uns das neureligiöse Verzichts-Spießertum der Gegenwart nicht, können wir ja nach Belieben in Welten auswandern, in denen das Leben hemmungslos gefeiert wird.

Ich habe keine Idee, was es Mitte der 1920er Jahre zu feiern gab, als diese Aufnahme entstand, aber vielleicht können wir etwas davon lernen::

Dodge Tourer von 1925/26; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Was geht hier vor sich? Haben Sie eine Idee?

Mir gefällt jedenfalls dieses automobile Treiben mit geschmückten Wagen, elegant gekleideten Frauen in gewagten Posen (gemessen an modernen Sicherheitsstandards) und hilflos dazwischen herumstehenden düsteren Gestalten.

Vor allem gefällt mir die Besatzung des Tourenwagens im Vordergrund, den ich als Dodge des Modelljahrs 1925/26 ansprechen würde.

Von der Laune der Insassen lässt man sich doch gerne anstecken. Wer würde hier ängstlich die CO2-Emissionen kalkulieren und “sinnlose” Fahrten konstatieren?

Dodge Tourer von 1925/26; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wer weiß etwas zu dem Kennzeichen dieses Fahrzeugs? Wo könnte dieser Korso gut gelaunter Zeitgenossen einst stattgefunden haben?

Ich würde auf ein Land ohne nennenswerte eigene Autoindustrie tippen, eventuell eines in Skandinavien oder in Osteuropa.

So der so gab es etwas zu feiern, als vor bald 100 Jahren jemand auf den Auslöser drückte. Die Probleme jener Zeit waren zweifellos andere, gravierendere als die derzeit propagierten.

Eine warme Sommernacht wäre da nicht als Bedrohung empfunden worden, sondern als willkommener Kontrast zu dem, was in mitteleuropäischen Breiten die Hälfte des Jahres an Wettermisere üblich ist.

Bald ist es ein Uhr nachts, gerade hat es geregnet – war gar nicht “angesagt”.

Die Platte mit Cecilia Bartolis Vivaldi-Album noch einmal umgedreht – in der Hinsicht findet sich immer einen Anlass zu feiern. Morgen beginnt eine neue Arbeitswoche, doch mit so einem schönen Dokument aus alter Zeit hat das Hier und Jetzt ausnahmsweise Vorrang…

Nachtrag: Der Aufnahmeort war laut João Pedro Gazineu die Avenida Rio Branco in Rio de Janeiro (Brasilien). Der “Corso Carnavalesco” war von den 1910er bis in die 1920er Jahre populär. DF auf dem Nummernschild steht für “Distrito Federal”. Also da, wo es echte Tropennächte gibt und das Leben tobt…

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Experten unter sich: Ein Adler Tourer um 1907

Heute lasse ich Sie an einem Moment teilhaben, bei dem eigentlich die Kenner unter sich bleiben wollen. Als bei den meisten Vorkriegsmarken nur Halbgebildeter kenne ich aber keinen Respekt vor Autoritäten und mische mich gern frech ein.

Mir passt es nämlich gar nicht, wenn die Experten ihr Wissen am liebsten für sich behalten wollen, damit sie nicht vom gemeinen Pöbel belästigt werden. Dergleichen Attitüden legen keineswegs nur Sprösslinge alter Adelsgeschlechter, Kirchenfürsten oder sonstige Vertreter der jeweils herrschenden Priesterkaste an den Tag.

Schlimmer sind die eifrigen Aufsteiger, die sich einbilden, es noch besser zu wissen als die bis dato Mächtigen und sich umgehend die Aura der Unantatstbarkeit zulegen, sobald sie höhere Sphären erreicht zu haben glauben als der erdverbundene Fußgänger.

In der Frühzeit des Automobils waren dieser Versuchung insbesondere diejenigen ausgesetzt, welche einen der neuartigen und enorm komplexen Kraftwagen beherrschten.

Diese Experten – wichtigtuerisch Chauffeure genannt – wussten, was sie ihren vermögenden Brötchengebern wert waren und blieben nach Dienstschluss gern unter sich. Mit dem übrigen Personal wollte man wohl nichts zu tun haben.

Hier haben wir zwei Exemplare dieser benzingetriebenen Elite ins Fachgespräch vertieft:

Adler Tourenwagen um 1907; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ist das nicht ein hübscher Schnappschuss, der hier einem frühen Vertreter der Paparazzi gelungen ist? Wir dürfen sicher sein, dass die eigentlichen Besitzer dieses mächtigen und kolossal teuren Tourenwagens irgendeine Form von Prominenz genossen.

Wie komme ich als bloßer Betrachter – keinesfalls Eingeweihter – dieser Szene zu einer derart kühnen Vermutung? Sagen wir, dass ein gesundes Halbwissen meist schon reicht, um in diesen Kreisen einigermaßen bestehen zu können.

Das erforderliche Mindestmaß an Bildung kann man sich mit etwas Disziplin im Selbststudium aneignen. Dazu schule man sich am besten an hochkarätigem Material – beispielsweise diesem:

Adler-Reklame von 1907; Original: Sammlung Michael Schlenger

Wen diese Reklame eher verwirrt als orientiert, dem sei zweierlei empfohlen:

Erstens das Studium der Kühler- und Haubenpartie, zweitens die genaue Betrachtung der Armlehne der vorderen Sitzbank mit dem auffallenden Haltegriff. Den übrigen Aufbau vergisst man am besten – der war weder typ- noch markenspezifisch.

Die Frontpartie entspricht derjenigen stark motorisierter Wagen der Adlerwerke aus Frankfurt am Main, wie sie zwischen 1906 und 1908 gebaut wurden. Diese Autos verfügten über kolossale Hubräume von über sieben Liter, welche eine Spitzenleistung von 40 bis 50 PS bereits bei Drehzahlen von etwas über 1.000 Umdrehungen pro Minute abwarfen.

Hier ein Adler-Landaulet dieses Kalibers, welches 1908 in Wandlitz abgelichtet wurde:

Adler Landaulet um 1907; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Sicher erkennen Sie die weitgehende Übereinstimmung von Kühler- und Haubenpartie – typisch für Adler-Wagen aus der Zeit kurz vor 1910.

