Das Automobil steckte noch in den Kinderschuhen und war ein teures Vergnügen – doch früh verlockte es seine Besitzer dazu, abseits der Eisenbahnstrecken und unabhängig von Fahrplänen die Wunder der Welt aufzusuchen.
Magische Anziehungskraft übte in Mitteleuropa das an Kulturschätzen so reiche und von der Natur gesegnete Italien aus. Tatsächlich war das Auto schon kurz nach 1900 so weit ausgereift, dass man sich damit auf eigene Faust ins Land der Sehnsüchte begeben konnte.
So unternahm anno 1902 der Journalist und Schriftsteller Otto Julius Bierbaum mit seiner Frau eine Italienreise in einem 8 PS-Adler, den ihm das Werk in Frankfurt/Main in vollem Vertrauen auf die Qualitäten des Wagens zur Verfügung gestellt hatte.
Wie ein Adler-Auto damals aussah, davon vermittelt folgende Reklame aus dem Jahr 1902 eine Vorstellung:
Adler-Reklame von 1902; Original aus Sammlung Michael Schlenger
Über den Gotthardpass bis hinunter nach Sorrent am Golf von Neapel trug der Adler damals seine Insassen. Verewigt hat Otto Julius Bierbaum dieses Abenteuer sehr lesenswert in seinem Buch „Empfindsame Reise im Automobil„.
Den Deckel der heute verfügbaren Ausgabe ziert zwar ein Adler von ca. 1912, aber das tut dem Lesevergnügen keinen Abbruch. Über das Auto verliert der Autor übrigens kaum ein Wort, ihn interessierten nur Land und Leute – der Adler war reines Mittel zum Zweck.
Jedenfalls gilt Bierbaum hierzulande als erster Automobiltourist, der nicht zu sportlichen Zwecken, sondern aus Reiselust die Alpen überwand – vielleicht ist einem Leser aber eine noch frühere solche Episode bekannt.
Solche Geschichten weckten natürlich in vermögenden Reisenden das Interesse, sich ebenfalls im eigenen Wagen gen Süden aufzumachen. Dazu muss auch dieser Herr gehört haben, der es im Gebirge schon hoch hinausgebracht hatte, als seine Begleitung dieses Foto anfertigte:
Peugeot um 1904, wohl Typ 63; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Es ist rund 25 Jahre her, dass ich mit meinem treuen 1200er VW Käfer die Paßstraße über den Gotthard auf dem Weg in die italienischen Marken nahm. Daher kann ich mich nicht mehr genau erinnern, wie es dort oben aussah.
Ich würde aber nicht ausschließen, dass dieses Foto ebenfalls auf dem Gotthard entstand – wer weiß es genau?
Meine Recherchen galten auch mehr dem sportlich karossierten Zweisitzer. Der Wagen wirkt mit seinem senkrecht im Wind stehenden Kühler schon ein ganzes Stück moderner als der Adler von 1902, der Otto Julius Bierbaum zur Verfügung stand.
Autos mit solchen Kühler, die oben einen eckigen Wasserkasten besaßen, gab es ab etwa 1903 einige. Den Hersteller dieses Wagens konnte ich anhand der Form der Plakette identifizieren, die sich mittig auf der Schottwand befindet, welche Motor- und Fahrerraum voneinander trennt:
Das müsste ein Peugeot sein, dachte ich. Ein Blick in Wolfgang Schmarbecks deutsches Standardwerk zu der Marke (Motorbuch-Verlag, 1. Auflage 1980) bestätigte dies.
Die erwähnte Kühlergestaltung findet sich bei Peugeot-Wagen erstmals bereits 1903, ich tippe hier aber eher auf ein Modell von 1904 und zwar speziell den 7 PS leistenden Typ 63.
Im erwähnten Buch findet sich nämlich ein – abgesehen vom dort viersitzigen Aufbau – praktisch identisches Fahrzeug. Das auf den ersten Blick recht ähnliche Modell 69 „Bébé“ von 1905 möchte ich aufgrund der Proportionen ausschließen.
Auf jeden Fall haben wir es hier mit einem der kompakteren damaligen Peugeot-Typen zu tun, die meist noch deutlich weniger als 10 PS Höchstleistung aufwiesen. Maximal 40 bis 50 Stundenkilometer konnten damit erreicht werden.
Der entscheidende Vorteil war aber die Unabhängigkeit des Reisens und der unmittelbare Genuss der Landschaft – was beides mit der Eisenbahn nicht möglich war. Schon früh müssen sich geschäftstüchtige Leute gefunden haben, welche die Benzinversorgung entlang der von den Automobilisten bevorzugten Routen gesichert haben.
Das hat sich alles damals in raschem Tempo quasi von selbst entwickelt. Wir betrachten diese Strukturen heute als selbstverständlich, profitieren dabei immer noch von der Pionierarbeit unserer Altvorderen, welche damals den Aufstieg des Autos ermöglichten.
Daran will ich denken, wenn ich morgen selbst wieder für einige Tage gen Süden reise und wenn es dabei durch den Gotthard-Tunnel geht, dann ziehe ich meinen imaginären Hut vor diesen Wegbereitern des modernen Reisens.
Solange herrscht im Blog Sendepause. Vielleicht vertreiben Sie sich unterdessen die Zeit mit Recherchen zu Otto Julius Bierbaums Italientrip – dazu gibt es im Netz einiges…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
„Stillgestanden“ – den Befehl kennt jeder, der einst beim „Bund“ gedient hat – schon in der Spätphase des Kalten Kriegs ein als Armee getarnter Beamtenladen, der zum Glück nie gebraucht wurde.
Unvergessen, wenn sich der Feldwebel – nebenbei der Kommandeur des „Marder“-Schützenpanzers, als dessen Richtschütze ich 1988/89 fungierte – vor mir mit rotem Kopf aufbaute und solange kalt musterte, bis ich mir das Grinsen nicht verkneifen konnte.
„Schlenger, eine Runde im Laufschritt um die Ringstraße!“ konnte es dann schon einmal heißen. War mir egal, ich war fit wie bei den Panzergrenadieren üblich und lief vergnügt meine Ehrenrunde. Im Übrigen verstanden wir uns bestens, wenn es darauf ankam.
„Stillgestanden“, das galt auch außerhalb der Kasernenhöfe schon vor dem 1. Weltkrieg, nämlich wenn man sich für Mit- und Nachwelt ablichten lassen wollte. Das Fotomaterial war noch wenig empfindlich und verlangte Belichtungszeiten von einigen Sekunden.
So statisch diese Zeugnisse naturgemäß wirken, so sehr erfreuen wir uns nach weit über 100 Jahren noch daran. Ob das mit den meist rein digitalen Aufnahmen unserer Tage künftig ebenfalls so sein wird, daran darf man zweifeln.
Aber vielleicht wird es irgendwann ja wieder Visionäre wie einst Senator Cassiodor geben, der nach dem Ende des Weströmischen Reichs systematische Kopien bedeutender antiker Schriften in Auftrag gab. Seiner Initiative verdanken wir das weitgehende Überleben des damals schon arg geschrumpften Literaturbestands über das Mittelalter hinweg.
Jedenfalls steht auf den Fotos aus der Frühzeit des Automobils nicht nur das Personal stramm, sondern auch die Zeit still – und das beschert uns großartige Zeugnisse wie das hier:
Adler „Coupé de Ville“ von 1908; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks
Diese Aufnahme verdanken wir Leser Klaas Dierks, der zusammen mit weiteren Gleichgesinnten solche Dokumente aus der automobilen „Antike“ birgt und sie so vor dem Vergessen und Vergehen zu bewahren versucht – ein wenig wie einst Senator Cassiodor.
„Stillgestanden“, diese Anweisung nahm auch der Fahrer dieses ungewöhnlichen Wagens sehr ernst – angestrengt schaut er in die Ferne, während die Fotoplatte belichtet wird.
Die doppelreihige, ein wenig an eine Uniform erinnernde Jacke, die Stulpenhandschuhe und die Schirmmütze weisen ihn als professionellen Fahrer aus. Zwar war er nur Angestellter vermögender Herrschaften, aber als Inhaber exklusiver Expertise sehr geschätzt.
Leider wissen wir gar nichts über den Mann und die Besitzer „seines“ Wagens, zu dem er eine enge Beziehung pflegte. Vielsagend ist die Geste seiner linken Hand, mit welcher er das Auto berührt: „Mein Kamerad auf allen Wegen, durch dick und dünn„.
Dieses Band versteht nur, welcher selbst einmal erlebt hat, wie ein Automobil sorgfältige Behandlung und hingebungsvolle Pflege durch langjährige Treue entlohnt.
Genug der Sentimentalität – was ist das denn nun für ein Wagen? Nun zunächst handelt es sich um ein Fahrzeug, dessen Aufbau man seinerzeit als „Coupé de Ville“ bezeichnete. Dabei saßen die Passagiere in einem zweisitzigen Aufbau, während der Fahrer vor ihnen im Freien seiner Arbeit nachging. So war das schon bei Kutschen über Jahrhunderte der Fall.
„Ja gut, das weiß ich auch“, mag jetzt eine ungeduldige Natur denken, aber was ist das für ein Fabrikat und Typ? Nun, das kann ich nur unter Vorbehalt sagen.
Klar ist für mich, dass wir einen frühen „Adler“ des gleichnamigen Herstellers aus Frankfurt/Main vor uns haben. Das verrät die typische Gestaltung der Kühlerpartie:
Da hier die Motorhaube noch übergangslos auf die Trennwand zum Fahrerraum stößt, kann dieser Wagen kaum später als 1909 entstanden sein.
Ab 1910 setzte sich bei Fabrikaten im deutschen Sprachraum nämlich der „Windlauf“ durch – ein Blech, das für einen strömungsgünstigen Übergang von der Haube zur (hier fehlenden) Windschutzscheibe sorgte.
Die Proportionen der Frontpartie sowie die Gestaltung von Kotflügeln und Rädern finden sich nahezu identisch auf folgender Abbildung, welche der Überlieferung nach einenm Adler 8/15 PS zeigt, wie er 1908/09 gebaut wurde:
Adler 8/15 PS Droschken-Coupé von 1908/09; Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger
Leider ist das die einzige mir bekannte Vergleichsabbildung eines solchen Adler des Typs 8/15 PS, denn für diese Marke, die einst zu den bedeutensten in Deutschland überhaupt zählte, gilt seit langem ebenfalls das Motto „Stillgestanden“.
Über 40 Jahre ist es her, dass Altmeister Werner Oswald den Versuch einer Gesamtschau aller je hergestellten Adler-Automobile unternahm („Adler-Automobile, 1900-1945„, Motorbuch-Verlag, 1. Auflage 1981).
Seither steht meines Wissens nach die Zeit still in Sachen „Adler“-Dokumentation. Der in mancher Hinsicht so rührige Adler Motor-Veteranen-Club ist in der Hinsicht bislang ebenfalls untätig geblieben, obwohl es es dort Material ohne Ende geben muss.
So bleibt es am Ende bei der Vermutung, dass das exklusive „Coupé de Ville“ auf dem Foto von Klaas Dierks 1908/09 auf Basis eines eher kleinen Adlers entstanden war, und dafür kommt vor allem der 2-litrige Vierzylindertyp 8/15 PS in Betracht.
Wer es genauer weiß, ist aufgerufen, das hier kundzutun und auf Vergleichsstücke zu verweisen. Denn so wenig mich die Gegenwart zu begeistern vermag, wünsche ich mir, dass zumindest in Sachen Adler-Veteranen die Zeit nicht länger stillsteht…
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Neuerungen werden gerne mit dem Attribut „modern“ geadelt.
Einst bedeutete das nicht mehr, dass eine Sache der aktuellen Mode entsprach. Dass sie dem Bestehenden gegenüber überlegen sein müsse, schwang dabei noch nicht mit, eher eine gewisse Skepsis nach dem Motto: „Na, ob sich das lange hält…“.
Erst im frühen 20. Jahrhundert kamen die Verfechter radikaler neuer Gestaltung auf die Idee, ihre Novitäten selbstbewusst als epochal auszugeben – die „Moderne“ war geboren.
Ihr haben wir das moderne Bauen zu verdanken, das nun schon seit 100 Jahren das ewig gleiche Gestrige ist, nämlich Bauhaus am Fließband. Auch die Moderne Kunst gibt es schon so lange – sie ist genial egalitär: man sieht nicht mehr, wer etwas kann und wer nicht.
Zum Glück kann man sich als Gegenwartsmensch mit dem Kulturerbe von rund 2.500 Jahren auseinandersetzen. Ich pflege zu sagen: „Wenn ich alle Meisterwerke der Vergangenheit kenne, dann beschäftige ich mich mit der Moderne – vielleicht.“
Nur bei der Technik mache ich ein Ausnahme – da interessieren mich Historie und Neuerungen gleichermaßen. Man braucht dabei keine Belehrung, um Neues zu erkennen und zu bewerten.
Man muss allerdings schon genau hinschauen und sich ein eigenes Urteil bilden können und wollen. Bei ganz frühen Automobilen ist das oft anspruchsvoll, aber spannend.
So schauen wir heute zu, wie sich vor 110 Jahren bei der Marke Brennabor aus Brandenburg/Havel moderne Zeiten anbahnten. Dazu beginnen wir hiermit:
Brennabor Typ F 10/28 PS oder G 8/22 PS um 1911; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Die Freunde der Marke Benz werden hier natürlich die riesige Chauffeur-Limousine auf der rechten Seite sehen – doch ausgerechnet die wird von dem etwas kleineren Brennabor links überholt und das schon im Stillstand!
Denn der Benz ist noch ganz der traditionellen Gestaltung früher Automobile verhaftet, bei welcher der Motorraum abrupt und meist rechtwinklig auf eine Schottwand trifft, auf deren Rückseite sich das Armaturenbrett und damit der Fahrerraum befinden.
Beim Brennabor dagegen wird diese Partie von einem aufwärtszeigenden Blech verdeckt, das den Fahrtwind auf die Windschutzscheibe umlenkt.
Dieses Element, das sich erstmals bei Sportwagen ab 1908/09 findet, setzte sich im Serienbau ab 1910 breit durch – vor allem im deutschsprachigen Raum. In gestalterischer Hinsicht beginnt damit die Moderne im Automobilbau.
Sie können die Partie heute noch im Schrumpfformat beim Waschen Ihres Autos studieren – es ist das unscheinbare Blech zwischen dem hinteren Ende der Motorhaube und der Unterkante der Frontscheibe. Zumindest hier also seit über 100 Jahren nichts Neues.
Bei Brennabor wie bei vielen anderen Herstellern beließ man es aber nicht beim Hinzufügen der modernen Partie, die mal als Windlauf, mal als Windkappe firmierte.
Was hier noch wie übergestülpt wirkt und sich bisweilen mit einer Kante von der davorliegenden Motorhaube absetzte, wurde in kürzester Zeit harmonisch in die Gestaltung des Vorderwagens integriert.
Dabei verschwand im Fall der Brennabor-Wagen auch das markante gestufte Kühleroberteil, das sich damals bei etlichen Marken fand, bei NSU etwa.
Moderne Zeiten sollte das geglättete Erscheinungsbild der Brennabor-Wagen widerspiegeln – hier grafisch kombiniert mit einem Hinweis auf den internationalen Vertrieb der Autos:
Brennabor Typ F 10/28 PS; Reklame aus „Motor“, Heft 01-1914; Original aus Sammlung Michael Schlenger
Mit diesem gestalterischen Sprung in die Moderne ging bei Brennabor viel Individualiät verloren – ein Opel oder Dürkopp von anno 1913/1914 hätte auf einer solchen stilisierten Darstellung ganz ähnlich ausgesehen.
