Was kann an einem Cabriolet des hervorragend dokumentierten Achtzylindertyps 350 der sächsischen Luxusschmiede Horch schon einzigartig sein?
Von den fast 3.000 Exemplaren des Modells, die zwischen Ende 1928 und Sommer 1932 entstanden, gab es natürlich eine Reihe offener Versionen, vor allem die Ausführung als Sedan-Cabriolet findet sich öfters.
Hier haben wir ein Exemplar, das ich früher schon einmal vorgestellt habe:

Das ist ein ziemlicher Brocken und ich tue mich schwer damit, diesen Aufbau als gelungen zu bezeichnen. Die Gürtellinie ist einfach zu hoch, da helfen auch die Versuche nicht, mit allerlei Zierrat die schiere Höhe der Türen zu kaschieren.
Diese teutonische Unbeholfenheit findet sich auch bei anderen offenen Versionen auf Basis des Horch 350, selbst das serienmäßige Zweisitzer-Sportcabriolet lässt sich kaum als elegant bezeichnen.
Vermutlich mochte es die Kundschaft aber meist so, denn dass es anders ging – wenn das jemand wollte – das kann ich heute an einem Exemplar zeigen, das mich restlos begeistert.
Dieser Horch 350 ist so unerhört anders und dermaßen raffiniert, dass ich die Behauptung wage, dass dies „einer wie keiner“ war.
Die Fotos dieses Wagens verdanke ich Heiner Goedecke aus Leipzig, der uns kürzlich schon mit Familienfotos zum Fafnir 376 und zum Adler 6/25 PS beglückt hat.
Diesmal ist der Horch 350 an der Reihe, den einst sein Großvater besaß. Der war Generaldirektor bei einem bedeutenden sächsischen Stromversorger (ESAG) und ließ sich als solcher morgens von Chauffeur Henke zur Arbeit bringen.
Seine Tätigkeit war eine veranwortungsvolle – und eine konstruktive noch dazu. Unter seiner Leitung wurde das Kohlekraftwerk Kulkwitz der Landkraftwerke Leipzig AG gebaut. Grundlastfähigkeit und Regelbarkeit, das erscheint einem heute wie aus einer anderen Zeit.
Wie aus einer anderen Zeit kommt einem auch die Heckansicht des Wagens vor, um den es geht. Um die Sache spannender zu machen, zäume ich das Pferd heute von hinten auf:

Wüsste ich es nicht besser, würde ich hier schwören, dass es sich um einen amerikanischen „Rumble-Seat“-Roadster mit besonders niedriger Dachlinie handelt.
Vielleicht würde mich auf den zweiten Blick die Eleganz des hinteren Dachabschlusses stutzig machen, die man so an den in Großserie gebauten US-Wagen dieses Karosserietyps eher selten findet.
Dass es sich tatsächlich um eine Ausführung mit „Schwiegermuttersitz“ handelt, belegt die folgende Aufnahme:

Auch hier fällt wieder die außerordentlich niedrige Dachlinie ins Auge – ansonsten Fehlanzeige, was irgendwelche Hinweise auf den Hersteller angeht.
Auf der nächsten Aufnahme aus dem Familienalbum von Heiner Goedecke erscheint der Wagen ebenfalls nicht gerade wie ein typischer Horch 350.
Meine Vermutung wäre hier gewesen: „Amerikanerwagen mit deutscher Manufakturkarosserie“ – Ende der 1920er Jahre durchaus verbreitet.

Erst das nächste Foto bringt uns dem Hersteller näher.
Darauf sehen wir auch das erwähnte Kraftwerk Kulkwitz – wo der Großvater von Heiner Goedecke einst die Leitung innehatte, nachdem es unter seiner Aufsicht gebaut worden war – nebenbei zu einer Zeit, als Funktionsbauten noch ästhetische Qualitäten haben durften:

Anhand dieser Abbildung würde man vermutlich darauf kommen, dass es sich um einen Horch 350 handeln könnte – der Kühler mit schemenhaft wiedergegebener Figur und das Format der Scheinwerfer würden das jedenfalls nahelegen.
Aber diese vertraut erscheinende Frontpartie würde man doch nie mit einer dermaßen eleganten Seitenlinie in Verbindung bringen, oder?
Jedenfalls ist mir noch nie ein Horch des Typs 350 begegnet, dessen Aufbau so leicht und schwungvoll daherkommt.
Zum einen bewirkt die dunkel abgesetzte „Schulter“partie, dass die Tür weit niedriger erscheint, als sie es tatsächlich ist. Zum anderen hat die damit ansteigende Schwellerpartie zur Folge, dass die enorme Länge des Radstands optisch verkürzt wird.
Sonst wären hier bloß endlose Geraden zu sehen, die nicht nur langweilig wirken, sondern auch zu einem umharmonischen Verhältnis zwischen der Dachpartie und der Länge des Aufbaus führten.
Genug der Worte, dieser aus meiner Sicht meisterlich gestaltete Wagen vermag durch seine Präsenz ganz von alleine seine Wirkung zu entfalten:

Für mich ist dies eine der hervorragendsten Kreationen deutschen Karosseriebaus um 1930, und wenn die Überlieferung zutrifft, wurde sie von Zschau in Leipzig gefertigt.
Vielleicht kann ein Leser dies verifizieren oder eventuell auch eine andere dafür in Frage kommende Manufaktur benennen.
So oder so muss dieser Aufbau eine Rarität darstellen, wie sie sich am deutschen Markt jener Zeit sonst kaum findet (von Kellner aus Berlin abgesehen).
Das Beste aus diesem Bilderreigen habe ich aber bis zum Schluss aufgehoben. Denn eine Aufnahme zeigt den Horch 350 von Heiner Goedeckes Großvater auch aus der Idealperspektive schräg von vorne.
Dieser Wagen war wirklich „einer wie sonst keiner“…

Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.