Der vor dem Landaulet abgelichtete Fahrer war ebenfalls ein Experte seines Fachs, doch immerhin zeigt er sich uns zugewandt – von ihm hätten wir vermutlich alles über “seinen” Adler erfahren, was wir wissen wollen.

Doch leider kann er nicht mehr zu uns sprechen – ganz wie die beiden Kollegen auf dem eingangs gezeigten Foto. Dabei hätten wir gern einiges von ihnen erfahren, und sei es nur, welcher der am Armaturenbrett aufgereihten Öler für welchen Schmierpunkt zuständig war:

Dergleichen Details werden die beiden Magier des Motorwagens vermutlich als Berufsgeheimmis für sich behalten haben wollen.

Dabei hätten wir doch bloß gewusst, ob wir mit der Vermutung richtig liegen, dass es sich bei dem großzügig dimensionierten Automobil tatsächlich um einen Adler mit 40 PS aufwärts handelte, wie er ab 1906 im Programm auftaucht.

Dazu ist freilich das Votum eines Kenners der frühen Adler-Modelle vonnöten. Wäre doch schade, wenn die heutigen Experten dieser einst so bedeutenden deutschen Marke unter sich blieben und ihr zweifellos vorhandenes Wissen für sich behielten – die mir bekannte Literatur dazu ist nämlich über 40 Jahre alt (Werner Oswald, Adler Automobile, 1981)…

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Magie des Augenblicks: Ein Dürkopp P8 8/24 PS

Die Geschichte deutscher Vorkriegswagen ist alles andere als ein abgeschlossenes Kapitel. Eigentlichh sollte man meinen, dass inzwischen längst alle bedeutenden Hersteller eine umfassende Würdigung in der gedruckten Literatur oder im Netz erfahren haben.

Weit gefehlt – die Lücken sind eklatant, und das sogar bei einst international renommierten Makren wie Adler aus Frankfurt am Main. Warum niemand die Herausforderung annimmt, verstehe ich nicht, zumal das Bild bei ausländischen Fabrikaten ganz anders aussieht.

Zudem erweist sich bei näherer Betrachtung, dass angebliche Nischenhersteller einst doch eine weit größere Präsenz entfalteten als gedacht. Die Automobile aus dem Bielefelder Dürkopp-Konzern sind so ein Fall.

Zwar lief die kurz vor 1900 begonnene Wagenproduktion eher nebenher, doch scheinen die Stückzahlen nach dem 1. Weltkrieg doch ein achtbares Niveau erreicht zu haben.

Anders kann ich mir es nicht erklären, dass mir inzwischen jede Menge zeitgenössischer Fotos dieser Autos mit dem markanten Spitzkühler aus der ersten Hälfte der 1920er Jahre vorliegen, nicht zuletzt dank befreundeter Sammler.

Dieses Exemplar kennen regelmäßige Blog-Leser sicher schon:

Dürkopp Typ P8 8/24 PS; aufgenommen 1924; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Diese reizvolle und technisch hervorragende Aufnahme aus dem Fundus von Leser Klaas Dierks soll uns heute als Referenz dienen, wenn wir uns anhand eines weiteren Exemplars desselben Typs der “Magie des Augenblicks” widmen, welche diesen Zeugen innewohnt.

Sehr wahrscheinlich haben wir es mit dem häufig anzutreffenden Vierzylindertyp P8 8/24 PS zu tun, welcher ab 1919 gebaut wurde, bis er 1924 vom Nachfolger P8A 8/32 PS abgelöst wurde, der nicht nur deutlich stärker war, sondern nun auch Vorderradbremsen besaß.

Während der recht langen Produktionsdauer müssen sich einige Änderungen auch optischer Natur ergeben haben – so kann prinzipiell jeder auf solchen alten Fotos festgehaltener Augenblick wertvolle Hinweise liefern.

Halten wir zunächst einige Besonderheiten des oben gezeigten Dürkopp fest: Der Kühler ist in Wagenfarbe lackiert, die Motorhaube weist sieben seitliche Luftschlitze auf und die Gestaltung der Frontscheibe folgt noch Vorbildern aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg.

Ich würde diesen Dürkopp daher als eher frühen Vertreter des Typs P8 8/24 PS ansehen. Die späteren Versionen (hier evtl. schon mit Spezifikation P8A 8/32 PS) wirken weit moderner:

Dürkopp Typ P8A 8/32 PS, Bauzeit: 1924-27; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Auf dieser Aufnahme aus meiner Sammlung bemerkt man vor allem die neu gestalteten schmalen Luftschlitze, die andere Ausführung der Frontscheibe und die äußerst schlichte Ausführung des oberen Karosserieabschlusses, der beinahe unfertig wirkt.

Es liegt nahe, dass es in punkto Gestaltung etwas zwischen diesen beiden Dürkopp-Wagen mit dem 2,1 Liter-Vierzylinder gegeben haben muss. Doch dafür bedarf es der Magie des Augenblicks, in dem einst jemand etwas Derartiges fotografisch festgehalten hat.

Vor kurzem meinte Fortuna es dann gut mit mir dieser Hinsicht. Als ihr Sendbote fungierte Dr. Siegfried Roth aus Rüsselsheim, der mir ein Foto aus Familienbesitz in digitaler Form zusandte, von dem er wusste, dass es einst bei einem Ausflug in den Taunus entstand.

Er hatte auch bereits bemerkt, dass meine Dürkopp-Galerie bislang kein solches Modell enthielt und so bin ich ihm doppelt dankbar.

Und jetzt genießen Sie eine weitere Dürkopp-Spitzenaufnahme aus Idealperspektive in perfekter Belichtung und hervorragender Schärfe:

Dürkopp Typ P8 8/24 PS; Originalfoto: Sammlung Dr. Siegfried Roth (Rüsselsheim)

Großartig, nicht wahr? Fast meint man, der Situation selbst beizuwohnen, es fehlt bloß die Farbe darin.

Tja, das ist die Magie des Augenblicks – festgehalten von Könnerhand, sorgsam aufbewahrt über fast 100 Jahre und in unseren Tagen wieder ans Licht gebracht. Beinahe vergnügungssteuerpflichtig sind solche Sachen, und ich hoffe, Sie wissen es zu schätzen, dass hier kostenlos (für Sie) dergleichen Ausnahmefunde präsentiert werden.