Tatsächlich stellt die Bestimmung deutscher Wagen jener Zeit eine Herausforderung dar, wenn sie noch nicht über die eine oder andere Form des Spitzkühlers verfügen (ab 1913).
Zum Glück trieb Brennabor damals die Modernisierung im Äußeren so auf die Spitze, dass praktisch nichs Individuelles mehr verblieb – und genau das liefert (wie beim Nachkriegstyp P 8/24 PS) kurioserweise den entscheidenden Hinweis auf Hersteller und Typ:
Das kann ich heute anhand einer hervorragenden Aufnahme zeigen, die ich der Sammelleidenschaft und glücklichen Hand von Matthias Schmidt aus Dresden verdanke:
Brennabor Typ F 10/28 PS ab 1912; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)
Dieses sehr wahrscheinlich professionell angefertigte Foto zeigt einen deutschen Tourenwagen ab etwa 1912. Zu dieser Zeit gingen Motorhaube und Windlauf schon harmonisch ineinander über, letzterer war aber oft noch steiler als erstere.
Ab 1913/14 findet sich dann bei den beiden Bauteilen meist eine durchgehende Linie, entweder konstant ansteigend oder waagerecht verlaufend. Das steht übrigens so nirgends in der Literatur, das ist bloß das Ergebnis einiger Jahre Betrachtung solcher Dokumente.
So sehr ich mich über die Aufnahme von Matthias Schmidt gefreut habe, so ratlos war ich zunächst, was die Identität des Wagens angeht. In meinem eigenen Fundus finden sich unzählige Fotos ganz ähnlicher Tourer, deren Hersteller und Typ rätselhaft sind.
Doch ist mir jüngst gelungen, einige dieser Fälle zu lösen – das ist nebenbei eine ziemlich zeitraubende Sache, weshalb ich manchmal im Blog eine kleine Pause einlege.
Nun wollen Sie sicher wissen, wie ich dieses Rätsel geknackt habe. Dazu will ich Ihr Augenmerk auf die Frontpartie lenken – von wenigen Ausnahmen abgesehen der einzige Teil des Aufbaus, der damals einigermaßen markenspezifisch gestaltet war:
Bevor wir ins Detail gehen, werfen Sie vielleicht noch einen kurzen Blick auf die im Hintergrund zufällig mitabgelichteten Personen. Es sind diese Momentaufnahmen längst vergangenen Lebens, die solche Autofotos aus meiner Sicht berührend machen.
Sofern Sie jetzt nicht Ihre Urgroßeltern wiedererkannt zu haben glauben, wenden wir uns jetzt dem Auto selbst zu. Wie Sie sehen, sehen Sie: nichts, jedenfalls nichts Spezifisches.
Aber unser Gehirn ist ein Wunder an Leistungsvermögen, obwohl es doch gar nicht „digitalisiert“ ist, sondern noch ganz der analogen Welt aus Urzeiten entstammt. Solange niemand genau weiß, wie es funktioniert, geschweige denn, es nachbauen kann, kann man die angebliche Bedrohung durch „Künstliche Intelligenz“ als künstliche Aufregung abtun.
Inmitten der blanken Seitenfläche der Motorhaube, auf der sich normalerweise mehr oder weniger markant gestaltete Luftschlitze befinden, war nämlich etwas zu sehen, was mir kürzlich beim Durchblättern des Standardwerks „Deutsche Autos 1885-1920″ von H. Schrader (1. Auflage 2002) in ganz anderem Zusammenhang aufgefallen war.
So scheinen Brennabor-Wagen schon ab etwa 1905 solche „blanken“ Motorhauben besessen zu haben, in deren exakter Mitte sich ein Griff zum Anheben befand, welcher an drei Punkten befestigt war: links, rechts und mittig oben.
Zwei dieser Befestigungspunkte sind auf obigem Bildausschnitt zu sehen. Das ist zwar ein starkes Indiz, genügt aber für sich genommen noch nicht. Also hielt ich Ausschau nach weiteren kleinen Details, die den Eindruck vielleicht bestätigen.
Diese fanden sich dann tatsächlich, darunter das nach oben an den Rahmen gebogene Ende des Kotflügelendes, welches dort mit zwei Nieten angeheftet ist.
Das findet sich zusammen mit der Gestaltung des Kotflügels insgesamt, den Sicken am Ende der Motorhaube, den Radnaben sowie den auffallend stark nach unten gekröpften vorderen Rahmenenden auf einer Abbildung in besagtem Buch auf S. 1912.
Dort ist ein nahezu identisches Fahrzeug – bloß als Chauffeur-Limousine – zu sehen, das als Brennabor Typ F 10/28 PS von 1912 bezeichnet wird.
Ich bin nahezu sicher, dass das Foto von Matthias Schmidt genau solch einen Brennabor des Baujahrs 1912 (evtl. auch 1913) zeigt. Mag sein, dass er den kleineren Motor des Typs G 8/22 PS besaß – äußerlich war dieser wohl kaum vom stärkeren F-Typ zu unterscheiden.
Beide Modelle besaßen Vierzylindermotoren damals gängiger Bauart (Seitenventiler), die aber immerhin ein Spitzentempo von 70-80 km/h erlaubten. Viel weiter waren viele deutsche Hersteller auch Ende der ach‘ so modernen 1920er Jahre nicht.
Werfen wir zum Schluss noch einen Blick auf die beiden Insassen des Wagens:
Diese beiden Herren entsprachen modisch ganz den „modernen Zeiten“ der Nachkriegszeit. Da der Brennabor aber noch Gasbeleuchtung aufweist und nur mäßig gebraucht wirkt, vermute ich aber, dass die Aufnahme noch kurz vor dem 1. Weltkrieg entstand.
Dieser bescherte allen Teilnehmerländern, von denen vier Jahre lange keines offiziell das Bedürfnis verspürte, aufzuhören mit dem wechselseitigen Ermorden junger Männer, den Untergang der bisherigen Welt.
Damit war Platz für den Aufbruch in eine Moderne, die es wohl so andernfalls nicht gegeben hätte. Dinge wie das Frauenwahlrecht, 8-Stunden-Tag und liberalere Anschauungen hätten sich früher oder später wahrscheinlich ebenfalls durchgesetzt, aber vielleicht wären uns die Verheerungen der Moderne erspart geblieben, die ich vor allem im Bauwesen sehe.
Wie würde unsere Welt sonst aussehen – noch dazu ohne die Katastrophe des 2. Weltkriegs? Das kann sich keine Phantasie ausmalen. Bloß bei den Automobilen hätte sich die Entwicklung in ihren großen Linien mehr oder weniger in derselben Richtung ergeben.
Denn als der Brennabor auf dem heute vorgestellten Foto gebaut wurde, fertigte Ford in den USA bereits das Model T im Fließbandverfahren.
1914, als der 1. Weltkrieg begann, baute Ford mehr Autos als alle übrigen Hersteller auf der Welt zusammen. Damit begannen bereits die modernen Zeiten der Demokratisierung des Automobils und Brennabor sollte ab 1919 erstmals einen Beitrag dazu leisten…
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Keine blasse Ahnung, womit ich es zu tun habe – das gilt für zahllose Bilder von Vorkriegsautos aus meinem Fundus.
Speziell bei sehr frühen Exemplaren kommt das häufiger vor. Das liegt an der in die Tausenden gehenden Zahl der Hersteller in Europa und in den USA, welche – meist mit nur geringem Erfolg – versuchten, an der Erfolgsgeschichte des Automobils mitzuwirken.
Besonders zahlreich waren die frühen Fabrikate aus Frankreich und Belgien – eines davon zeigt vermutlich diese Aufnahme:
unidentifiziertes Veteranenauto ab 1900; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
An diesem eigenwilligen, aber professionell gebaut wirkenden Gefährt beiße ich mir seit Jahren die Zähne aus. Bis heute habe ich keine blasse Ahnung, worum es sich handelt.
Dabei ist es weniger das verblichene Foto als solches, das Probleme bereitet. Denn hier kann man mit heutigen Mitteln einiges herausholen – ein Beispiel dafür bringe ich gleich.
Neben der Vielzahl der möglichen Fabrikate macht sich in solchen Fällen bemerkbar, dass bei so frühen Wagen die Aufnahmen der Hersteller für Prospekte und Reklamen fast immer die Seitenansicht zeigen.
Die Frontpartie bekommt man praktisch nur auf Privatfotos zu sehen, bei denen aber seltenst die Marke mitüberliefert ist. Und Kühlerembleme gab es anfänglich kaum.
Dennoch ist es natürlich von großem Reiz, der Identität solcher Exoten nachzuspüren und etwas über die Erbauer herauszufinden. Das eigene Herkommen und die Gründe für Erfolg und Scheitern der Vorfahren zu verstehen – das interessiert den Menschen nun einmal.
Heute kann ich vielleicht ein klein wenig dazu beitragen, eine Lücke in der Dokumentation einer der bedeutendsten deutschen Marken zu schließen: Horch!
Das mag etwas vermessen klingen, und vielleicht liege ich auch völlig daneben oder habe schlicht etwas übersehen. Immerhin gehört Horch zu den wenigen wirklich umfassend und in die Tiefe gehend erforschten deutschen Herstellern.
Vor allem Peter Kirchberg hat daran über Jahrzehnte gearbeitet und die Früchte seiner Arbeit sind im zusammen mit Jürgen Pönisch verfassten Standardwerk „Horch – Typen, Technik, Modelle“ (Verlag Delius-Klasing) trefflich versammelt.
Im Vorwort zu diesem Werk, dem ich je nach Blickwinkel immer wieder neue Erkenntnisse abgewinnen kann, weisen die Autoren jedoch selbst auf einige „weiße Flecken“ hin. Einer davon könnte sich eventuell heute verflüchtigen.
Jedenfalls meine ich, zumindest eine blasse Ahnung davon zu haben, was auf diesem erst dieser Tage von mir neu erworbenen Dokument einst festgehalten wurde:
Veteranenauto ab 1900; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Wiederum handelt es sich um ein mit zeitgenössischem Passepartout erhaltenes Foto. Solche Sachen schätze ich ganz besonders und bin dann auch bereit, mehr als die üblichen 5 EUR für historische Originalaufnahmen auszugeben.
In meiner „Studierstube“, die bis unter die Decke mit Automobilia und einschlägiger Literatur vollgestopft ist, bekommen solche Stücke einen besonderen Platz an einer Stelle ohne direkten Lichteinfall (die Fenster sind zudem mit halbtransparenten Rollos versehen).
So kann ich diese Zeugnisse täglich (eher abends bei Büchsenlicht) sehen, ohne weiteres Verblassen zu riskieren.
Für meinen Blog und die Markengalerien oder auch für etwaige Publikationen und Austellungen Dritter, die ich unterstütze, erstelle ich immer digitale Kopien.
Diese lassen sich dann auch so weit bearbeiten, dass man am Ende mehr als nur eine blasse Ahnung davon bekommt, was der Fotograf einst vor sich hatte. Mit meinen laienhaften Möglichkeiten ließ sich immerhin folgendes aus obigem Original herausholen:
Horch 10-12 PS von 1901/02; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Wer sich mit den frühen Veteranenwagen kurz nach 1900 befasst, begegnet Fahrzeugen mit einem solchen Erscheinungsbild auf Schritt und Tritt.
In der damals führenden französische Automobilindustrie hatte sich diese Gestaltungsweise mit nach Art einer umgedrehten Schaufel geformter Motorhaube (nach vorne und den Seiten abfallend) etabliert und findet sich bei zahllosen Marken.
Das gilt ebenfalls für den vorn unterhalb des Rahmens angebrachten Kühler mit schlangenartig gewundenen Wasserrohren. Diese Konstruktions- und Gestaltungsmerkmale französischer Hersteller übernahm auch die deutsche Konkurrenz – entweder im Rahmen von Lizenzfertigungen oder daran angelehnten Modellen.
Daher gestaltet sich die Identifikation eines solchen Wagens oft schwierig. Im vorliegenden Fall haben wir jedoch zwei Indizien, was die Herkunft angeht.
Zum einen verweist das Nummernschild auf eine Zulassung im Raum Dresden – damit rückt schon einmal ein sächsischer Hersteller ins Blickfeld. Zum anderen steht auf der Rückseite des Fotos „Horch“ geschrieben.
Dem habe ich anfänglich aber keinen Glauben geschenkt, weil mir die dort ebenfalls vermerkte Jahreszahl 1906 nicht plausibel erschien. Um diese Zeit sah ein Horch längst ganz anders aus, nämlich wie dieser Typ 18-22 PS (ab 1904) etwa:
Horch 18-22 PS von 1904/05; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Allerdings hatte ich bis dato mangels Fotomaterials noch keine Gelegenheit gehabt, mich mit den noch früheren Horch-Modellen zu beschäftigen.
Also ging ich dem Hinweis „Horch“ auf der Rückseite des Fotos nach – mit 1906 war eventuell auch nur das Aufnahmedatum gemeint – und studierte die Erstlinge der Marke bzw. aus der Kölner Experimentierphase von August Horch ab 1900.
Auf einen 1901 vorgestellten Einzylinderwagen, dessen Hinterachse noch riemengetrieben war, folgte im selben Jahr ein weiterer Einzylindertyp (4-5 PS) mit Kardanantrieb sowie ein Zweizylinder (9-10 PS).
Diese ganz frühen von Horch entwickelte Autos waren unter an ihrer senkrecht stehenden Lenksäule zu erkennen – die besitzt der Wagen auf dem heute vorgestellten Wagen ebenso wie den in der Literatur erwähnten Schlangenkühler vorn unten:
Während die Gestaltung der Radnaben stark der auf einem Foto des 1-Zylindertyps auf S. 53 des erwähnten Horch-Standardwerks ähnelt, unterscheidet sich die Ausführung der Kühlerschlangen deutlich.
Andererseits wiederum stimmen die Details der Motorhaube bis ins Detail überein, etwa die auf der Haubenflanke abgesetzte Fläche mit schrägstehenden Entlüftungschlitzen.
Jedoch sieht man auf den wenigen Abbildungen des entsprechenden frühen Horch-Einzylindertyps die Handbremse auf der in Fahrtrichtung linken Seite, und das Gestänge zu Übertragung der Kraft an die Hinterradbremsen verläuft auf bzw. unter Rahmenhöhe.
Das sieht bei „unserem“ mutmaßlichen“ Horch noch ganz anders aus, Hier befindet sich die Handbremse links und das Gestänge durchstößt schräg von oben kommend scheinbar den hinteren Kotflügel:
Habe ich bloß keine blasse Ahnung oder sehe ich hier tatsächlich eine andernorts so nicht dokumentierte Ausführung des Einzylinder-Horch 9-10 PS von 1901?
Oder haben wir es vielleicht mit einer frühen Form des Typs 10-12 von 1902 vor der Umstellung auf schrägstehende Lenksäule und Bienenwabenkühler zu tun?
Der recht große und schwere Aufbau als viersitziges „Tonneau“ würde aus meiner Sicht eher für eine Zweizylinderversion sprechen, der Einzylinder war dafür wohl zu schwach.
Wie dem auch sei – jetzt sind die Spezialisten für ganz frühe Horch-Wagen gefragt oder auch Amateure, die scharfsinniger sind als ich bzw. über noch mehr Bildmaterial zum Vergleich verfügen.
Zumindest eine blasse Ahnung meine ich aber in diesem Fall schon zu haben…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Heute werfe ich nach längerer Pause wieder einmal einen Blick auf ein frühes Fahrzeug aus britischer Produktion. Das Mutterland der Individualisten und Exzentriker bietet natürlich auch reiche Jagdgründe, was eigenwillige Autokonstruktionen angeht – von denen viele ein erstaunlich langes Leben hatten.
Dass ein Hersteller wie Morgan im 21. Jahrhundert immer noch Fahrzeuge nach Traditionen der Vorkriegszeit baut und sogar wieder einen fabelhaften Threewheeler anbietet, das ist nur in England möglich.