Was ist nun so außergewöhnlich an diesem Dürkopp? Den Proportionen der Frontpartie nach zu urteilen, haben wir es wieder mit einem Vertreter des Vierzylindertyps P8 8/24 PS zu tun.

Aber: Eine solche leicht schrägstehende und leicht gepfeilte Windschutzscheibe habe ich noch nie an einem Dürkopp gesehen.

Kurioserweise finden sich die nur vier Luftschlitze ausgerechnet an deutlich früheren Exemplaren, wie sie in meinem Originalprospekt von Dürkopp von Anfang der 1920er Jahre abgebildet sind, hier aber noch mit der erwähnten archaisch anmutenden Frontscheibe:

Dürkopp Typ P8 8/24 PS, Bauzeit: 1924-27; Originalprospekt aus Sammlung Michael Schlenger

Was ist davon zu halten? Ich meine, dass wir es auf dem Foto, das uns Dr. Roth zur Verfügung gestellt hat, mit einem Dürkopp P8 zu tun haben, der ein Zwischenstadium repräsentiert.

Die am Heck stark nach innen gezogene Karosserie ist typisch für die frühen 20er Jahre, während die sportlicher gestaltete Windschutzscheibe eine Neuerung darstellen könnte, die auf eine schrittweise Weiterentwicklung während der Produktion hindeutet.

Auch die Blechabdeckung der vorderen Rahmenausleger findet sich so nicht bei frühen Exemplaren. Dergleichen Anpassungen ließen sich bei der reinen Manufakturproduktion natürlich leicht vornehmen, welche bei Dürkopp praktiziert wurde.

So sind wir hier wahrscheinlich Zeuge eines Augenblicks in der Evolution des Typs P8 8/24 PS auf dem Weg hin zu seinem Nachfolger P8A 8/32 PS.

Doch die im Titel erwähnte Magie des Augenblicks zeigt sich in einem ganz anderen Detail. Wer meinen Blog schon länger verfolgt, der weiß, dass mich die menschliche Komponente mindestens ebenso fasziniert wie der automobile Aspekt.

Und seien Sie ehrlich: Was könnte uns Menschen mehr fesseln als dieser Augenblick?

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Evolution im Rückwärtsgang: Metallurgique 2-Sitzer

Wer die Evolution studiert – die der Lebewesen allgemein oder auch die der menschlichen Gattung im Speziellen – wird eines sicher feststellen: Es ging immer weiter, aber nicht immer zwangsläufig vorwärts.

Da gab es stets auf’s Neue Rückschläge, Stillstände, Renaissancen und Sackgassen. So stellt auch die Gegenwart nicht zwangsläufig in jeder Hinsicht die beste aller Welten dar.

Mein heutiger Zahnarztbesuch hat mich daran erinnert, dass die Methoden der Moderne auf diesem Sektor unbedingt allem je Dagewesenen vorzuziehen sind.

Auch die jederzeitige Verfügbarkeit selbst der entlegensten Musik in hervorragender Qualität zähle ich zu den großartigen Privilegien unserer Zeit. Während ich das schreibe, läuft im Hintergrund die wohl nur Spezialisten bekannte Oper “Farnace” des zu Unrecht von manchem als seicht angesehenen Antonio Vivaldi.

Um in diesen Genuss zu kommen, hätte man einst einer hauchdünnen Schicht gehören müssen, die sich den Besuch im Opernhaus leisten konnte. Und selbst dann wäre anschließend das Erlebnis nicht beliebig wiederholbar gewesen.

Die Evolution quasi im Rückwärtsgang nachvollziehen zu können – durch gezielte Reisen in die Vergangenheit, auch das ist einer der Vorzüge des Hier und Jetzt. So kann man zeitgenössische Automobile als zwar nützlich, aber meist reizlos ansehen und sich stattdessen den wirklich spannenden Entwicklungen aus früherer Zeit widmen.

Die automobile Evolution quasi in umgekehrter Richtung zu betrachten, das hat seinen Charme, selbst wenn man nicht die Gefährte der Gegenwart mit ihren sich jeder Beschreibung entziehenden Formen als Ausgangspunkt nimmt.

So wählen wir als Vergleichsstück heute ein Vorkriegsmodell, das vor bald 100 Jahren gebaut wurde und das uns dennoch am Ende ziemlich modern vorkommen wird, hat man einmal seinen kaum zehn Jahre älteren Vorgänger kennengelernt.

Treue Leser meines Blogs erinnern sich vielleicht an diesen prachtvollen Metallurgique “deux litres” von ca. 1925:

Metallurgique 2 litres um 1925; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dieses sportlich anmutende Exemplar des belgischen Traditionsherstellers begeistert mit seinen verschwenderischen Formen. Das nicht gerade kleine und bis zu 120 km/h schnelle Auto ist hier als Zweisitzer karossiert – ein Notsitz mag sich unter der Persenning verbergen.

So etwas war erkennbar ein reines Spaßmobil, und das musste man sich erst einmal leisten können. Wer das nötige Kleingeld für soviel Unvernunft hatte, dürfte daneben auch über ein mehrsitziges Fahrzeug verfügt haben, vielleicht sogar einen Chauffeur.

Im Vergleich zum “2 litres” von Mitte der 1920er Jahre wirkt ein gerade einmal zehn Jahre älterer Metallurgique (Porträt hier) nicht annähernd so rassig – er gehört erkennbar noch einer früheren Entwicklungsstufe an:

Metallurgique von 1913/14; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Zwar ist dieses Foto erst 1921 entstanden, aber die Gestaltung (einschließlich der Gasscheinwerfer) weist noch klar auf die Zeit direkt vor dem 1. Weltkrieg hin. Die einzige Gemeinsamkeit ist das markentypisch geformte Kühlergehäuse.

Natürlich kann der konventionelle, aber dafür geräumige Tourenwagenaufbau des früheren Exemplars nicht mit den schnittigen Linien des späteren “2 litres” mithalten. Insofern ist der Vergleich ein wenig unfair.

Doch Leser Klaas Dierks hat mir aus seiner Sammlung eine Aufnahme in digitaler Form zur Verfügung gestellt, die gewissermaßen “Waffengleichheit” herstellt.

So gab es von dem Metallurgique aus der Zeit direkt vor dem 1. Weltkrieg ebenfalls einen sportlich anmutenden Zweisitzer, und den schauen wir uns nun an, um die Evolution quasi im Rückwärtsgang nachzuvollziehen:

Metallurgique von 1913/14; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Auf den ersten Blick wirkt der Wagen vollkommen anders als in der zuvor gezeigten Tourenwagenausführung. Aber vergleichen Sie einmal die Frontpartie bis zum Ansatz der Windschutzscheibe – in allen wesentlichen Details und auch von den Proportionen identisch!

Mag sein, dass der Radstand hier etwas geringer ist, aber entscheidend für die eigenständige Wirkung ist der klar auf zwei Insassen beschränkte Innenraum. Dahinter gibt es keine Notsitze, sondern wohl ein Fach für Gepäck und Werkzeug.

Insofern ist diese Variante noch radikaler auf den alleinstehenden Sportsmann oder bestenfalls das alleinreisende Paar zugeschnitten.

Die Existenz solcher Extravaganzen neben alltäglichen, eher von Notwendigkeiten diktierten Standards ist es, was eine Zivilisation faszinierend macht. Das lässt sich am Automobil besonders eindrucksvoll nachvollziehen.

Insofern stimmt es nachdenklich, wenn gut motorisierte und auf Effekt hin gestaltete Zweisitzer in unseren Tagen Mangelware werden. Beispielsweise stellt Mercedes den schicken SLK (zuletzt SLC) ein, der über 20 Jahre lang so viele Liebhaber fand.

Gern denke ich auch den kompakten Fiat Barchetta zurück, in dem mich meine einstige Nachbarin bisweilen nach Frankfurt zur Arbeit mitnahm. Solche Wagen sind inzwischen kaum noch zu sehen, nur Mazda hält mit dem knackigen MX-5 die Fahne hoch.

Er läutete vor über 30 Jahre die Renaissance des Roadsters ein und seine Geschichte lehrt uns, dass auch die Autogeschichte in Zyklen verläuft – es geht immer weiter, aber nicht immer vorwärts. Manchmal ist Evolution im Rückwärtsgang eben die reizvollere Variante…

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Wo geht’s hier zum Sommer? Austro-Daimler AD6-17

Der Juni 2023 gab einen Vorgeschmack auf einen großen Sommer – jedenfalls in deutschen Landen. Braungebrannt fuhr ich ins italienische Umbrien, wo die Einheimischen noch vornehme Blässe trugen – kühl und regnerisch war es dort wochenlang gewesen.

Wie schon immer spielt das Wetter dem Menschen solche Streiche – meist harmlose, bisweilen auch nicht ungefährliche. Wer aber nicht gerade an “German Angst” leidet, lässt sich keine Panik einreden. Gibt es “Hitzewarnungen”, zieht es die meisten an den/die See…

Und punktgenau zur medial angefachten “Hitze-Epidemie” zeigt uns der Sommer die kalte Schulter. Die geweissagten “Tropennächte” kommen kaum aktuell über 12 Grad hinaus.

In meiner Heimatregion – der an sich von mildem Klima verwöhnten hessischen Wetterau – enttäuscht der Juli-Anfang tagsüber mit knapp über 20 Grad. Grund zur Panik? Nö, vielleicht gibt’s bloß mal wieder einen vermurksten Sommer…

Wer sich freilich für draußen etwas vorgenommen hat – etwa eine sommerliche Ausfahrt in die Berge unter sengender Sonne mit Fahrtwind wie aus dem Fön, um dem am Schreibtisch ruinierten Teint wieder auf die Sprünge zu helfen, sieht derzeit ziemlich angeschmiert aus:

Austro-Daimler AD6-17; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Immerhin scheint auf dieser Prachtaufnahme aus der Sammlung von Leser Matthias Schmidt die Sonne und die Landschaft bietet sich in ihrer ganzen Schönheit dar.

Besser als in der großen Stadt ist es hier draußen allemal“, denkt sich der Fahrer aus dem bayrischen Fürth vielleicht.

Doch wo genau geht es zum Sommer?”, das scheint im durch den Kopf zu gehen, während er sinnierend im wärmenden Wollpullover neben seinem mächtigen Wagen steht.

Irgendetwas muss hier temperaturtechnisch schiefgelaufen sein, doch unser Mitleid hält sich angesichts dieses automobilen Prachtstücks aus dem Hause Austro-Daimler in Grenzen. Für mich eines der beeindruckendsten Fotos des Typs AD6-17, das mir bisher begegnet ist.

Anno 1921, als dieses Modell eingeführt wurde, war das eines der besten Autos, die man von einem Hersteller im deutschsprachigen Raum kaufen konnte: Ein moderner 6-Zylinder mit Ventilsteuerung über oben im Zylinderkopf liegende Nockenwelle, reichlich Drehmoment aus 4,4 Liter Hubraum und satte 60 PS Spitzenleistung.

Das war das Rezept für einen Reisewagen, mit dem sich mühelos die Alpen überqueren ließen. Auch die 140 Liter Inhalt des Benzintanks machten den Austro-Daimler zum idealen Gefährt(en) aus den Niederungen des Alltags hoch auf die Pässe und hinab ins gelobte Land südlich der Alpen.

Was konnte dabei schon schiefgehen, zumal man zu den rund 1.000 Privilegierten gehörte, die sich einen dieser bis 1923 gebauten Traumwagen leisten konnten? Nun, auch mit dem dicksten Portemonnaie und den besten Verbindungen lässt sich das Wetter nicht kaufen.

Der Mensch bleibt doch immer Unwägbarkeiten ausgesetzt, und das ist gut so, sonst schnappt er am Ende völlig über, hält sich gar für die Krone der Schöpfung.

Wo geht’s hier zum Sommer? Das konnte dem Automobilisten damals wie heute keine Karte und kein Wetterfrosch mit absoluter Gewissheit verraten. Nehmen wir das doch einfach an, und überbewerten wir unsere unvollkommenen Maßstäbe nicht.

Freuen wir uns an dem, was uns Natur, Zufall und auch eigenes Bemühen an Schönem bescheren, doch nehmen wir Enttäuschungen und Missgeschicke wie vor 100 Jahren: Mit Demut und Dankbarkeit für das Wunder des Daseins.

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Fund des Monats: Endlich ein Cyklon 9/40 PS!