Ein weit früheres Beispiel für eine Autofirma, die sich mit einem reinen Nischenkonzept entgegen alle Wahrscheinlichkeit eine ganze Weile hielt, stelle ich heute vor. Ermöglicht hat mir das der deutsche Zusender des folgenden Fotos, der ungenannt bleiben möchte:
GWK von 1913; Originalfoto aus Familienbesitz (via Ulrich A.)
Diese Aufnahme aus dem Familienalbum ist 1913 in England entstanden (eventuell im Umland von Manchester), soviel sei dazu überliefert, so Ulrich A.
Ob ich herausfinden könne, was das für ein Fabrikat sei, wollte er wissen. Und ob das eventuell ein Wagen mit Heckmotor sein können, weil sich hinter dem Fahrerabteil eine seitliche Klappe befinde.
Davon hatte ich noch nie gehört, aber warum sollte ich auch – gab es doch einst tausende von Autoherstellern alleine in Europa. Tausende, nicht etwa nur hunderte oder zwei Dutzend.
Der noch in den Anfängen befindliche Automobilmarkt entwickelte sich völlig ohne öffentliche Einflussnahme, staatliche Subventionen oder gar eine zentrale Planwirtschaft, wie sie neuerdings hierzulande (wieder) zunehmend praktiziert wird.
Niemand wusste, welche technischen Konzepte sich durchsetzen würden und welche neuen die bereits etablierten verdrängen würden. Das blieb dem freien Wettbewerb von unzähligen Tüftlern, Erfindern und Unternehmen um die Gunst der Kunden überlassen.
Unter diesen Bedingungen bekamen auch unkonventionelle Konzepte ihre Chance – manche erwiesen sich zwar als Sackgasse, bewährten sich aber eine ganze Weile in einer Nische.
So war das auch mit dem GWK-Wagen, der seinen Namen vom ersten Buchstaben der drei Gründer Grice, Wood und Keiller erhielt.
Die Herren waren sich anno 1910 einig, dass es in Großbritannien einen Markt für einen leichten Zweisitzer gibt, der über einen Mittelmotor und ein Reibradgetriebe verfügt. Damit bauten sie auf bereits existierenden Konzepten auf.
Für den Friktionsantrieb nutzte man das Patent des Amerikaners John W. Lambert aus dem Jahr 1904 (die Information verdanke ich Enrico Busuito, Turin). Er hat sogar eine Abbildung aus der originalen Patentschrift aufgetrieben:
Abbildung aus dem Friktionsgetriebe-Patent von John W. Lambert, 1904; via Enrico Busuito (Turin)
Die Idee eines solchen Reibradantriebs ist auf dem Papier bestechend einfach: Am Ende der Antriebswelle befindet sich eine beschichtete Scheibe, die eine weitere, mit der Antriebsachse verbundene Scheibe antreibt, welche im Winkel von 90 Grad auf der Oberfläche der Antriebsscheibe läuft.
Durch seitliches Verschieben der auf der Achse befindlichen Scheibe lässt sich stufenlos das Übersetzungsverhältnis zwischen den beiden rotierenden Scheiben verändern. Verschiebt man die Scheibe an der Achse über das Zentrum der Antriebsscheibe hinaus in die andere Richtung, kehrt sich die Bewegungsrichtung um, das ist der Rückwärtsgang.
In der Praxis kommt es jedoch auf die Wirksamkeit und Haltbarkeit der Beschichtung an, welche die Reibung zwischen den Scheiben sicherstellt und ein Durchdrehen vermeidet. Es liegt auf der Hand, dass eine solche Form des Kraftschlusses nur für leichte Fahrzeuge mit niedriger Motorleistung in Frage kommt.
Die Herausforderung wurde von GWK so erfolgreich gemeistert, dass man schon ein Jahr nach dem Bau des Prototyps mit der Serienproduktion beginnen konnte, das war 1912.
Den Motor kaufte man von Coventry-Simplex zu. Es handelte sich um ein bewährtes wassergekühltes Zweizylinderaggregat mit 1 Liter Hubraum und 8 PS Leistung. Damit soll eine Spitzengeschwindigkeit von gut 70 km/h möglich gewesen sein:
GWK Reklame von Anfang 1913; Bildquelle: Grace’sGuide
Ab 1913 nahm die Produktion des GWK Cyclecars richtig Fahrt auf – es sollte das erfolgreichste britische Automobil mit Reibradantrieb werden.
Über 1.000 Stück davon wurden gebaut – zeitweilig war es sogar über ein Kaufhaus erhältlich. Besagtes Kaufhaus war freilich nicht irgendeines, sondern das berühmte „Harrods“ in London, wo eine solvente Käuferschicht einzukaufen pflegte.
Mir war völlig neu, dass das Nobelkaufhaus (übrigens auch architektonisch von einer Klasse, die heute keiner der angeblichen Konsum“tempel“ mehr erreicht) vor dem 1. Weltkrieg weitere Autos im Angebot hatte, darunter solche von Humber, Morris und Singer:
GWK Reklame von Anfang 1913; Bildquelle: Grace’sGuide
Nach dem 1. Weltkrieg versuchte GWK sein Glück mit einem neuen Modell, das nun einen Vierzylinder-Frontmotor (wiederum von Coventry-Simplex) besaß, aber immer noch den altbewährten Reibradantrieb.
Trotz einiger Anfangschwierigkeiten konnte man nochmals an die alten Erfolge anknüpfen und fertigte bis 1926 rund 1.700 Fahrzeuge. Die Firma als solche existierte noch bis 1931, doch entstanden ab 1927 keine Autos mehr.
Die Fabrik in Maidenhead westlich von London wurde zwischenzeitlich von Streamline Cars genutzt, wo der bemerkenswerte Burney-Stromlinienwagen mit Heckantrieb entstand.
1931 schloss GWK für immer die Tore, nachdem man im Vorjahr nochmals einen Prototypen entwickelt hatte, nunmehr einen mit Motor hinter der Hinterachse.
Was von 20 Jahren Firmengeschichte nach rund 90 Jahren bleibt, sind nicht nur die hier gezeigten Reklamen und Fotos aus privaten Familienalben. Es gibt auch noch eine Reihe überlebender GWK-Wagen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg.
Einen entsprechenden Schnappschuss hat mir freundlicherweise Catherine Strutt aus Australien zur Verfügung gestellt. Sie ist selbst eine große Vorkriegsenthusiastin und hat im August 2022 diesen GWK fotografiert, dessen Besitzer sie kennt:
GWK von 1913/14; Bildrechte: Catherine Strutt (Australien)
So schlecht kann das Ursprungskonzept von GWK also nicht gewesen sein, wenn nach weit über 100 Jahren immer noch fahrtüchtige Exemplare existieren.
Ein Auto, das einst sogar im Luxuskaufhaus Harrods erhältlich war, erweist sich am Ende als vielleicht „nachhaltiger“ als das, was heute so unter diesem Label angepriesen wird.
Wenn irgendwann im energetisch und geistig verarmten Europa die Lastenräder und Rikschas wie einst in kommunistischen Musterstaaten dominieren, dann schlägt die Stunde solcher Veteranen – den Sprit dafür gibt’s dann in der Apotheke, das wusste schon Bertha Benz…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Viele Wege führen seit altersher nach Italien – das Sehnsuchtsland germanischer Stämme fuhr aber meist nicht gut damit, wenn man sich an den Geschichtsunterricht erinnert.
Die Invasoren aus dem Norden brachten außer Gewalt und Chaos selten etwas Brauchbares mit. Der Kulturtransfer fand meist in die entgegengesetzte Richtung statt.
Das sollte sich zumindest vorübergehend ändern, als das Automobil erfunden wurde. Die Erfindung aus Deutschland fiel zumindest im wirtschaftlich bessergestellten Norden Italiens auf fruchtbaren Boden, wobei heimische Marken rasch den eigenen Markt dominierten.
Bevor Fiat & Co. das Regiment übernahmen, vermochten sich offenbar einige deutsche Hersteller noch eine Weile in Italien zu halten – zumindest versuchten sie es.
Davon kündet diese Reklame aus meiner Sammlung, die ich erst vor kurzem fand:
Adler-Reklame von ca. 1907; Original aus Sammlung Michael Schlenger
In einer leider unbekannten Publikation wurde das Adler „Kleinauto“ mit Motorisierung 8 PS bzw. 9 PS offeriert.
Aus der Beschreibung geht hervor, dass es sich um einen Wagen mit zwei Zylindern und doppelter Zündung (also Magnet und Batterie) handelt, welcher in der schwächeren Ausführung als Zweisitzer und mit dem stärkeren Antrieb als Viersitzer erhältlich war.
Geht man von der Gestaltung des abgebildeten Tourenwagens – also des 9 PS-Viersitzers – aus, lässt sich die Anzeige schon einmal auf ca. 1905 bis 1909 eingrenzen.
Die technischen Angaben – das Nebeneinander eines 8 PS-Zweisitzers und eines 9 PS-Viersitzers erlauben es dann, die Reklame auf 1907 festzunageln (Quelle: H. Schrader, Deutsche Autos 1885-1920, 1. Aufl., 2002).
Das ist ein achtbares Ergebnis nach so langer Zeit – es kommt aber noch besser.
Wie erfolgreich die Bemühungen der in der Anzeige erwähnten Generalvertretung von Adler in Mailand waren, ist mir nicht bekannt. Es ist denkbar, dass Adler mit diesen schwach motorisierten Kleinwagen zeitweise eine Nische zu besetzen vermochte.
Mag aber auch sein, dass man in Francoforte den italienischen Markt falsch einschätzte – systematische Marktforschung blieb in deutschen Landen lange ein Fremdwort.
Möglicherweise war damals in Italien nur einer dünnen Schicht von Superreichen überhaupt ein Automobil zugänglich. Und diese Leute wollten keinen schwachbrüstigen Kleinwagen, sondern ein potentes Gefährt für alle Lebenslagen (und die italienische Topographie).
Jedenfalls fällt auf, dass der schon damals führende italienische Hersteller Fiat nach einer kurzen und sehr steilen Lernkurve ab 1905 kein Modell anbot, das nicht mindestens 24 PS leistete. Daneben gab es Typen mit 40 bzw. 60 PS, die bereits 80-100 km/h schnell waren.
Erst nach dem 1. Weltkrieg begann bei Fiat die Neuausrichtung mit Abdeckung auch des Kleinwagensegments und zugleich eine radikale Rationalisierung der Produktion, die in Europa damals einzigartig war – die Marktgegebenheiten gaben es nun her.
Wie dem auch sei, in deutschen Landen ist der Adler mit 8 bzw. 9 PS (damit sind übrigens keineswegs die Steuer-PS gemeint, sondern die effektive Höchstleistung) auch jenseits der Welt der Reklame anzutreffen.
Ganz selten hat man das Glück, dass einem ein zeitgenössisches Foto eines solchen frühen Adler zuläuft, bei dem der Typ dokumentiert ist. Meist ist man nämlich auf die nach wie vor lückenhafte Literatur zu Adler-Veteranen vor 1925 angewiesen und muss sich mit Mutmaßungen behelfen. Online gibt es außer meiner Adler-Galerie nichts Brauchbares.
Vor einiger Zeit bescherte mir nun Leser Volker Zimmer aus dem Erzgrbirge einen solchen raren Glücksmoment, den ich Ihnen nicht vorenthalten will:
Adler 5/9 PS von Familie Gnüchtel; Originalfoto via Volker Zimmer (Lauter, Erzgebirge)
„Geht’s hier nach Italien?“ – Das könnte der Fahrer dieses Adler Tourenwagens gefragt haben, stellt man sich gerne vor.
Der gutgelaunte Herr ganz links hätte dann vielleicht geantwortet: „Junger Mann, hier habe ich für Sie eine Routenbeschreibung mit Angabe solider Unterkünfte und Orte, an denen man Benzin bekommt. Die habe ich von Otto Julius Bierbaum persönlich, der 1902 mit seinem Adler erstmals nach Italien fuhr.“
Zumindest die Bierbaum-Story stimmt – sein Erlebnisbericht „Empfindsame Reise im Automobil“ ist noch heute lesenswert. Es mutet unglaublich an, dass man einst mit einem Zylinder und 8 PS über die Alpen und bis nach Sorrent südlich von Neapel gelangen konnte.
Ob aber der Adler auf obigem Foto wirklich für Ähnliches vorgesehen war, ist unwahrscheinlich. Immerhin wissen wir Folgendes, das auf dem Foto selbst festgehalten ist:
Der Wagen war ein Adler-Tourenwagen mit Motorisierung 5/9 PS – also der in der italienischen Anzeige erwähnte 9 PS-Viersitzer. Er gehörte der Familie Gnüchte, die in der sächsischen Kleinstadt Lauter (Erzgebirge) eine Emaille-Fabrik besaß.
Die Geschäft liefen so gut, dass man sich zumindest einen kleinen Adler leisten konnte – an die großen Typen, die knapp 20 PS und im Einzelfall 40 PS leisteten, war nicht zu denken.
Egal, denn jeder Adler-Wagen öffnete damals die Tür zur großen weiten Welt, und wer weiß, wie weit bereits der 5/9 PS-Tourer einst die Insassen transportierte?
Und selbst wenn er Italien einst nur in Reklameform erreichte, leistete so ein kleiner Adler mehr als manche politische Revolution, bei der meist nur neue Eliten die alten ablösen.
Er machte seine Besitzer zu Herrschern über Raum und Zeit, was zuvor selbst Königen und Kaisern nicht zu Gebote stand. Denken Sie einmal daran, wenn Sie morgens Ihren Wagen starten, um zur Arbeit – oder nach Italien – zu fahren: Das Automobil ist gelebte Demokratie!
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Wer schon immer wissen wollte, wie meine Blog-Einträge zustandekommen, der kann das heute beinahe live (allerdings nicht in Farbe) miterleben.
Wer bislang meinte, dass ich irgendwie planvoll oder strukturiert vorgehe, wird mit Entsetzen feststellen, dass dies mitnichten der Fall ist. So entsteht das meiste recht spontan aus einem Impuls heraus – heute sogar aus zweien.
Gestern erst erhielt ich von Leser Bart Buts aus Belgien den augenzwinkernden Hinweis, dass als Nächstes mal wieder ein Opel im Blog ins rechte Licht gerückt gehört. Das muss man verstehen, denn für ihn als passionierten Sammler von Opels der Messingära beginnt ein perfekter Tag mit einem seiner Lieblinge.
Ich hatte mir vorgenommen, demnächst in dieser Richtung tätig zu werden, aber eigentlich wollte ich erst einmal im Fundus stöbern, was es sonst noch gibt. Dann erhielt ich allerdings eine Nachricht aus Berlin, die mich dazu brachte, alles andere stehen und liegen zu lassen.
So wird der heutige Blog-Eintrag ein Fall für Zwei – nämlich für Bart Buts und für Alexander Kauther aus Berlin. Letzter wusste allerdings bis vor kurzem noch gar nichts davon, dass auch er eine Verbindung mit frühen Opel-Modellen hat.
Heute schickte er mir dieses Foto aus seiner Sammlung mit der Frage, ob ich sagen könne, was das für ein Auto sei, das 1916 in Berlin-Johannisthal aufgenommen wurde:
Opel um 1909, wohl Typ 10/18 PS; Originalfoto aus Sammlung Alexander Kauther (Berlin)
Zu Beginn meiner Blogger-„Karriere“ anno 2015 hätte ich gleich gesagt, dass das alles Mögliche sein kann – bestimmt ein deutsches Fabrikat, aber genauer wüsste ich es auch nicht.
Einige Jahre später und fast 1.500 Blog-Einträge weiter traue ich mir jedoch zu, mit einiger Gewissheit zu sagen, dass es sich um einen zwischen 1908 und 1910 entstandenen Opel handelt, wahrscheinlich um einen Typ 10/18 PS.
Dieser fand im Taxigewerbe großen Anklang, das ist dem Standardwerk „Opel Fahrzeug-Chronik Band 1“ von Eckhart Bartels und Rainer Manthey auf S. 30 zu entnehmen. Dazu passt dieses Dokument ausgezeichnet, handelt es sich doch um eine Droschke, hier mit seitlich angebrachter Nummer.
Schön und gut, mag man jetzt denken, aber woran erkennt man, dass dies ein Opel sein soll?
Ich muss zugeben, dass hier neben einigen markentypischen Details ein gewisses Bauchgefühl eine Rolle spielt – das wir Menschen haben, weil es sich wohl meist bewährt hat.
Die Gestaltung des Kühlers – soweit sichtbar – und namentlich des Kühlwassereinfüllstutzens passt schon einmal gut zu Opel-Wagen aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Die Form der Radnabe ist ein weiteres Detail, welches sich einfügt.
Den Ausschlag gibt aber die Ausführung einer ganzen Reihe funktionaler Konstruktionslemente entlang des Rahmens.
Dazu zählen die beiden Trittbretthalter, der mittig am Rahmen befindliche Niet und das Ensemble aus Handbremsgestänge und hinterer Federaufhängung.
Für sich genommen wäre nichts davon Opel-spezifisch, aber im Zusammenspiel (übrigens auch mit der Gestaltung des Ausschnitts im hinteren Kotflügel) ergibt sich ein Bild, welches sich bei Opel-Wagen zwischen etwa 1908 und 1910 durchgängig findet:
Nun sind das alles nur Indizien, bewiesen ist damit noch gar nichts. Jedoch haben wir nun zumindest eine plausible Hypothese, anhand derer sich weiterarbeiten lässt.
An dieser Stelle kommt Kommissar Zufall ins Spiel, den ich in allen Lebenslagen schätzengelernt habe, da er in scheinbar aussichtslosen, zementierten oder verfahrenen Situationen plötzlich neue Perspektiven eröffnet.
So war das auch heute wieder einmal. Denn auf der Suche nach Vergleichsmaterial zur Absicherung meiner Hypothese stieß ich auf eine Aufnahme aus meinem Fundus, die einen beinahe identischen Wagen aus ähnlicher Perspektive zeigt:
Opel um 1909, evtl. Typ 10/18 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Diese schöne Aufnahme lief anno 1911 als Postkarte von Schwalbach im Taunus nach Frankfurt am Main an ein Fräulein Anne Klinzner, wohnhaft in der Scheffelstraße 13.
Das Fehlen eines Windlaufs – also des Blechs, das einen strömungsgünstigen Übergang zwischen Motorhaube und Frontscheibe schafft – verrät uns, dass wir es ebenfalls mit einem Modell von spätestens 1910 zu tun haben.
Die leicht ansteigende Haubenlinie spricht gleichzeitig dagegen, dass das Auto wesentlich früher entstanden ist – ich tippe hier auf 1909/10.
Die Frontpartie ist abgesehen vom etwas stärker ausgeführten Vorderkotflügel weitgehend identisch mit der des Wagens aus Berlin:
Hier haben wir das Glück, dass zusätzlich zwei der schrägstehenden Luftschlitze in der Motorhaube zu sehen sind, die auf dem Foto von Alexander Kauther verborgen sind.
Dieses Detail ist ein weiteres, welches typisch für Opel-Wagen vor dem 1. Weltkrieg war.
Wenn man nun feststellt, dass sich praktisch alle wesentlichen Elemente der Berliner Droschke auch an diesem offenkundigen Opel finden, dann darf man umgekehrt schließen, dass es sich um den gleichen – oder zumindest einen eng verwandten – Wagentyp handelt.
Werfen wir zur Überprüfung dieser These einen abschließenden Blick auf die Rahmenpartie des einst in Schwalbach abgelichteten Opels:
Ich will nun nicht alle oben bereits erwähnten Details nochmals aufzählen – ich meine jedenfalls, dass sie sich sämtlich hier wiederfinden.
Vielleicht prüfen Sie das selbst noch einmal und geben mir Rückmeldung, wenn Sie etwas anders sehen. Ich kann ja immer auch falsch liegen – die Bestimmung von Fahrzeugen anhand solcher über 100 Jahre alter Fotografien ist schließlich keine exakte Wissenschaft.
Mein Fazit ist jedenfalls: Bei diesem Fall für Zwei handelt es sich jeweils um einen Opel um 1909 (mit Tendenz zu 1910 kurz vor Einführung des Windlaufs). Aufgrund der Dimensionen sowie des Einsatzes des Berliner Wagens als Droschke ist der Typ 10/18 PS mein Favorit.
Zum Schluss will ich aber auch die menschliche Komponente nicht zu kurz kommen lassen. Die Aufnahme aus Schwalbach zeigt drei Kinder noch am Anfang ihres Lebens. Das Foto hat sie so lebendig festgehalten, dass wir sie uns genau vorstellen können.
Doch wenn wir etwas rechnen, kann keines davon mehr am Leben sein. Das große Rad der Zeit ist längst über sie hinweggegangen. Vielleicht existiert der alte Opel noch, oder zumindest ein paar Teile davon, bei irgendeinem Sammler.
Wie dem auch sei: Dieser Fall für Zwei hat heute hoffentlich zumindest zwei Menschen der Gegenwart glücklich gemacht, für welche diese Fotos bedeutend sind.
Vielleicht sind es aber auch ein paar mehr, denn in diesen Tagen hat mein Blog die Marke von 45.000 Besuchern binnen sechs Monaten geknackt – soviel wie im gesamten Vorjahr…
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Bald haben wir Mitte Juli und die Sommernächte sind so warm, wie ich das liebe. Das Träumen vom ewigen Süden stellt sich da bereits vor dem Schlafengehen ein.
Mit „Sommernachtstraum“ verbindet mancher das gleichnamige Theaterstück von Altmeister Shakespeare – übrigens hinreißend verfilmt 1999 mit Michelle Pfeiffer, Kevin Kline und Rupert Everett.
Darin taucht eine mythische Gestalt auf, die uns heute beschäftigen wird, der Puck! Die Figur entstammt der germanischen Volkstradition und ist in England bis in die Neuzeit lebendig geblieben.
Der Puck gehört zur weitverzweigten Familie der Elfen (auch: Elben) und zeichnet sich durch seinen zwielichtigen Charakter aus: Als Hausgeist ist er gutmütig bis großzügig, solange man ihn mit kleinen Gaben bedenkt – tut man das nicht, bringt er Unheil.
Wer fühlt sich da nicht an Automobile erinnert? Auch sie wollen mit Aufmerksamkeit bedacht werden, dann danken sie es einem mit Treue. Vernachlässigt man sie, werden sie bockig und brandgefährlich.
Ich weiß nicht, welche dieser Assoziationen der Berliner Autohersteller NAG im Sinn hatte, als er 1908 den neuen Kleinwagentyp N2 6/12 PS mit dem Beinamen „Puck“ bedachte:
NAG-Reklame um 1909; Faksimile aus Sammlung Michael Schlenger
Auf den ersten Blick haftet dem viersitzigen Tourenwagen – damals oft noch als Doppel-Phaeton bezeichnet – nichts Kleinwagenhaftes an.
In der Tat war die Konstruktion kein fauler Kompromiss, sondern stellte ein vollwertiges Automobil dar, an dem bloß alles etwas kleiner war als bei den großen NAG-Typen, die seinerzeit mit Leistungen bis zu 55 PS erhältlich waren.
Betrachtet man indessen zeitgenössische Fotos des Modells „Puck“ mit Insassen, erkennt man schnell, dass es sich tatsächlich um ein recht kompaktes Gefährt handelte:
NAG „Puck“ Typ 6/12 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)
Diese reizvolle Aufnahme aus dem Fundus meines Sammlerkollegen Matthias Schmidt (Dresden) habe ich hier bereits vorgestellt.
Wie es seinem Charakter entspricht, hat der Puck die ihm seinerzeit geschenkte Aufmerksamkeit dankend zur Kenntnis genommen und revanchiert sich heute bei uns.
Selbstverständlich bleibt der sagenhafte Puck selbst unsichtbar, doch hat er uns ein weiteres Konterfei seines Namensvetters aus dem Hause NAG herbeigezaubert:
NAG „Puck“ Typ 6/12 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Macht sich der Puck ansonsten in der (ohnehin dürftigen) Literatur zur Automarke NAG rar, erweist er sich als durchaus großzügig, wenn man sich auf ihn einlässt.
Hier dient er gleich vier Personen als zuverlässiger Begleiter. Man erkennt übrigens, dass auf der Rückbank tasächlich nur Platz für zwei Erwachsene war – größere Modelle mit diesem Aufbau ließen sich ohne weiteres als Fünfsitzer nutzen.
Wie in der Frühzeit des Automobils häufig zu sehen, hat der in die Ferne schauende Fahrer eine Hand am Ball der Hupe, welcher hier in Griffweite neben Handbrems- und Schalthebel angebracht ist.
Gut gefällt mir auf dieser Aufnahme die Beifahrerin, die sich weniger steif als die beiden Damen im Fonds gibt und eine lässige Haltung einnimmt, als sei es das Natürlichste der Welt, in einem Automobil unterwegs zu sein.
Das war es vor über 110 Jahren gewiss nicht und auch wenn der „Puck“ in der damaligen Automobilhierarchie am unteren Ende stand, handelte es sich bei ihm um einen Luxusgegenstand, der nur einem verschwindend kleinen Teil der Deutschen zugänglich war.
Auch von daher sind wir gut beraten, uns jedem „Puck“ mit Ehrfurcht zu nähern. Denn Kleinwagen wie dieser standen am Anfang eines langen Wegs, der später zum erschwinglichen Automobil für jedermann führte.
In Zeiten zunehmenden Staatsversagens im Bereich der Verkehrsinfrastruktur, insbesondere öffentlicher Verkehrsmittel wie der Bahn, wird der Wert der individuellen Mobilität in Zukunft aus meiner Sicht eher noch zunehmen.
Also stellen Sie sich gut mit ihrem „Puck“ – oder wie auch immer Sie Ihren vierrädrigen Familienangehörigen nennen mögen. Lassen Sie ihm unbedingt die nötige Aufmerksamkeit zukommen – er wird es Ihnen danken und er könnte künftig zu den rarer werdenden Dingen gehören, auf die Sie sich noch verlassen können.
Im übrigen genießen Sie die warmen Sommernächte – der Winter wird hart und grausam werden, wenn in der Hauptstadt nicht bald der gute Geist der kalten Vernunft einzieht…
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An der Luftkühlung scheiden sich bis heute die Geister in der Automobilfraktion: Die einen schwören drauf, vor allem aufgrund des charakteristischen Motorengeräuschs, die anderen wenden sich mit Grausen ab.
Wie so oft, sollte man auch in dieser Hinsicht die Dinge nicht zu ideologisch sehen.
Mir gefällt das seidige Säuseln eines wasserummantelten Sechszylinders ebenso wie das heisere Fauchen eines luftgekühlten Boxermotors (auch wenn ich speziell mit einigen Vertretern der Porsche-Fraktion meine Probleme habe).
Um einen uralten Werbespruch zu zitieren: Es kommt drauf an, was man daraus macht. Und vieles hängt davon ab, wie man als Fahrer eines Luftgekühlten damit umgeht.
Ein vielleicht überraschendes Beispiel dafür darf ich heute präsentieren. Überraschend unter anderem deshalb, weil sich die Luftkühlung nicht nur auf den Antrieb bezieht, sondern auch auf die Insassen, die selbige durchaus zu genießen scheinen.
Doch zuvor will etwas Historie konsumiert sein, natürlich gefällig aufbereitet, denn in meinem Blog soll der Genuss der Bilder von Vorkriegsautomobilen im Vordergrund stehen – die nüchternen Fakten beschränke ich gern auf’s Notwendigste.
Vielleicht erinnern Sie sich an Aufnahmen des „Piccolo“ 5 PS-Modells, welches von 1904 bis 1907 von der Firma A. Ruppe & Sohn im thüringischen Apolda gefertigt wurde. Eine „neue“ davon verdanke ich Leser Klaas Dierks:
Piccolo 5 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks
Zugegeben: Viel ist hier nicht zu erkennen, aber genug, um diesen einfachen Zweisitzer als 5 PS-Piccolo zu identifizieren. Eindeutiges Indiz ist der runde Lüfter vor dem V2-Aggregat, welcher sich in einem Messinggehäuse dreht, das uns hier entgegenleuchtet.
Nach der Vorstellung in Leipzig Ende 1904 verkaufte sich das robuste Wägelchen dank seines relativ niedrigen Preises gut: Schon 1906 feierte man die Produktion des tausendsten Exemplars (Quelle: Gränz/Kirchberg: Ahnen unserer Autos, 1975).
Die Motorleistung wurde wie damals üblich laufend gesteigert, sodass man 1907 bei 6 und kurze Zeit darauf bei 7 PS angelangt war. Fast 50 km/h Höchstgeschwindigkeit waren damit erreichbar – kein anderes Individualverkehrsmittel erreichte auf Dauer dieses Tempo.
Wie in der Frühzeit des Automobils überwiegend üblich, kamen die Insassen dabei in den Genuss natürlicher Luftkühlung, denn geschlossene Aufbauten waren weit teurer. Zumindest im Stand scheint man damit vollkommen glücklich gewesen zu sein.
Das lässt zumindest die folgende Aufnahme vermuten, die mir Leser Matthias Schmidt Dresden zur Verfügung gestellt hat. Hier mochte es auch die Dame offenbar luftgekühlt:
Piccolo 7 PS Modell; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)
Das unwiderstehliche Lächeln der Beifahrerin, die sich hier perfekt in Szene gesetzt hat, mag freilich auch einer anderen Tatsache geschuldet sein.
So spendierte man dem Piccolo ab 1906 eine richtige Motorhaube und eine Kühlerattrappe, was dem Wagen ein erwachseneres Aussehen gab.
„Heinrich, auf keinen Fall kommt mir so eine Benzinkutsche ins Haus , bei der sich die schnöde Technik unverhüllt zeigt. Die beiden Zylinder sollen zumindest dem Auge verborgen sein, wenn man sie schon hört. So lasse ich mir die Luftkühlung gern gefallen.“
Vielleicht hatte unsere selbstbewusste Dame mit ihrem Erbe erst die Anschaffung des Fahrzeugs ermöglicht – die Vorstellung, dass Frauen von Autobesitzern vor bald 120 Jahren bloße Heimchen am Herd waren, ist jedenfalls abwegig.
An der Identifikation des Wagens als Piccolo habe ich keinen Zweifel, bloß die genaue Datierung bereitet mir Schwierigkeiten. Angeblich wurde das 7 PS-Modell bis 1910 gebaut, da mag es baujahrsabhängige Unterschiede gegeben haben.
Hier fallen die breiten Luftschlitze auf, die sich eher selten finden. Ob sie ein Hinweis auf eine frühe oder späte Entstehung sind, kann ich derzeit nicht sicher sagen. Vielleicht weiß es ein Leser genauer (dann bitte mit Beleg).
Jedenfalls gibt es etliche Dokumente, die ganz ähnliche Piccolo-Zweisitzer mit mehreren schmalen Luftschlitzen zeigen.
Einer davon scheint bis in die 1930er Jahre überlebt zu haben und wurde bei einer unbekannten Veranstaltung vorgestellt und von enthusiastischen Jugendlichen okkupiert:
Piccolo von 1907; Originalaufnahme von 1931 aus Sammlung Michael Schlenger
Die Angabe „Anno 1902“ auf der Motorhaube kann nicht stimmen, vermutlich liegt hier ein Übertragungsfehler vor – jemand hat wohl eine „7“ als „2“ gelesen“.