Beängstigend beinahe, wie die Zeit vergeht – hätte ich doch fast übersehen, dass schon wieder ein Monat (und damit das erste Halbjahr) herum ist.

Kaum weniger irritierend, dass es nun schon fast genau drei Jahre her ist, dass ich zuletzt das heutige Thema gestreift habe; ich hätte schwören können, es sei letztes Jahr gewesen.

Egal, wir wollen uns hier ja dem Dahinfliegen der Zeit und dem Vergessen nach besten Kräften entgegenstemmen – am zuverlässigsten geht das mit einer Reise in die Welt von gestern, die in den besten Momenten beinahe real wird.

Schauen wir aber erst einmal, was ich seinerzeit als Fund des Monats August 2020 ausgegraben hatte:

Dixi 9/40 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese großzügige Limousine mit dem Standard-Aufbau von Ambi-Budd (Berlin), der sich zeitgleich auch am Adler “Favorit” bzw. “Standard 6” fand, ist einer der raren Sechszylindertypen 9/40 PS, die ab 1927 zunächst unter dem Markennamen “Cyklon”, dann als “Dixi” bei den Fahrzeugwerken Eisenach gebaut wurden.

Die beiden Marken gehörten ab 1922 (Cyklon) bzw. 1924 (Dixi) zum Auto-Imperium von Jacob Shapiro und wie Dixi-Spezialist Matthias Doht hier überzeugend kommentiert, wurden diese großen Wagen wahrscheinlich schon in Eisenach gebaut, als sie noch als Cyklon firmierten.

Warum man sie überhaupt anfänglich mit der vor allem durch seine Dreirad-Automobile bekanntgewordenen Firma Cyklon in Verbindung brachte, ist schwer zu erklären. Vielleicht wollte Schapiro so vor sich selbst den (Fehl)Kauf der Marke rechtfertigen.

Doch dummerweise vermochte auch der prächtig daherkommende Cyklon 9/40 PS – Deutschlands billigster Sechsyzlinder – am Markt nicht zu überzeugen. So findet man ihn vorwiegend auf zeitgenössischen Reklamen und in Büchern jener Zeit:

Cyklon 9/40 PS; Abbildung aus: Joachim Fischer, Handbuch vom Auto, 1927 (Original aus Sammlung Michael Schlenger)

Vom eingangs gezeigten Dixi 9/40 PS unterscheidet sich dieses Exemplar zum einen durch den Tourenwagenaufbau, zum anderen durch das abweichende Markenemblem. Dessen Form prägen wir uns ein, auch wenn das Firmenlogo nicht zu erkennen ist.

Vor kurzem stieß ich dann auf die Aufnahme eines Autos, das mir merkwürdig vertraut vorkam. Doch da ich die Dixi-Cyklon-Connection wieder aus dem Auge verloren hatte, wollte der Groschen eine ganze Weile nicht fallen.

Nur dass das fragliche Fahrzeug ebenfalls die typische Ambi-Budd-Karosserie besaß, wie sie vor allem für die Adlerwerke in Frankfurt/Main geliefert wurde, das war klar.

Ich befasste mich erst einmal ein Weile mit dem Beseitigen von Flecken auf dem Abzug, aber das gab ich in dem Moment auf, als mir klar wurde, was ich da vor mir hatte:

Cyklon 9/40 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Nehmen Sie sich etwas Zeit und vergleichen diesen Wagen mit dem Dixi 9/40 PS bzw. dem Cyklon auf obiger Buchabbildung – alles wesentliche stimmt überein und der Kühler entspricht klar dem des Cyklon.

Wenn ich damit richtig liege, ist dieses Foto das erste Original überhaupt, welches ich von einem Cyklon 9/40 PS gefunden habe. Wenn jemand ein weiteres kennt, freue ich mich natürlich dennoch über einen Hinweis.

Über den Wagen und seine Besitzer wissen wir leider nichts – außer, dass er im Raum Recklinghausen zugelassen war.

Sehr gut gefällt mir die entspannte Haltung des Paars vor dem Wagen – so gekleidet posiert man würdig vor einem derartigen Wagen. Auch das ist eine leider vergangene Facette von Stilbewusstsein (nur wenige Menschen sind so schön, dass sie sich im Alltag weitgehend entblößen können, ohne dass dies anderen Ungemach bereitet).

Datieren würde ich diesen großartigen Fund auf die frühen 1930er Jahre. Wir Nachgeborenen haben es gut und können uns daran ungeschmälert erfreuen.

Dabei wissen wir, dass sich die Welt damals in einen Höllenschlund verwandelte, weil die sogenannten Eliten in Politik, Wirtschaft und Militär glaubten, dass sie die Herren der Welt seien und die Masse hierzulande leider oft mehr mitmachte, als nötig war.

Wenn das Paar auf dem Foto den 2. Weltkrieg überlebt hat, konnte es sich glücklich schätzen, der Cyklon wird sicher früher oder später unter die Räder geraten sein. Hier bekommt er noch einmal die Bühne, die er verdient.

Übrigens sollte es (angeblich) 1929 noch einen weiteren Cyklon mit Sechszylinder geben – nun jedoch mit geringerem Hubraum (1,8 Liter) – vielleicht als Konkurrenz zum Opel 8/40 PS.

Darauf weist diese Reklame hin, deren Interpretation ich aber den Spezialisten überlasse…

Cyklon 7/40 PS; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Masse mit Klasse: Chevrolet Coupé von 1927

“Klasse statt Masse” – so pflegen die Gourmets in so ziemlich allen Bereichen zu sagen, in denen es auf Kennertum und Exklusivität ankommt. Und wer unter uns Vorkriegsauto-Enthusiasten würde sich nicht für die meisterhaften Manufakturwagen jener Zeit begeistern?

Als Freund des “sowohl als auch” und unverbesserlicher Kapitalismus-Sympathisant schlägt mein Herz jedoch ebenso für die industrielle Massenproduktion, welche Klasse auch der Masse zugänglich macht – was Snobs stets zuwider war und bis heute ist.

Was ist denn auch so ein kompakter Vierzylinder-Wagen mit nicht einmal 30 PS Leistung, der obendrein reichlich bieder daherkommt?