Die Kühlerattrappe gehört jedenfalls zu einem Piccolo ab 1906 und da kommt vor allem das zweizylindrige Modell mit 800ccm und 6 bzw. später 7 PS in Betracht.
Daneben gab es ab 1910 von Ruppe&Sohn auch ein primitives Einzylindermodell namens „Mobbel“, das jedoch heillos aus der Zeit gefallen war und nur selten verkauft wurde.
Damit wäre für heute das Wichtigste zu den luftgekühlten „Piccolo“-Wagen aus Apolda gesagt, wäre da nicht eine weitere Aufnahme, die mir wiederum Matthias Schmidt aus Dresden zugesandt hat.
Sie zeigt einen unrestaurierten Piccolo von 1907, der in der verkehrstechnischen Sammlung Dresden die Zeiten überdauert hat und vor einigen Jahren der Öffentlichkeit wieder auf der Straße gezeigt wurde:
Piccolo 6 PS von 1907; Bildrechte: Matthias Schmidt (Dresden)
Könnte das am Ende derselbe Wagen sein wie das bereits 1931 als „Oldtimer“ präsentierte Automobil?
So oder so ist es berührend, dass überhaupt ein Exemplar dieser frühen „Luftgekühlten“ noch existiert und das auch noch ohne eine sogenannte Restaurierung erlitten zu haben.
Das ist ja das Großartige an den Wagen von einst: Ihre Erbauer und Besitzer sind längst verblichen, doch die Autos sind immer noch da und erzählen von vergangenen Leidenschaften, zu denen früh auch die nach „Luftkühlung“ gehörte, während die Masse der Mitbürger zeit ihres Lebens selten kaum über Schrittgeschwindigkeit hinauskam…
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Ein interessanter Nebeneffekt der Beschäftigung mit Vorkriegsautos auf alten Fotos ist der, dass man dabei studieren kann, was der Kopf mitunter für merkwürdige Wege einschlägt, ohne dass wir das so recht steuern können.
Man muss ihm freilich auch die Gelegenheit dazu geben und das heißt nach meiner Erfahrung, ihn mit möglichst viel Material „füttern“ – die Verbindungen stellt er dann schon selbst her. Ein hübsches Ergebnis solcher Assoziationen präsentiere ich heute.
Den Anlass dazu lieferte mir kürzlich mein Sammlerkollege Matthias Schmidt aus Dresden, als er mir mich um meine Meinung zu dem folgenden Wagen auf einem seiner Fotos bat:
Tourenwagen um 1912, Zulassungsbezirk Magdeburg; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt
Auf den ersten Blick weist die Kühlerpartie einige Ähnlichkeit mit derjenigen auf, die man an Opel-Wagen kurz vor dem 1. Weltkrieg findet.
Doch beim genauen Vergleich erweist sich der Opel-Kühler als kantiger und weniger hufeisenförmig wie der an obigem Fahrzeug. Auch die nur schemenhaft erkennbare Kühlerplakette „passt“ nicht zu einem Opel jener Zeit.
Ich musste Herrn Schmidt gegenüber eingestehen, dass ich auch ratlos bin, und legte die Aufnahme erst einmal in meinem Dateiordner mit unidentifizierten Fahrzeugen ab.
Doch im Hinterkopf arbeitete es weiter an dem Fall – irgendwie kam mir die Kühlerpartie doch bekannt vor. Heute abend ging ich eher ziellos einen Stapel Fotos auf meinem Schreibtisch durch, die noch einzuscannen sind.
Dabei fiel mein Blick auf eine Aufnahme, die mir mein belgischer Oldtimer-Kamerad und Opel-Spezialist Bart Buts vor einiger Zeit vermacht hatte.
Sie entstand anlässlich eines Veteranen-Treffens in Dresden Anfang der 1960er Jahre – und plötzlich dachte ich: „Könnte das nicht ein Auto derselben Marke sein wie auf dem Foto von Matthias Schmidt?“
Dürkopp um 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger (Schenkung von Bart Buts, Belgien)
In der Tat weisen die beiden Wagen erhebliche Gemeinsamkeiten auf – speziell die Hufeisenform des Kühlers, die großflächige Plakette darauf sowie die mittig stark gekröpfte Vorderachse – hier nachträglich mit einer Abschleppvorrichtung versehen.
Die Ähnlichkeit war also gegeben – dummerweise wusste ich jedoch nicht, was das für ein Fabrikat war, welches Anfang der 1960er Jahre in Dresden abgelichtet worden war. Der Karosseriegestaltung nach zu urteilen muss es damals etwa 50 Jahre alt gewesen sein.
Jedenfalls würde ich das Baujahr auf ca. 1912 ansetzen.
Wer auch immer dieses Automobil zum Fünfzigsten aus der Garage geholt hatte, um es gemeinsam mit etlichen anderen Veteranen im Nachkriegs-Dresden der staunenden Öffentlichkeit vorzuführen, hat damit einen veritablen Schatz ans Licht geholt.
Ich brauchte eine Weile, um es herauszufinden, doch dieser Wagen ist mit größter Wahrscheinlichkeit ein Dürkopp aus Bielefeld. Einen Verdacht in der Richtung hatte ich bereits, doch Bildmaterial zu dieser Marke ist sehr, sehr rar.
Einen ersten Hinweis lieferte mir Altmeister Heinrich von Fersen – dessen Klassiker „Autos in Deutschland 1885-1920“ mir in der Auflage von 1968 immer noch gute Dienste tut.
Dort ist auf S. 177 ein Dürkopp Typ NG 10/30 PS von anno 1912 abgebildet, welcher nicht nur dieselbe Kühlerform besitzt, sondern auch die gleiche Anordnung von Luftschlitzen bis in die „Windkappe“ hinein aufweist.
Jedoch fehlte mir noch eine Abbildung des Kühleremblems, das bei Dürkopp öfters wechselte. Die aus meiner Sicht passende fand ich auf Claus Wulffs einzigartiger Website zu Kühleremblemen.
Dürkopp verwendete demnach zeitweise dieses opulent ausgeführtes Emblem im floralen Jugendstil, welches dem auf dem Kühler des Dürkopp aus Dresden entspricht:
Auch wenn die Aufnahme des mutmaßlichen Dürkopp von ca. 1912, die Anfang der 1960er Jahre in Dresden entstand, etwas verwackelt und ziemlich körnig ist, kann man darauf die Grundform und einige Details des oben gezeigten Emblems wiedererkennen.
Ich wüsste jedenfalls keinen anderen Hersteller, der seinerzeit ein solches Emblem verwendete (auch das von Stoewer weicht deutlich davon ab).
Hier eine Detailvergrößerung der Kühlerpartie, was meinen Sie dazu, liebe Leser?
Sollte ich mit meiner Zuschreibung richtig liegen, bleiben zwei Fragen:
Was ist aus dem Dürkopp Tourer geworden, der einst in Dresden als immer noch frisch wirkender Fünfziger an einer Veteranenausfahrt teilnahme?
Und wie verhält es sich mit dem recht ähnlichen Wagen aus Magdeburg, der auf dem Foto von Matthias Schmidt für die Nachwelt festgehalten wurde?
War das ebenfalls ein – eventuell etwas älterer – Dürkopp?
Oder kommt eine andere Marke in Betracht, die mein Kopf bei seinen eigenmächtigen Ausflügen in die Wunderwelt des frühen Automobils außer acht gelassen hat?
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Manchmal muss man gar nicht viele Worte verlieren, um etwas von der Faszination des frühen Automobils zu vermitteln – ein 120 Jahre altes Foto erledigt das mühelos von selbst.
Es erzählt von der unbeschwerten Aufbruchstimmung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als erstmals in der Menschheitsgeschichte eine autonome Mobilität verfügbar zu werden begann, die zuvor selbst Kaisern und Königen nicht zu Gebote stand.
Zwar wurde das Konzept des Automobils in Deutschland erfunden, doch den Schritt vom Kuriosum zum markttauglichen Fahrzeug taten französische Erfinder und Unternehmer. Eine der bemerkenswertesten Persönlichkeiten in diesem Kontext war Louis Renault.
Mit 21 Jahren baute er in Billancourt bei Paris 1898 in zwei Monaten sein erstes Auto. Damit fuhr er am 24. Dezember desselben Jahres mit seinem Bruder Marcel in Paris vor einer Bar vor, um Heiligabend dort zu verbringen. Was machen 21-jährige heute so?
Schon 1899 entsteht die Automobilfabrik „Renault Frères“. 1902 schlägt Renault bei der Wettfahrt von Paris nach Wien alle Konkurrenten. Binnen weniger als fünf Jahren avancierte Renault zu den weltweit führenden Autoherstellern.
1902 oder 1903 entstand auch dieser Renault, der anlässlich einer Frühlingsausfahrt abgelichtet wurde:
Renault Doppel-Phaeton; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Von 1900 bis Mitte Juni 1902 entwickelte Renault acht Modelle (Typen D bis J), die äußerlich auseinanderzuhalten ich mir nicht zutraue. Gemeinsam scheint ihnen gewesen zu sein, dass sie Motoren von DeDion besaßen, teils mit einem Zylinder, teils mit zwei.
Von späteren Modellen unterschieden sie sich durch die seitlich entlang der Motorhaube angebrachten Kühlwasserschlangen. Erst ab 1905, meine ich, wanderte der Kühler an die für Renault bis Ende der 1920er Jahre typische Position – nämlich hinter den Motor!
Viel mehr gibt es gar nicht zu erzählen zu diesem frühen Renault, der vor rund 120 Jahren seinem Besitzerpaar Frühlingsgefühle bescherte.
Niemand wusste damals, was die Zukunft bringt, doch damals wie heute gilt: Genießen wir das Hier und Jetzt, etwas anderes bleibt dem Einzelnen inmitten des Weltgeschehens nicht.
Erfreuen wir uns an diesem prächtigen Frühling und am Optimismus unserer Altvorderen!
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Es gibt Dinge, die bleiben für immer ein Mysterium – woher wir kommen, was und wer wir sind, wohin wir gehen. Rätsel wie diese beschäftigen die Menschen seit Urzeiten.
Viele mögen sich mit der Ungewissheit nicht abfinden, weil ihnen die Haltlosigkeit, die sich sonst einstellen mag, unerträglich vorkommt. Sie zermartern sich das Hirn, entwickeln Theorien, Überzeugungen und Glaubensvorstellungen in der Hoffnung, für sich persönlich die Rätsel des Daseins aufzulösen.
Das sei jedermann unbenommen, solange er nicht meint, anderen seine Ansichten aufnötigen zu müssen. Ich persönlich komme gut zurecht damit, dass wir die Rätsel nicht lösen können, mit denen uns das Leben konfrontiert.
Tatsächlich hat es etwas Befreiendes, sich schlicht damit anzufreunden, dass wir nicht alles wissen, ergründen und verstehen können.
Das Leben als eine (mögliche) Gabe von unbekannter Seite anzunehmen, für sich und seine Lieben das Beste daraus zu machen, Zuneigung für die Mitgeschöpfe zu empfinden, die vor demselben Rätsel stehen – das scheint mir ein Weg zu sein, mit der Ungewissheit zurechtzukommen und sich vom Wahn zu lösen, alles begreifen zu müssen.
So ist das auch bei einem weit weniger tiefschürfenden Phänomen, nämlich den Mysterien, welche uns die Altvorderen in Form von Zeugnissen ihres einstigen Lebens hinterlassen haben – damit meine ich natürlich Fotos aus der Frühzeit des Automobils.
Hier haben wir ein Beispiel dafür – ein großartiges Dokument, wie ich finde:
RAF Landaulet um 1911; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Originalaufnahmen wie diese kaufe ich mit Vorliebe dann, wenn ich keine Idee habe, was für ein Wagen darauf abgebildet ist.
Mitunter klärt sich das beim ersten Blick unter der Lupe, bisweilen bleibt jeder Hinweis aus, und manchmal bekommt man zwar eine Ahnung, muss aber am Ende aufgeben.
Heute haben wir es mit dem letztgenannten Fall zu tun und ich bezweifle, dass jemand das Mysterium noch auflösen kann. Doch schauen wir zunächst, was wir hier vor uns haben.
Vom Aufbau her war dieser Wagen eine Chauffeur-Limousine, also ein Auto mit geschlossenem Passagierabteil und davon abgetrenntem, hier seitlich offenen Fahrerabteil.
Bei näherem Hinsehen erkennt man dann eine Verdeckstange am Heck und das Auge registriert, dass die Dachpartie etwa ab Mitte des hinteren Seienfensters einige Wellen wirft.
Demnach befand sich über den Passagieren – und nur über diesen – ein niederlegbares Verdeck, so einen Aufbau kennen wir als „Landaulet“. Das findet sich bei Repräsentationsfahrzeugen, aber auch frühen Taxis – als diese noch der Repräsentation dienten.
Die prächtigen Gaslaternen an der vorderen Säule des Passagierraums verraten, dass dieser großzügige Wagen vor Beginn des 1. Weltkriegs entstanden sein muss, eventuell schon vor 1912, als elektrische Positionsleuchten aufzukommen begannen.
Schwieriger wird, es was die Ermittlung des frühestmöglichen Entstehungsjahrs betrifft. Denn dafür müsste man mehr von der Frontpartie erkennen, welche jedoch fast vollständig von den beiden Herren im typischen Chauffeurs-Outfit verdeckt wird.
Bei Automobilen der Frühzeit liefert dagegen die Seiten- und Heckpartie fast nie einen Hinweis, was Marke, Typ und Baujahr angeht – weil hier die aus dem Kutschbau übernommenen Formen überwogen, die vom Käufer frei gewählt werden konnten.
Im vorliegenden Fall meint es Fortuna jedoch gut mit uns, denn auf der Nabe des Hinterrads ist zumindest der Markenname zu erkennen: RAF!
Das Akronym „RAF“ stand für die Reichenberger Automobilfabrik aus Böhmen (ab 1918 Teil der Tschechoslovakei).
Die Geschichte dieser kurzlebigen, aber bemerkenswerten Manufaktur habe ich hier umrissen, als ich erstmals einen Wagen dieser Marke vorstellen konnte.
Übrigens ermöglicht dieser Ausschnitt des Originalfotos aufgrund seiner großen Detailgenauigkeit recht gut, einige Konstruktionsmerkmale der hinteren Radaufhängung zu studieren.
Die Hinterachse war damals durchweg an längsliegenden Blattfedern befestigt, welche einen variablen Anlenkpunkt benötigten, um die Dehnung bzw. Entspannung der Federpakete bei Auf- und Abbewegung der Achse auszugleichen.
Diese Anlenkpunkte waren mit Schmierstellen versehen, hier zu erkennen an den metallisch glänzenden Kappen. Dahinter verbarg sich ein Fettreservoir und bei Drehung der Kappen drückte man etwa frisches Fett in die Lagerstellen. Später wurden dort Schmiernippel angebracht, doch das Prinzip blieb lange unverändert.
Kurz vor dem 1. Weltkrieg begann man, diese Partie mit einem Kasten aus Blech zu verkleiden, in dem sich ein Deckel befand, der dem Fahrer Zugang zu den Schmierstellen verschaffte. Diese Kästen sieht man noch weit bis in die 1920er Jahre hinein.
Dass die hintere Blattfederaufnahme hier noch unverkleidet ist, unterstützt die Annahme, dass dieser RAF deutlich vor Ausbruch des 1. Weltkriegs entstanden sein muss. Das kann auch schon deshalb nicht anders sein, da RAF 1913 vom böhmischen Konkurrenten Laurin & Klement übernommen wurde.
Liefert nun vielleicht die Frontpartie doch noch einen Hinweis auf die Datierung dieses RAF? Ich meine, ja. Schauen wir genauer hin:
Blickt man durch das Ersatzrad hindurch, welches interessanterweise einen Reifen französischer Provenienz („Michelin“) trägt, erkennt man oberhalb der beiden vertikalen Luftschlitze eine leicht ansteigende Linie.
Dieses Detail ist meines Erachtens ein Hinweis auf eine Entstehung ab 1910, als die Haubenpartie bei Serienwagen aus dem deutschen Sprachraum fast durchgängig erstmals strömungsgünstig gestaltet wurde.
Zuvor stieß eine meist horizontale Motorhaube auf eine vertikale Schottwand, hinter der sich die Armaturen und der Fahrerraum befanden. Erst mit der Einführung eines windschnittigen Übergangs zwischen Haube und Frontscheibe in Form einer aufwärtsgewölbten Blechpartie (Windkappe, Windlauf) kam es hier allgemein zu einer dynamischeren Gestaltung, welche eine ansteigende Haubenlinie beinhaltete.
Auf dieser zugegebenermaßen dünnen Grundlage basiert meine Datierung dieses RAF-Landaulets auf „ca. 1911“. Noch dünner wird es, was die Motorisierung angeht.
RAF bot damals Wagen mit konventionellem Antrieb in mindestens drei Leistungsklassen: ca. 20 PS, ca. 30 PS und ca. 50 PS. Ab 1912 waren außerdem Autos mit Hülsenschiebermotoren (Patent „Knight“) erhältlich, die 40 bzw. kolossale 70 PS leisteten.
Wann genau dieser RAF entstand und was für ein Motor unter seiner Haube schlummerte, wird wohl für immer ein Rätsel bleiben – und wissen Sie was?
Man kann damit gut leben, denn am Ende bleibt die reine Freude an der Lebendigkeit dieses Zeugnisses aus längst vergangener Zeit…
Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.
Das Automobil, das ich heute präsentiere, stammt aus einer Zeit, die für uns in jeder Hinsicht ganz fern liegt. Über 100 Jahre geht es zurück, in den 1. Weltkrieg.
Wer einmal einem überlebenden Fahrzeug jener Epoche gegenübergestanden hat, idealerweise im original erhaltenen Zustand, kennt das Gefühl, dass man mit einem Mal einer untergegangenen Welt ganz nah zu sein meint.
Dieselbe Magie gelingt in den besten Fällen Fotografien, auf denen die Wagen zusammen mit ihren einstigen Besitzern und Nutzern abgebildet sind. Ein hervorragendes Beispiel dafür kann ich heute zeigen – wie so oft dank eines Lesers und Sammlerkollegen.
Das Auto selbst ist dabei alles andere als spektakulär – es handelt sich um den ab 1913 von Wanderer gebauten Kleinwagen des Typs W3 mit Motorisierung 5/12 PS.
Unscheinbar wirkte das Gefährt mit seinen zwei Sitzen hintereinander, dünnen Kotflügeln und leichten Drahtspeichenrädern. Doch dank des niedrigen Gewichts von weniger als 500 kg, war es erstaunlich agil – immerhin 70-75 km/h konnte es erreichen.
Der solide konstruierte und sorgfältig erprobte kleine Wanderer fand sofort Anklang – bald erhielt er den Spitznamen „Puppchen“. Der Hersteller unternahm derweil einiges, um dem Typ W3 5/12 PS ein respektables Image zu geben.
Ein hübsches Dokument, das davon zeugt, ist diese Reklamemarke, die ich kürzlich fand. Nach ein paar kleinen Retuschen präsentiert sich der darauf abgebildete Wanderer geradezu repräsentativ:
Wanderer Reklamemarke (Typ W3 5/12 PS H); Original aus Sammlung Michael Schlenger
Dass das Autochen hier geradezu mondän wirkt, liegt natürlich an den beiden Damen in Ausgehgarderobe und dem Windhund, damals ein „Accessoire“ der Schönen und Reichen.
Nebenbei ist die Qualität dieser Werbegrafik aus meiner Sicht bemerkenswert. Die Rückansicht des Hundes in stark verkürzter Perspektive ist technisch anspruchsvoll und hätte nicht sein müssen – hier beherrschte jemand aber sein Fach und hatte Freude daran.
Der Wanderer ist so präzise wiedergegeben, dass man den Typ genau benennen kann: Dünne langgestreckte Vorderkotflügel, gerade nach hinten auslaufende Heckkotflügel, Drahtspeichenräder, drei Luftschlitze und eine an einem Rahmen (nicht der Karosserie) beweglich angebrachte Windschutzscheibe.
Genau so sah der Wanderer W3 von der Einführung 1913 bis ins Frühjahr 1915 aus. Die beiden Sitze des Wagens sind hintereinander angeordnet, es handelt sich also um die Karosserievariante „H“. Außerdem gab es eine Version „N“ mit zwei nebeneinander angebrachten Sitzen.
Besondere Bekanntheit erlangte der inzwischen auf 15 PS erstarkte Wanderer W3 durch diese Reklame, die ihn zu Beginn des 1. Weltkriegs zeigt:
Wanderer W3 5/15 PS (H) im August 1914; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger
Als robustes und – dank niedrigen Gewichts – auch in schwierigem Gelände gut beherrschbares Fahrzeug erwarb sich der Wanderer speziell zu Aufklärungszwecken rasch einen guten Ruf beim deutschen Militär.
Die Armee wurde binnen kurzem Hauptabnehmer des Modells, weshalb Fotos dieses Typs aus dem 1. Weltkrieg alles andere als selten sind. Die meisten davon sind freilich von mäßiger Qualität und wurden mit privaten Kameras einfacher Bauart angefertigt.
Doch es gibt Ausnahmen. Und wenn man auf eine solche stößt, dann ist eine eben noch so ferne Zeit mit einem mal ganz nah – so wie hier:
Ein Foto in dieser technischen und gestalterischen Qualität, bei dem man meint, die beiden Männer und ihr Wagen stünden direkt vor einem, ist schwer zu überbieten.
Zugegeben – auch hier waren einige Retuschen vonnöten, denn der Abzug hatte über die letzten 100 Jahre etwas Schaden genommen. Doch „geht“ man näher heran, offenbaren sich die Schärfe und der Kontrastreichtum der Aufnahme.
Das und die gesamte Komposition mit leicht schräggestelltem Auto, den beiden klug platzierten Personen und dem leicht unscharfen Hintergrund sprechen klar für eine professionelle Arbeit.
So etwas macht man natürlich nicht in der Nähe der Front, sondern im Hinterland oder in der Heimat. Ich könnte mir vorstellen, dass die Befestigungen im Hintergrund auf einem Übungsplatz entstanden sind und dass der Wagen zu einer Ersatzeinheit gehörte, die auf den Fronteinsatz vorbereitet wurde – so gut das ging.
Das Auto wirkt wie gerade angeliefert, und so haben wir das Vergnügen, einen Wanderer W3 5/15 PS (H) im wirklichem Originalzustand zu studieren:
Die plan mit der Karosserie abschließende Windschutzscheibe verrät, dass wir die im Frühjahr 1915 überarbeitete Version des Wanderer W3 5/15 PS vor uns haben. Der übrige Vorderbau entspricht noch weitgehend dem 1913 eingeführten Ursprungsmodell 5/12 PS.
Auffallend ist hier der aus dem Windlauf vor der Scheibe herausragende Tankstutzen – das habe ich so noch nicht gesehen. Eventuell war er herausziehbar und man hat vergessen, ihn nach dem Befüllen wieder zurückzuschieben.
Vielleicht spezifisch für die von Wanderer ans Militär gelieferten Fahrzeuge sind die schwarz lackierten Messingteile – namentlich die Ballhupe neben der Windschutzscheibe und die beiden Gasscheinwerfer.
Allerdings finden sich auch Aufnahmen privat genutzter Wanderer-Wagen dieses Typs, bei denen zumindest die Scheinwerfer ebenfalls dunkel lackiert zu sein scheinen. Möglicherweise waren diese aus einfachem Stahlblech gefertigt und Messingscheinwerfer waren aufpreispflichtig. Vielleicht weiß es ein Leser genauer.
Zweifellos der größte Reiz dieser Aufnahme geht unterdessen von den beiden Männern in bzw. neben dem Wagen aus:
Gut gefällt mir hier, dass nur der Fahrer uns direkt ansieht, während sein blutjunger Kollege versonnen zur Seite schaut. Wo mag er in dem Moment in Gedanken gewesen sein?
Auffallend ist hier, dass nur der Mann am Steuer die beiden Kragenstücke mit der Silhouette eines Autos trägt, die auf die Zugehörigkeit zur Kraftfahrtruppe hinwies. Vielleicht war der junge Mann neben ihm noch in Ausbildung, bei ihm weist jedenfalls nur die Schirmmütze auf die Zugehörigkeit zum Militär hin.
Typisch für Kraftfahrer im Kriegseinsatz sind die schweren zweireihigen Lederjacken, die guten Wind- und Wetterschutz boten – stilbewusste Fahrer klassischer Motorräder schätzen dieses funktionelle und zugleich charakterstarke Kleidungstück heute noch.
Auch die Hose unseres mutmaßlichen „Kraftfahrschülers“ war aus Leder, dazu trug er Wadenwickel und halbhohe Schnürstiefel. So lässt es sich unterwegs auch bei Kälte und Nässe aushalten, wobei Motor und Getriebe von unten wärmten.
Das ist nun über 100 Jahre her und doch sind uns diese beiden Männer, über deren Schicksal wir nichts wissen, hier ganz nah. Zumindest im Fotoalbum von einem der beiden muss dieser Abzug die Zeiten überdauert haben (wer weiß, vielleicht existiert irgendwo noch ein zweiter) und erst in unseren Tagen wurde dieses Zeugnis einstigen Lebens mit dem Ableben (oder Desinteresse) der letzten Nachkommen in alle Winde zerstreut.
Ein jeder mag sich seine eigenen Gedanken zu diesem berührenden Dokument machen, bei dem der Wanderer bei aller Faszination eigentlich doch nur Statist ist…
Ein Indizienprozess kann bekanntlich Unschuldige für Jahrzehnte hinter Gitter bringen.
Sofern irgendwann die Wahrheit herauskommt, werden solche Fälle dann in die harmlos klingende Kategorie des „Justizirrtums“ einsortiert. Irren ist bekanntlich menschlich – bloß hat dies selten so gravierende Konsequenzen wie vor Gericht.
Man könnte nun darüber sinnieren, ob ein Indizienprozess ohne Geständnis und objektive Beweise überhaupt einen Schuldspruch zulässt. Der Grundsatz „Im Zweifelsfall für den Angeklagten“ ist in der Praxis aber wohl ebensolche Folklore wie die angebliche Trennung von Justiz und Exekutive hierzulande.
Einem Indizienprozess mit am Ende erfreulichem Verlauf können meine Leser indessen heute beiwohnen. Dabei kann ich einen alten Fall klären, den ich neu aufgerollt habe, weil er mir keine Ruhe ließ.
Ausgangspunkt war dieses rätselhafte Dokument, welches unbekannte Täter anno 1905 hinterlassen haben und das vielleicht die einzige Spur ihres Tuns ist:
Dixi S12 oder S13 von 1905; Originaldokument aus Sammlung Michael Schlenger
Zwar haben die Tatverdächtigen versucht, das Beweismaterial zu verfälschen, indem sie die Schrift darauf spiegelverkehrt ausrichteten und so für Irritation sorgten. Doch von solchen plumpen Versuchen lässt sich ein versierter Experte natürlich nicht ablenken.
Während die Kombination aus Foto und Grafik noch der Erklärung harrt (vielleicht kann ein Leser dies interpretieren), konzentrierten sich die Ermittlungen auf die vielversprechendsten Spur – das Automobil, das einst vor dem Schild eines „Hotel Roland“ Halt machte.
Auf den ersten Blick scheint das Fahrzeug hier einen so klaren „Fingerabdruck“ hinterlassen zu haben, dass es ein Leichtes sein sollte, die Identität zu klären und den Urheber dingfest zu machen:
Das wichtigste Indiz bei Abbildungen so früher Autos ist im Regelfall der Kühler. Dieser weist auf den ersten Blick Ähnlichkeit mit der Frontpartie von „Adler“-Wagen auf.
Doch deren Kühler waren im Detail etwas anders gestaltet, speziell den Verlauf der Seitenpartie betreffend. Das Verdachtsmoment in Richtung Frankfurter Adlerwerke als „Tatort“ führte also in die falsche Richtung.
Man ist in solchen Fällen, in denen man Indizien angewiesen ist, gut beraten, sich nicht zu früh auf konkrete Hypothesen festzulegen. Besser geht man vorurteilsfrei vor und betrachtet zunächst ähnlich gelagertes Beweismaterial in der Breite.
Das habe ich hier bereits frühzeitig getan und wurde dann auch vorläufig fündig. So entdeckte ich beim ziellosen Durchblättern der Literatur (Halwart Schrader, Deutsche Autos 1885-1920) die Abbildung eines Wagens mit identischer Frontpartie (S. 147).
Die auf 1904 datierte Aufnahme zeigt „Regierungsbesuch bei der Fahrzeugfabrik Eisenach“, wo seit der Jahrhundertwende Wagen der Marke „Dixi“ gebaut wurden.
Doch durfte man daraus bereits schließen, dass das abgebildete Auto ebenfalls ein Dixi war? Es wäre ja möglich gewesen, dass die Herren Beamten im eigenen Wagen eines anderen Herstellers angereist waren. Zudem fand ich in den mir vorliegenden Unterlagen zu Dixi-Wagen um 1905 kein passendes Konterfei.
Daher schien es mir verfrüht, aufgrund dieses einen Indizes bereits ein Urteil zu fällen. So vertagte ich die Urteilsfindung – zumale es jede Menge Fälle abzuschließen galt, bei denen eine saubere Beweisführung möglich war.
Kürzlich habe ich das verdächtige Dokument aber wieder zur Hand genommen und mit frischem Blick einer neuen Betrachtung unterzogen in der Hoffnung, nun endlich auf Indizien zu stoßen, die mich weiterbringen.
Dabei fiel mir auf, dass die einstigen „Täter“ zwei Spuren hinterlassen hatten, die bei der ersten „Verhandlungsrunde“ noch keine Rolle gespielt hatten:
Zum einen erkennt man der Seite der Motorhaube einen einfachen, gebogenen Griff zum Anheben derselben. Zum anderen ist direkt unterhalb des Einstiegs, aber deutlich über den beiden Auspuffrohren ein weiteres Rohr zu sehen, das mir eigentümlich vorkam.
Daraufhin konsultierte ich ein Handbuch des o.g. Experten Halwart Schrader, in dem die in der ersten Runde bereits in Erwägung gezogene Eisenacher Marke Dixi im Kontext der BMW-Automobilgeschichte ausführlicher besprochen wird, illustriert mit zahlreichen Beispielfotos unterschiedlicher Typen.
Zwar konnte ich darunter keines finden, das dieselbe Kühlerform aus ähnlicher Perspektive erkennen ließ. Jedoch fand sich die Seitenansicht eines Dixi S13 ab 1905, die besagte Haubengriffe und eine vom Profil her vollkommen übereinstimmender Frontpartie zeigte (H. Schrader, BMW Automobile, S. 113).
Diese Indizien wurden durch ein weiteres ergänzt, dem ich den Rang eines Beweises zusprechen möchte.
Denn der Dixi Typ S13 (bzw. die etwas schwächere, aber äußerlich fast identische Version S12) besaß bis Mitte 1905 anstelle eines Profilrahmens einen Rohrrahmen. Dieser ist auf einer weiteren Aufnahme des Modells im Buch von Halwart Schrader so gut erkennbar, dass die Übereinstimmung mit dem erwähnten Rohr unterhalb des Aufbaus unseres undindentifizierten „Tatfahrzeugs“ unübersehbar ist.