Nun, das kann ein selbst für recht gut Situierte unerschwingliches Manufakturauto aus deutscher Produktion mit banalster Technik sein – dann wird es heute dennoch gefeiert, weil es so ungeheuer selten ist (und schon zur Entstehungszeit war).

Es kann aber auch einer der von vielen geringgeschätzten US-Großserienwagen sein, die erstmals jedermann – wirklich jedermann – den Besitz eines Automobils ermöglichten.

Neben Ford war es vor allem die Marke Chevrolet, die um die Mitte der 1920er Jahre unbegrenzte Mobilität für die Masse ermöglichte.

Im Modelljahr 1927 knackte der Hersteller erstmals die Marke von 1 Millionen Fahrzeugen – keineswegs kumuliert seit dem ersten “Chevy” von anno 1912, sondern pro Jahr!

Dass aus dieser in Europa völlig unvorstellbaren Masse durchaus Klasse werden konnte, das will ich heute anhand einiger “neuer” alter Fotos zeigen.

Zur Auffrischung der Erinnerung aber erst einmal eine Aufnahme eines dieser 1927er Chevrolets, welche ich schon einmal präsentiert habe:

Chevrolet 4-Türer von 1927; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Bei dieser 4-türigen Limousine sind alle wesentlichen Details zu sehen:

Der Kühler mit dem Markenlogo und der ins Kühlernetz hineinragenden Spitze, die es nur 1927 gab, die Stahlscheibenräder mit sechs Radbolzen, die konisch geformten Scheinwerfergehäuse und die Zierleiste, die von der Motorhaube kommend die gesamte Flanke entlangläuft.

Mit solchermaßen geschärftem Blick können wir uns nun der nächsten Variante über das Thema “Masse mit Klasse” nähern.

Hier finden wir alle erwähnten Details wieder, doch nun in Kombination mit einem nur zweitürigen geschlossenen Aufbau – in den Staaten als “Coach” bezeichnet, während der Viertürer als “Sedan” firmierte:

Chevrolet 2-Türer von 1927; Originalfoto aus Familienbesitz (Jochen Kruse)

Auch mit nur zwei Türen waren diese Herrschaften einst mit Klasse unterwegs – denn im Deutschland der 1920er Jahre war selbst ein solcher Chevrolet für die allermeisten Bürger ein unerschwingliches Luxusobjekt.

Klasse finde ich an diesem Exemplar nicht zuletzt, dass wir die Namen der Besitzer kennen, welche vorne sitzen: Am Steuer haben wir Lotte Engler und neben ihr Ehemann Franz. Sie waren die Großeltern von Jochen Kruse, dem wir dieses schöne Dokument verdanken.

Hinten war offenbar reichlich Platz für die Passagiere – amerikanische Serien-“Kleinwagen” waren stets erwachsene Autos, keine mitleiderregenden Minimalmobile, wie sie so viele deutsche Phantasten in den 1920er Jahren ohne Erfolgsaussicht zu bauen versuchten.

Na, haben Sie sich schon ein wenig mit dem Konzept Masse mit Klasse vertraut gemacht?

Dann werden Sie keine Mühe haben, auch den folgenden Wagen als 1927er Chevrolet anzusprechen, obwohl die Chancen aus dieser Perspektive für gewöhnlich schlecht stehen:

Chevrolet 2-Türer von 1927; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Selbst ohne den “Chevrolet”-Schriftzug auf der Reserverradhülle ließe sich dieser Wagen identifizieren. Zwar wies das 1928er Modell noch ähnliche Details auf – doch der kurze Radstand verweist klar auf 1927.

Die beiden Damen, denen wir hier beim Einsteigen zusehen dürfen, sehen nicht so aus, als sei ihnen dieses Massenfabrikat in irgendeiner Weise peinlich – im Gegenteil werden sie gewusst haben, dass ein solcher Wagen im damaligen Deutschland der vermögenden Klasse vorbehalten war. Der Durchschnittsbürger besaß bestenfalls ein Fahrrad.

Doch selbst bei den Privilegierten, welche sich hierzulande einen Chevrolet leisten konnten, den in den Staaten jeder Arbeiter oder Bauer fuhr (wenn er nicht Ford bevorzugte) war zwecks Abgrenzung von der bloßen Masse in Sachen Klasse noch etwas drin.

Schauen Sie sich dazu einmal dieses Exemplar an – das ist doch eine Klasse für sich:

Chevrolet Sports Coupe von 1927; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Für den an der Masse geschulten Blick ist der Fall klar: Auch das muss ein 1927er Chevrolet sein, aber einer mit Extra-Klasse!

Selbst die Nieten für den innenliegenden Halter des Vorderkotflügels sind an der richtigen Stelle. Oberhalb der “Gürtellinie” ist dieses Exemplar aus deutschen Landen jedoch eigen.

Ganz offensichtlich handelt es sich um die seltene Ausführung als zweisitziges Coupe mit im Heck befindlichen “Schwiegermuttersitz” – im Amerikanischen als “rumble seat” bezeichnet.

Das wäre es schon fast gewesen – viel mehr muss man über diesen Vertreter des basisdemokratischen Konzepts “Masse mit Klasse” gar nicht wissen.

Eines vielleicht aber doch: Der 1927er Chevy besaß sogar im Zylinderkopf hängende Ventile, ganz entgegen dem Standard, welcher Seitenventile bis in die 1930er Jahre vorsah.

Das und weiteres erfahren wir im folgenden Video, das einen Überlebenden genau dieses Typs zeigt, natürlich in den USA, wo noch tausende dieser prinzipiell für die Ewigkeit gemachten Wagen existieren.

Mit den Chevys und Fords der Vorkriegszeit ist auch heute für jedermann erschwingliche Vorkriegsmobilität möglich, wenn man Sinn für die Klasse eines gut abgestandenen Originals und kein Snob-Problem mit Masse hat…

Videoquelle: YouTube.com; hochgeladen von Ben Logan

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Anders reisen: Renault-Limousine von 1913/14

Gestern abend bin ich aus Umbrien zurückgekehrt – dem grünen Herzen Italiens, das als einzige Provinz des Landes nirgends ans Meer grenzt. Das mag einer von mehreren Gründen sein, weshalb die Region in Deutschland relativ wenig bekannt ist.

Man begegnet dort einer einzigartigen Mischung aus wilder Natur, Kulturlandschaft und großartigen Kunststätten, die von einem Menschenschlag belebt wird, der sich über die Jahrtausende kaum geändert hat. Eroberer zogen eher durch, als dass sie blieben, sieht man von der langobardischen Episode am Ende der Antike einmal ab.

Zwischen Perugia im Norden und Spoleto im Süden hat sich in 2.500 Jahren nur wenig verändert. Wo schon in vorrömischer Zeit Wein, Weizen oder Oliven angebaut wurden, wird das heute noch getan, auch die Städte stammen durchweg aus jener Epoche und sind oft in den Mauern von einst geblieben.

Am bekanntesten ist wohl der Wallfahrtsort Assisi, an dem der Heilige Franziskus mit unverminderter Inbrunst verehrt wird. Man braucht keineswegs gottgläubig zu sein, um die Faszination zu verstehen, welche dieser Mann und seine Lehren bis heute ausüben.

Die atemberaubende Silhouette von Assisi wird von der Doppelkirche San Francesco beherrscht, welche sich auf einem künstlich geschaffenen Plateau befindet, das weit in die Landschaft vorragt und auf den von Norden kommenden Pilger auch nach der x-ten Begegnung überwältigend wirkt. Zu dergleichen ist die sogenannte Moderne nicht fähig.

So grandios die Schauseite Assisis auch ist, so wollen wir doch heute dem Motto “Anders reisen” huldigen, welches einmal für eine Reihe alternativer Reiseführer stand.

Um anders zu reisen, braucht man eine andere Perspektive, eine auf den ersten Blick ungewohnte – eine, deren Reiz vielleicht spröder, aber dennoch lohnend ist. Schauen Sie, was ich Ihnen dazu aus dem Süden mitgebracht habe:

Assisi, Kirche San Francesco von Nordosten, Juni 2023; Bildrechte: Michael Schlenger

Auch hier sieht man Assisis Kirche San Francesco über dem Felsen thronend, doch nun von der anderen (nordöstlichen) Seite gesehen. Der Eindruck ist ein vollkommen anderer, zumal von der übrigen Stadt nichts zu sehen ist.

Das ist der Gewinn, wenn man anders reist, in diesem Fall auf der Strada Comunale Santa Croce in Richtung Castello di Petrata, und nach wenigen Kilometern innehält.

Anders reisen als auf konventionelle Weise, das konnte man schon immer – sofern man es sich leisten konnte. Vor rund 110 Jahren empfahlen sich dazu dem gut betuchten Automobilisten die Wagen von Renault, die damals zum Besten zählten, doch bei deren Gestaltung eigene Wege beschritten wurden.

Vielleicht erinnern sich manche von Ihnen an das spektakuläre Renault Landaulet, das ich zum Auftakt des Jahres 2023 hier präsentiert hatte.

Heute möchte ich dem Motto “Anders reisen” folgend ein weiteres Exemplar jener Zeit vorstellen. Es hat wiederum eine ganz eigene Anmutung, auch wenn man natürlich die markentypische Motorhaube dort ebenso leicht wiedererkennt wie die Kirche San Francesco in Assisi aus unterschiedlichem Blickwinkel.

Das Vergnügen verdanken wir diesmal Leser Matthias Schmidt aus Dresden, der uns an diesem grandiosen Dokument aus seiner Sammlung teilhaben lässt:

Renault Limousine von 1913/14; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Größer könnte der Kontrast zwischen dem vollkommen konventionellen Limousinenaufbau und dem eigenwilligen Vorderwagen kaum sein.

Dort finden sich vor der Frontscheibe terassenartig abfallend erst der Benzintank mit Einfüllstutzen, dann der Wasserkühler mit ebensolchem Stutzen, schließlich die sehr lange Motorhaube, deren vorn abgerundete Front nur ansatzweise zu sehen ist.

Die Proportionen lassen vermuten, dass sich unter dieser Haube einer der Sechszylindermotoren verbarg, welche Renault kurz vor dem 1. Weltkrieg anbot. Da der Hersteller jedoch auch Anfang der 1920er Jahre an seiner eigene Linie festhielt und der Limousinenaufbau relativ modern wirkt, ist eine spätere Entstehung oder eine Neukarossierung nach dem 1. Weltkrieg nicht auszuschließen.

So oder so ist dies ein faszinierendes Beispiel für das Konzept “Anders reisen”, welches einst ein Renault ermöglichte. Wie im Fall der Baukunst darf man über die Kreationen dieses einst so prestigeträchtigen Herstellers in der Gegenwart getrost hinweggehen.

Aber genau deshalb lesen Sie ja hier mit, nicht wahr? Um anders und unbelastet durch die Zeit zu reisen, als es möglich ist, wenn man sich den oft betrüblichen Beschränkungen des Hier und Jetzt unterwirft.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Vorkriegsautos im Nachkriegs-Capri

Auf den Titel meines heutigen Blog-Eintrags bin ich besonders stolz – denn bei wer weiß wievielen Lesern beginnt beim Stichwort “Nachkriegs-Capri” gleich das Kopfkino und transportiert sie zurück in die 1970/80er Jahre.

Auch wenn sie damit das Thema um Längen verfehlen – eine lässliche Sünde. Gehört doch der “Capri” aus dem Hause Ford zu den attraktivsten Nachkriegskreationen des längst auf dem absteigenden Ast befindlichen Pioniers der Massenmotorisierung.

Ich kann sogar mit eigenen Erinnerungen dazu aufwarten. Ein Klassenkamerad kaufte sich als ersten Wagen einen orangefarbenen Capri 2 mit 3 Liter-Sechszylindermotor.

Die Aussicht von innen auf die lange Motorhaube kann ich noch ebenso abrufen wie die Tatsache, dass das Gerät über eine blattgefederte Hinterachse verfügte. Für uns Vorkriegsfreunde ein vertrautes Detail – für Ford dagegen kein Ruhmesblatt.

Dennoch ist der Capri unvergessen, in meinem Fall auch deshalb weil besagter Schulkollege ihn alsbald aufs Dach legte. Ein Beifahrer hätte das nicht überlebt…

Meine zweite Capri-Erinnerung reicht rund 30 Jahre zurück. Ich hatte als Student zwar wenig Geld, aber für sündteure Italienurlaube hatte ich stets genug zusammengespart. So ging es einst im Schlafwagen über Rom nach Neapel und von dort mit dem Bummelzug “Circumvesuviana” nach Sorrent, das der Insel Capri gegenüberliegt.