Wenn mein Indizien“beweis“ (nebenbei ein logischer Widerspruch, der aber vor Gericht wenig zu stören scheint) schlüssig ist, haben wir es auf dem eingangs gezeigten Foto mit einem von nur gut 100 gebauten Exemplaren des Typs S12 bzw. S13 der Marke Dixi zu tun.
Dabei handelte sich um einen technisch konventionellen, aber markentypisch ausgezeichnet konstruierten Vierzylinderwagen, der aus 3,5 Liter Hubraum 16-17 PS Spitzenleistung schöpfte. Gebaut wurde er von 1904 bis 1907.
Das ist ein erfreuliches Ergebnis dieses Indizien“prozesses“, denn Fotos dieses Modells scheinen äußerst selten zu sein.
Viele Spuren mögen zwar weitgehend verwischt sein, doch sind wir mit etwas Scharfsinn, Geduld und Glück imstande, den Hergang anno 1905 recht gut zu rekonstruieren…
Heute gibt es eine kleine Französisch-Lektion, wie der Titel schon anklingen lässt. Wer sich da an öde Schulstunden mit überfordertem Lehrpersonal erinnert fühlt, kann beruhigt sein.
Die Beschäftigung mit unseren linksrheinischen Nachbarn kann viel Freude machen, wenn nicht gerade eine Seite der anderen feindlich gesinnt ist – ein leidiges Dauerthema seit Jahrhunderten. Heute geht es versöhnlich zu, versprochen!
Eine kleine Spitze kann ich mir dennoch nicht verkneifen. Die Franzosen mögen sich ja mit den Italienern den Rang der klangvollsten europäischen Sprache teilen – aber für mich als alten Lateiner sind beide letztlich barbarische Dialekte.
So löst sich der Wohlklang von „Voilá une voiture familiale! – in Wohlgefallen auf, wenn man es ins Lateinische zurück“übersetzt“. Bevor das römische Imperium nämlich einer Übermacht von Kulturbanausen erlag, klang das noch sachlich und ohne Schwulst einfach so: „Vedi, vectura familiaris!„
Das parfümiert daherkommende „Voilá“ ist ja nur eine Variante des lateinischen „vedi“ und bedeutet einfach „Siehe da!“ oder „Hier haben wir…“. Und das gespreizt klingende „voiture“ ist bloß eine „Fuhre“ – lateinisch „vectura“. Der Rest mit der Familie versteht sich von selbst.
„Das hier ist eine Familienkutsche“ lautet also der Titel. Und hier haben wir schon das erste Exemplar, wenngleich dieser Wagen noch nicht das „voiture familiale“ ist, auf das ich es abgesehen habe. Es bringt uns dem eigentlichen Gegenstand jedoch schon näher:
Darracq von 1906/07; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Zugegebenermaßen biss ich mir an dieser Aufnahme lange die Zähne aus. Ja, auf dem Kühler ist ein Emblem zu erkennen, aber was um Himmels willen soll darauf zu sehen sein?
In solchen Fällen pflege ich mich an Claus Wulff aus Berlin zu wenden, dessen wohl einzigartige Website zu antiken Kühleremblemen ich nicht oft genug empfehlen kann. „Das ist ein Darracq“ wusste er auf Anhieb, wenngleich ihm genau dieses frühe Emblem der 1896 gegründeten französischen Marke noch in seiner Sammlung zu fehlen scheint.
Durch Vergleich mit Fotos im Netz konnte ich den Wagen auf 1906/07 datieren. Eine nähere Eingrenzung des Typs erscheint schwierig. Wie viele Hersteller der damaligen Zeit deckte Darracq ein breites Spektrum an Motorisierungen ab.
Mein Eindruck ist aber der, dass die Kühlergestaltung auf ein kleineres Modell verweist, da Darracq zur selben Zeit stärkere Typen anbot, deren Kühler anders ausgeführt war – nämlich so wie bei diesem Wagen:
Darracq von 1906/07; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Viel schöner kann ein Foto aus der Frühzeit des Automobils kaum sein, oder?
Während die damaligen Hersteller ihre Fahrzeuge in Reklamen und Prospekten meist stur von der Seite her zeigten, wussten die Besitzer oft schon, wie man so ein Wunderwerk angemessen in Szene setzt – schräg von vorne und mit klassischem Bildaufbau: Vordergrund, Mittelgrund, Hintergrund.
Zwar ist das Kühleremblem abermals nur schemenhaft zu erkennen, doch die markante Gestaltung des Kühlergehäuses lässt keinen Zweifel – auch das ist ein Darracq von 1906/07 – aber eines der stärkeren Modelle.
Die Gemeinsamkeiten mit dem zuvor gezeigten Darracq beschränken sich auf die eigentümliche (wohl mechanisch betätigte) runde Signalvorrichtung unter dem Kühler und die Vorderachskonstruktion:
In Ermangelung brauchbarer Literatur zu den frühen französischen Automobilmarken (ich bin für einschlägige Hinweise dankbar) verzichte ich auf den Versuch einer näheren Einordnung dieses Darracq. Lediglich die Datierung auf 1906/07 traue ich mir anhand einiger stilistischer Merkmale zu.
Sicher ist indessen, dass wir es hier bereits mit einem veritablen Familienauto zu tun haben. Fünf Personen finden darin Platz – wobei der Sitz am Lenkrad dem angestellten Fahrer vorbehalten ist. Dieser musste freilich für diese Aufnahme dem Besitzer weichen, welcher sich hier stolz am Steuer zeigt.
Sieht man von dem kurzzeitig zum Beifahrer degradierten Chauffeur einmal ab, sind die übrigen Insassen ebenfalls gut aufgelegt, auch wenn sie sich tüchtig eingepackt haben – es scheint ein sonniger, doch frischer Tag gewesen zu sein:
Gut eingepackt sind auch auf beiden Reservereifen. Sicher haben Sie weiter oben auch die Überzüge über den Frontscheinwerfern bemerkt, die das empfindliche Glas bei Überlandfahrten vor Steinschlag schützen sollten.
Vermutlich ist dieses schöne Dokument kurz vor der Abfahrt von Verwandten entstanden, die vielleicht einige Tage zu Besuch weilten, bevor es mit der Familienkutsche wieder heimwärts ging.
Jedenfalls muss das ein besonderer Moment gewesen sein, zu dem sich etliche Familienmitglieder versammelt hatten, die mehrere Generationen repräsentierten. Die älteren Damen auf der Treppe zum Haus stammten noch aus der Zeit lange vor Erfindung des Automobils. Man beachte, wie sie auch in fortgeschrittenem Alter auf die schmale Taille Wert legten, die bis zum 1. Weltkrieg Mode bleiben sollte.
Besonders angetan haben es mir aber die hell gekleideten Vertreterinnen der jüngeren Generation, die zusammen ein ganz bezauberndes Bild im Bild abgeben:
Die kräftigere Dame, die an das Türportal gelehnt steht, dürfte die Haushälterin gewesen sein. Sie gehörte ebenso zur Familie wie der kleine Schoßhund auf dem Arm der weißhaarigen Dame links.
Eine solche Inszenierung galt einst einem „voiture familiale“. Was wir heute als Familienkutsche gedankenlos im Alltag nutzen, war einst bei vermögenden Leuten eine neue und ganz großartige Sache – so ändern sich die Zeiten.
Angesichts der zunehmend aggressiven politischen Rhetorik gegenüber dem motorisierten Individualverkehr und dessen gezielter Verteuerung könnte man auf den Gedanken kommen, dass das eigene Automobil in absehbarer Zeit wieder zum Privileg einer dünnen Schicht wird, die sich die damit verbundenen exorbitanten Kosten leisten können.
Ob man dann noch solche heiteren Aufnahmen anfertigen wird, die vom Anbruch einer neuen Zeit künden, das mag man bezweifeln.
Was hätten unsere Vorfahren vor 100 Jahren – Anfang der 1920er – wohl zu den „Problemen“ unserer Zeit gesagt?
Toiletten für das „dritte Geschlecht“, bizarre Schreibvorschriften wie „Bürger/innenmeister*inkandidat_in“ oder die Zerstörung einer über Jahrzehnte aufgebauten zuverlässigen Stromversorgung, ohne gleichwertigen Ersatz dafür zu haben.
Undenkbar? Hirnrissig? Dekadent? – Vor 100 Jahren hätte man sich jedenfalls kaum vorstellen können, wie man freiwillig Krieg gegen das Selbstverständliche, Bewährte, Funktionierende führen kann, das Voraussetzung einer stabilen Gesellschaft ist.
Gerade hatte man in Deutschland einen Krieg gegen die halbe Welt verloren und war dringend auf alles angewiesen, was noch funktionierte, worauf man sich verlassen konnte, woran man anknüpfen konnte, um nichts ins Chaos zu stürzen.
Wer den Krieg überlebt hatte, war nach dem Zusammenbruch der bisherigen Ordnung oft genug auf sich selbst zurückgeworfen, musste zusehen, wie er aus dem etwas machte, was er konnte. Da waren keine versponnenen Visionen gefragt, sondern elementare Dinge.
Rückblende: Kurz vor dem 1. Weltkrieg posierten einst stolze Chauffeure am Lenkrad der Automobile, die ihnen von seiten der Besitzer anvertraut worden waren:
Brennabor von ca. 1911; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Vorn sehen wir ein majestätisches Landaulet auf Basis eines Brennabor, den man auch ohne den Schriftzug auf dem Kühler an dessen Form als solchen erkennen würde.
Das oben abgetreppte Kühlerprofil erfordert eine Einbuchtung der Oberseite der Motorhaube, die sich wie bei Wagen der belgischen Marke Minerva nach hinten verliert. Auf dieses Element komme ich später zurück.
Für das prachtvolle Gefährt kommen aus meiner Sicht nur die stärkeren Modelle der Marke aus Brandenburg an der Havel in Frage – speziell die Typen 8/22 PS und 10/28 PS mit konventionellem Vierzylindermotoren mit 2 bzw. 2,5 Litern Hubraum.
Diese Wagen repräsentierten enorme Werte, Betrieb und Wartung erforderten großes Können. Entsprechend hoch waren die Anforderungen an die Fahrer, die man damals eigens dafür anstellte. Chauffeur eines Automobils zu sein, war ein Privileg.
So finden sich unzählige Dokumente wie das eingangs gezeigte, auf denen die Fahrer selbstbewusst in den Wagen posierten, die man ihnen mitsamt Insassen anvertraute.
Nach Ende des 1. Weltkriegs war es in vielen Fällen vorbei mit diesen auch für die Chauffeure komfortablen Verhältnissen. Viele Fahrer hatten zwar während des Kriegs dank ihrer Qualifikation in den Kraftfahrtruppen einen relativ risikoarmen Dienst verrichtet.
Doch wie viele Kameraden standen sie 1918 oft genug vor dem Nichts und mussten sich mit dem durchschlagen, was sich gerade eben anbot. So konnte es geschehen, dass der nächste „Karriere“schritt eines Chauffeurs die Position als Milchmann war:
Brennabor um 1912, umgebaut zum Lieferwagen; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Über die Fracht dieses in den 1920er Jahren in Berlin aufgenommenen Lieferwagens gibt es nicht viel zu spekulieren – es sei denn, man gehört bereits einer Generation an, die noch nie eine Milchkanne gesehen hat und alles für selbstverständlich online verfügbar hält.
Doch was ist das für ein merkwürdiges Gefährt, das wirkt, als sei es aus mehreren Fahrzeugen zusammengesetzt? Das ist auf den ersten Blick gar nicht so einfach zu beantworten.
Auf Anhieb klar ist nur, dass die Ladefläche anstelle der ehemaligen Rücksitze eines typischen Tourenwagens der Zeit vor dem 1. Weltkrieg angebracht wurde. Zum Vergleich hier eine Aufnahme eines Stoewer B5 mit ähnlichem (noch vollständigen) Aufbau:
Stoewer B5; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)
Man kann sich gut vorstellen, wie einfach hinter der vorderen Sitzreihe ein „Schnitt“ gemacht wurde und der rückwärtige Aufbau einer Ladepritsche geopfert wurde.
Durch eine solche Modifikation wurde die Stabilität des Wagens in keiner Weise beeinträchtigt, denn die Karosserien waren damals noch nicht selbsttragend, sondern ruhten auf einem massiven Leiterrahmen, der entscheidend für die Steifigkeit war.
Was lässt sich nun zum Hersteller des einst zum Lieferwagen umgebauten Autos sagen? Dazu werfen wir einen näheren Blick auf die Frontpartie, die bei fast allen Wagen der Zeit bis in die 1920er Jahre das einzige Markentypische war:
Auch wenn hier auf dem Kühler kein Markenschriftzug zu erkennen ist, dürfen wir sicher sein, dass wir es ebenfalls mit einem Brennabor aus derselben Zeit zu tun haben wie dem eingangs gezeigten herrschaftlichen Landaulet.
Achten Sie auf die Einbuchtung der Motorhaube am vorderen Ende, die das Profil des Kühlers nachzeichnet – ganz wie beim Brennabor auf dem ersten Foto!
Zwar irritieren die Luftschlitze – man findet sie an Wagen dieser Marke aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg nicht. Doch bei näherem Hinsehen erweisen sie sich als nachträglich angebracht (die Höhe variiert deutlich), was auf Kühlprobleme im Stadtbetrieb bei niedrigen Geschwindigkeiten hindeutet.
Vermutlich hat dieser einst als Reisewagen gebaute Brennabor nach dem 1. Weltkrieg keine luftigen Landstraßen mehr gesehen, sondern mit seiner Ladefläche und den nachgerüsteten elektrischen Scheinwerfern noch etliche Jahre Dienst in der Großstadt geschoben.
Der Fahrer dieses damals schon veralteten Autos mag vor dem Krieg bessere Zeiten als Chauffeur bei feinen Leuten gesehen haben – nun brachte er diesen, die vielleicht ihr Vermögen eingebüßt hatten, die Milch in ihre deutlich geschrumpfte Wohnung.
„Johann, treu wie immer, danke dass Sie uns die Milch die steile Treppe hochtragen“, so mag sich die einstige Brötchengeberin bedankt haben und ihm zu Weihnachten als Anerkennung einen Silberlöffel aus besseren Zeiten zugesteckt haben.
Vom Lenker eines stolzen Automobils in besseren Kreisen zum prekär beschäftigten Lieferanten „befördert“ zu werden, das wünscht man niemandem – und doch droht in unseren Tagen vielen genau dieser abschüssige Weg, während die Axt an die hochkomplexen Strukturen gelegt wird, die (noch) unseren Wohlstand ausmachen.
Heute vergessen Sie am besten alles, was Sie mit der Marke Renault verbinden – und vergessen Sie auch alles, was Sie über das Erscheinungsbild von Automobilen aus der Zeit kurz vor dem 1. Weltrkieg zu wissen glaubten.
Ich musste selbst erst eine steile Lernkurve absolvieren, bevor ich imstande war, dieses grandiose Fahrzeug zeitlich einzuordnen, das in jeder Hinsicht eine Klasse für sich war:
Renault Außenlenker-Coupé von 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Dieses Fahrzeug hat wenig damit zu tun, was man sich unter einem Automobil vorstellt, selbst wenn man sich regelmäßig mit den Entwicklungslinien in der Vorkriegszeit beschäftigt – hier muss man sich das nötige Wissen gänzlich neu aneignen.
Natürlich identifiziert man die eigentümliche Gestaltung des Vorderwagens mit Motorhaube in Form einer umgekehrten Kohleschaufel und dahinterliegendem Kühler am ehesten mit frühen Renault-Wagen (obwohl der Kenner hier auch an Komnick denken mag).