Während meiner zwei Wochen Aufenthalt in dieser himmlischen Gegend, welche die legendär schöne Amalfiküste umfasst, musste auch eine Überfahrt nach Capri sein.

Dort wollte ich damals die Reste der Villa des römischen Kaisers Tiberius besichtigen, die man zu Fuß erreichen kann. Dazu galt es freilich, den kleinen Hauptort der Insel zu durchqueren, der eigentlich immer von Touristen aus aller Welt bevölkert ist.

Dort hielt es mich nicht lange, ich nahm die berühmte “Piazetta” mit der winzigen Kirche Santo Stefano nur am Rande wahr und wanderte weiter.

Von der Tiberiusvilla aus lässt sich die Insel übrigens auf schmalen alten Pfaden in erstaunlicher Einsamkeit umrunden – man muss nur den rechten Abzweig finden und die grandiose Küste bis zu den berühmten Faraglioni gehört einem fast allein.

Heute, viele Jahre später, bin ich wieder auf der Piazetta gewesen – im Nachkriegs-Capri anno 1950. Klingt chronologisch etwas merkwürdig, und ist in einem Vorkriegsauto-Blog zusätzlich irritierend. Aber sehen Sie selbst:

Vorkriegswagen auf Capri im Jahr 1950; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Was auf den ersten Blick chaotisch wirkt, entpuppt sich bei näherer Betrachtung als ein Kleinod. Es reicht, an der eigentümlichen Kirche Santo Stefano auf der Piazetta von Capri-Stadt vorbeigehuscht zu sein, um sie auch nach langer Zeit wiederzuerkennen.

Eine kurze Bildrecherche bestätigte: Diese auf 1950 datierter Abzug aus einem Berliner Fotogeschäft erzählte von einem Aufenthalt deutscher Reisender auf Capri fünf Jahre nach Ende des 2. Weltkriegs.

Damals waren die Wunden auf beiden Seiten noch längst nicht verheilt. Italien war durch die Ausplünderung für die deutsche Kriegswirtschaft ab 1943 verarmt und zigtausende Italiener hatten Zwangsarbeit in Deutschland leisten müssen.

Und dann kamen just fünf Jahre nach Kriegsende wieder Deutsche ins Land. Nach allem, was ich weiß, überwog auf italienischer Seite der gesunde Geschäftssinn und oft wohl auch natürliche Gastfreundschaft.

Aber selbstverständlich war das nicht, dass man die Deutschen es in der Regel nicht spüren ließ, dass viele ihrer uniformierten Landsleute kurz zuvor noch Gegner und Ausbeuter waren. Rühmliche Ausnahmen gab es freilich auch und sie genießen bis heute großes Ansehen.

Zurück ins Jahr 1950 nach Capri und hinein ins chaotische Treiben, das ein Pier Paolo Pasolini damals kaum hätte besser mit der Kamera einfangen können:

Hier trifft alles zusammen: Die ältere Generation, die elegant gekleidet im Schatten flaniert, und der drahtige junge Bursche, der im Unterhemd über die sonnendurchflutete Straße schreitet – den Kopf einem großen Tourenwagen zugewandt, der fast die ganze Breite zum Wenden zu benötigen scheint.

Im Hintergrund erkennt man vage ein weiteres Auto, das ebenfalls noch in der Vorkriegszeit zu verorten ist. Was ist hier los und warum hat hier jemand genau in diesem Moment auf den Auslöser seiner Mittelformatkamera gedrückt?

Schwer zu sagen. Was uns so reizvoll an der Situation vorkommt, mag auch vor über 70 Jahren einen fähigen Fotoamateur spontan begeistert haben.

Er hat alles richtig gemacht – bis auf eines: Die Marke des Tourers hätte er schon für uns festhalten können, denn der Wagen ist kaum zu identifizieren aus dieser Perspektive.

Das Auto wirkt auf den ersten Blick so, als stamme es vom Ende der 1920er Jahre, doch die seitlichen Schürzen an den Vorderkotflügeln tauchen erst Anfang der 1930er Jahre auf.

Solche offenen Aufbauten wurden übrigens für Taxis auf Capri noch viel länger gefertigt. Das erfuhr ich bei meinem letzten Aufenthalt auf der Insel vor einigen Jahren. Denn das gerade bereitstehende Taxi, das mich damals in charmanter Begleitung in den höhergelegenen Ort Anacapri brachte, war ein Fiat der 1980er Jahre in einer Ausführung als offener Fünfsitzer!

Sie sehen: Auch im Nachkriegs-Capri hat viel Vorkriegszeit überdauert. Am besten genießen Sie das, wenn Sie Capri-Stadt links liegen lassen und hoch nach Anacapri fahren.

In dem weit ruhigeren Städtchen sollten Sie unbedingt die Villa San Michele besuchen, die sich einst der schwedische Arzt und Buchautor Axel Munthe errichten ließ.

Was er dort der Nachwelt hinterlassen hat, ist einer der magischsten Orte in Europa überhaupt. Die Zeit dort oben über den Felsen der Insel, die so viel gesehen hat, scheint stillzustehen. In der weiß gekalkten Villa und dem herrlichen Park finden sich zahllose antike Werke, die Munthe einst mit mit sicherem Geschmack zusammengetragen hat.

Wenn nicht gerade eine Reisegesellschaft dort ist, gehören Ihnen diese bis heute liebevoll bewahrten Schätze praktisch alleine.

Am äußersten Ende des Parks befindet sich ein Säulengang, der in einer Art Loggia endet. Dort schaut eine altägyptische Sphinx über das Meer und ich verspreche Ihnen: Diesen Blick über den Golf von Neapel mit dem Vesuv im Hintergrund vergessen Sie nie:

Villa San Michele, Anacapri, Mai 2017; Bildrechte: Michael Schlenger

Erfahrene Leser meines Blogs wissen natürlich, was ihnen jetzt blüht: Der Autor geht auf Reisen in den Süden und so wird es für etwas mehr als eine Woche hier keine automobilen Neuigkeiten aus der wundersamen Welt von gestern geben…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.