Doch wie soll man hier den Entstehungszeitpunkt auch nur näherungsweise eingrenzen?
Auf den ersten Blick ist man geneigt, dieses Auto vor 1910 zu verorten – denn es besitzt noch nicht über den windschlüpfigen Übergang zwischen Motorhaube und Frontscheibe, der sich damals – inspiriert von Sportmodellen von 1908/09 – auf breiter Front durchsetzte.
Dummerweise hilft einem dieses Wissen im vorliegenden Fall kein bisschen – denn frühe Renaults waren eine Klasse für sich. Ihre Gestaltung folgte nicht dem Zeitgeist, sondern einer ganz eigenen ästhetischen Linie.
So unglaublich es klingt – fast genau ein solches Coupé mit offenem Chauffeurabteil findet sich noch 1920 in eine Reklame von Renault (vgl. J. Borgé/ N. Viasnoff, „Renault – L’Empire de Billancourt“, 1977, S. 131).
Wir müssen uns daher mithilfe der Literatur erst einmal ein Bild von der Entstehung dieser eigenständigen Linienführung machen, am besten anhand der Frontpartie:
Die vielfältig profilierte, nach unten breiter werdende und nach vorne abfallende Motorhaube findet sich genau so erstmals an Renaults des Baujahrs 1905.
Doch an diesen frühen Exemplaren finden sich noch keine Kotflügel, die so harmonisch geschwungen Anschluss an das Trittbrett suchten. Vielmehr schnitt damals der hintere Kotflügelabschluss das Trittbrett noch fast vertikal – auch bei anderen Marken jener Zeit.
Die Literatur liefert uns erstmals auf Bildern von Renaults des Baujahrs 1907 eine solche Bezugnahme von Kotflügel und Trittbrett aufeinander – allmählich begannen bis dato separate Bauelemente miteinander quasi Verbindung aufzunehmen.
Allerdings sucht man bei Renaults auch 1907 noch vergeblich eine durchgängige Verkleidung der Partie zwischen Rahmen und Trittbrett – auch die vordere Aufnahme der hinteren Blattfeder lag damals noch frei und war nicht kaschiert wie hier:
Wenn ich es richtig sehe, findet sich an Renault-Automobilen erstmals 1912 ein solches Schwellerblech – wobei es je nach Karosseriehersteller Unterschiede gegeben haben mag.
Wie es der Zufall will, ist uns diese prächtige Aufnahme in Form einer Fotopostkarte aus Frankreich überliefert, die auf Juni 1912 datiert ist.
Damit hätten wir diesen außerordentlichen Chauffeur-Wagen praktisch auf ein Jahr „festgenagelt“ – nicht schlecht mit einem Abstand von fast 110 Jahren! Was allerdings den genauen Typ angeht, ist Demut angezeigt.
Wie bei Automobilen vieler anderer Hersteller jener Zeit ist es selten möglich, das genaue Modell zu identifizieren. Unterschiedlich starke Typen waren nämlich äußerlich meist identisch gestaltet und wiesen allenfalls unterschiedliche Dimensionen auf.
So bleibt uns nur, allgemein die Auswahl an Renault-Modellen im Jahr 1912 zu betrachten. Getrost ausschließen können wie im vorliegenden Fall das Kleinwagenangebot, das Zweizylinderwagen mit 8 bzw. 9 französischen Steuer-PS (CV) umfasste.
Die Mittelklasse deckten Vierzylinderwagen mit 10 bis 14 CV ab. Außerdem gab es großvolumige Sechszylinder mit 18 bzw. 40 CV sowie zwei weitere Vierzylinder mit 20 bzw. 35 CV (letzterer mit kolossalen 8,5 Liter Hubraum).
Von der Größe der Motorhaube her würde ich beim heute vorgestellten Foto auf ein mittleres Vierzylindermodell tippen – genauer wird sich das kaum noch ermitteln lassen.
Letztlich ist die genaue Motorisierung auch zweitrangig – denn allein schon durch die Gestaltung als elegantes Coupé mit außenliegendem Fahrerabteil verdient dieser Renault das Attribut „eine Klasse für sich“.
Dabei müssen wir kein Mitleid mit dem Chauffeur haben, dessen Vorgänger ebenfalls jahrhundertelang draußen auf dem Kutschsitz saßen, um die volle Kontrolle über die vorgespannten Pferdestärken zu haben.
Denn wer einen solchen Wagen im Frankreich der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg „kutschierte“, war ein angesehener und gut bezahlter Spezialist, der über beste Manieren verfügen musste und häufig genug als Familienmitglied galt.
So war auch die Kaste der Fahrer solcher herrschaftlichen Wagen lange Zeit „eine Klasse für sich“ – und man fertigte solche Aufnahmen eigens an, um die eigene Familie zu beeindrucken. Das dürfte mit diesem grandiosen Dokument gelungen sein…
Wer in meinem Blog schon eine Weile mitliest, weiß: Mir sind die historischen Fotos von Vorkriegsautos die liebsten, die Automobile im Gebrauchtzustand und zusammen mit den Menschen zeigen, die sie einst besaßen, bewunderten oder umgaben.
Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist für mich nichts fader als ein gerade fertiggestelltes Automobil, das ein mehr oder minder begabter Werksfotograf in belangloser Umgebung zu Dokumentationszwecken ablichtete.
Doch darauf bezieht sich der Titel meines heutigen Blog-Eintrags „Ein Kind von Traurigkeit“ nicht direkt. Tatsächlich können selbst professionelle Fabrikaufnahmen großartige Dokumente vergangenen Lebens sein wie dieses hier:
Protos Typ G1 oder G2; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Diese Fotografie entstand einst (vermutlich) in der sogenannten Fertigmacherei – der Abteilung, in der die letzten Arbeiten an neuen Automobilen erledigt wurden, bevor sie auf den Weg zum Käufer gingen.
Wie die Gestaltung der Kühlerpartie verrät, haben wir es mit Wagen der Berliner Marke Protos zu tun, die auf etwa 1912 zu datieren sind. Protos stellte damals in diesem kompakten Format die Vierzylindertypen G1 und G2 mit 18 bzw. 21 PS her.
Dass es sich um eher frühe Exemplaren dieser bis 1914 gebauten Modelle handelt, mache ich am steilen Anstieg des Windlaufs zwischen Motorhaube und Frontscheibe sowie an den noch recht filigranen Vorderkotflügeln fest.
Gegen eine Entstehung bereits im ersten Baujahr des Typs G1 bzw. G2 (1910) sprechen meines Erachtens die elektrischen Positionsleuchten im Windlauf, sie tauchen erst später auf. Das Foto habe ich übrigens bereits vor einigen Jahren ausführlich besprochen (hier).
Heute möchte ich eine Aufnahme vorstellen, die einen ganz ähnlichen Protos zeigt, der jedoch noch keine elektrischen Positionsleuchten, sondern gasbetriebene besaß. Dabei spielt der Wagen jedoch nur eine Nebenrolle, weit interessanter ist die Gesamtsituation:
Protos Typ G um 1911; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Diese Aufnahme ist zwar gestochen scharf, doch bleibt für mich ein wenig rätselhaft, was darauf festgehalten ist – und genau das macht sie so faszinierend.
Der halb ins Bild hineinragende Protos G-Typ ist so raffiniert integriert, wie ich das bei einem derartig frühen Foto kaum je gesehen habe. Die exaltiert gestalteten Gaslampen an der Front sowie beiderseits des Windlaufs deuten eher auf ein sehr frühes Exemplar von 1910/11 hin als ein späteres.
Auszuschließen ist freilich nicht, dass die Beleuchtungsausstattung Kundenwünsche widerspiegelte, zumal dabei auf zugelieferte Teile zurückgegriffen wurde. Ab Werk wurden die Wagen vor dem 1. Weltkrieg bisweilen noch ganz ohne Scheinwerfer ausgeliefert.
Spannender ist indessen die Frage, wann und bei welcher Gelegenheit die Aufnahme entstand. Die Rotkreuzfahne an dem Wagen spricht für eine militärische Verwendung des Autos, wahrscheinlich als Arztwagen.
Leser Klaas Dierks (nebenbei in militärischer Hinsicht bewandert, speziell, was den 1. Weltkrieg angeht), vermutet, dass wir hier eine Manöversituation im Raum Berlin/Brandenburg um 1911 vor uns haben, bei der Teilnehmer zivilen Besuch empfangen konnten.
Es scheint so, dass man illustrieren wollte, dass Verwundete mit mehr als nur improvisierter Versorgung rechnen konnten und dass dafür auch private Automobile (insbesondere von Mitgliedern des Kaiserlichen Automobil-Clubs) eingesetzt würden.
Die tatsächlichen Verhältnisse an der Front, die vom massenhaften Einsatz von Maschinenwaffen und Artillerie geprägt war, konnte man den Leuten nicht zumuten.
Die beiden Soldaten waren Unteroffiziere (vermutlich eines Garde-Regiments mit Standort im Raum Berlin). Die umgehängten Ferngläser deuten daraufhin, dass diese Männer im Manöver Beobachtungsaufgaben wahrnahmen:
Was mich an diesem Foto berührt – und ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen, werte Leser, ebenso geht – ist das kleine Mädchen, das zwischen den beiden ernst dreinschauenden Soldaten zu sehen ist.
Natürlich sieht man selten auf dermaßen frühen Fotografien bewegte Gesichter – je nach Lichtverhältnissen galt es einige Sekunden stillzuhalten und nur wenigen Menschen ist es gegeben, über eine solche Zeitspanne spontan und gut aufgelegt zu wirken.
Doch meinen Sie nicht auch, dass dieses Mädchen ein „Kind von Traurigkeit“ repräsentiert, so als schaue sie in die Zukunft und sehe nicht als das blanke Grauen?
Zum Zeitpunkt der Aufnahme mag sie gerade die Grundschule besucht haben und vielleicht waren die Soldaten sogar Verwandte von ihr, welche die Familie anlässlich einer Übung mit dem eigenen Automobil besucht hatte.
Gut zwanzig Jahre später mag sie im Zweiten Weltkrieg als junge Frau eine der Rotkreuz-Schwestern gewesen sein, die dann das Elend der Verwundeten nach Kräften zu lindern suchten. Tat sie an diesem Tag vielleicht einen Blick in ihre eigene Zukunft?
Das Opel-Modell, um das es heute geht, ist an sich ein alter Bekannter – der Typ 8/25 PS aus der Zeit kurz nach dem 1. Weltkrieg.
Von den damals gebauten Opels mit Spitzkühler dürfte dieser die am häufigsten gebaute Version gewesen sein. Jedenfalls deuten darauf die relativ zahlreichen Aufnahmen dieses Typs in meiner Opel-Galerie hin.
Zurückverfolgen lässt sich die Geschichte des Opel 8/25 PS bis ins Kriegsjahr 1916. Damals brachten die Rüsselsheimer einen neuen Vierzylinderwagen mit 2,3 Litern Hubraum heraus, der als Typ 9/25 PS verkauft wurde.
1919 änderte man die Bezeichnung bei unverändertem Hubraum in 8/25 PS, da Bohrung und Hub geringfügig angepasst wurden – ein Beispiel für die eigentümlichen Resultate der Formel zur Berechnung der Steuer-PS, die man sich hierzulande ausgedacht hatte.
Bei einer an der Leistungsfähigkeit des Motors (und damit des Besitzers) anknüpfenden Besteuerung hätte man natürlich einfach die nominelle Höchstleistung als Grundlage heranziehen können – aber das darf man von einer zur Komplizierung neigenden Bürokratie nicht erwarten, die seither leider große „Fortschritte“ gemacht hat.
1921 kehrte Opel aus mir unbekannten Gründen zu den alten Abmessungen des Motors zurück, was die für den Besitzer teurere Einstufung als 9/25 PS zur Folge hatte. Bis dahin war das Modell, das wohl von Anfang einen Spitzkühler besaß, unter anderem an der flachen Frontscheibe zu erkennen:
Opel 8/25 von 1919/20; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Abgelöst wurde der „alte“ Opel 9/25 PS bzw. 8/25 PS mit 2,3 Liter-Motor dann 1921 durch ein Modell mit neukonstruiertem 2 Liter-Motor, der aufgrund der Steuerformel ebenfalls als 8/25 PS verkauft wurde.
Der „neue“ Opel 8/25 PS (in der Literatur auch als Typ 8M21 bezeichnet) erhielt bald eine zweigeteilte Frontscheibe, die windschnittig gepfeilt war. Dieses Detail findet sich erstmals beim Opel-Sechszylindertyp 18/50 PS, der ebenfalls mitten im 1. Weltkrieg (1916) debütierte (vgl. Bartels/Manthey: Opel-Fahrzeug-Chronik Band 1, 2012, S. 59).
Davon profitierte das Aussehen dieses ansonsten konventionellen Tourenwagen ebenso wie von dem Spitzkühler, der sich deutlich von Exemplaren anderer Hersteller aus dem deutschsprachigen Raum wie Adler, Benz, Horch, Presto oder Steyr unterschied:
Opel Typ 8/25 PS (8M21); Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks
Diese Aufnahme verdanke ich Leser Klaas Dierks, der speziell bei frühen deutschen Wagen seit langem einer meiner wichtigsten Fotolieferanten ist. Hier hat er uns ein weiteres Exemplar des Opel 8/25 PS in der ab 1921 gebauten Version beschert.
Zu Ort und Zeitpunkt der Aufnahme ist leider nichts bekannt – lediglich das mutmaßliche Reetdach auf dem Haus im Hintergrund gibt einen Hinweis auf eine Entstehung in Norddeutschland.
Das rustikale Umfeld darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass ein solcher Opel kurz nach dem 1. Weltkrieg ein Vermögen repräsentierte. Da musste jemand wirtschaftlich unbeschadet – oder auch bereichert – durch den Krieg gekommen sein. Eine große Landwirtschaft oder eine Fabrik könnte die Grundlage dafür gewesen sein.
Bei Einführung des Opel 8/25 PS im Jahr 1921 stellte dieser eine der besten Wertanlagen dar, da damals die Inflation rapide an Dynamik zu gewinnen begann. Dazu trugen die faktisch unerfüllbaren aggressiven Reparationsforderungen der Siegermächte bei, die von militärischen Drohungen begleitet waren und die Staatsverschuldung weiter anfachten.
Ein solcher Opel würde dagegen seinen Nutzen und damit seinen wirtschaftlichen Wert wahren, ganz gleich, was auch kommen würde, dachte man. Diese verbreitete Überlegung erklärt die Sonderkonjunktur im deutschen Automobilbau direkt nach dem 1. Weltkrieg.
Ob das Kalkül dieser Familie wohl aufgegangen ist und sie der großen Enteignung im Zuge der Hyperinflation der 1920er Jahre zumindest teilweise entgangen ist? Nun, speziell die jüngeren Insassen, denen noch einiges blühen sollte, wirken skeptisch:
Gewiss, der Opel wird seinen Nutzwert noch einige Jahre bewahrt haben, doch viel Geld war dafür nach der Währungsreform 1923/24 wohl kaum noch zu erlösen.
Wer sich ab Mitte der 1920er Jahre noch oder wieder ein Auto leisten konnte, kaufte wohl eher ein moderneres und stärkeres Modell, vielleicht eines der immer beliebteren US-Fabrikate.
So ist die Zeit über die kurze Blüte der Spitzkühlermodelle von Opel hinweggegangen. Die wenigen überlebenden Exemplaren genießen bei Kennern heute große Wertschätzung – und selbst ein historisches Foto wie dieses stellt ein besonderes Dokument dar…
Außerhalb Sachsens dürfte es vermutlich kaum Freunde von Vorkriegswagen geben, die je etwas von der Marke „Nacke“ gehört haben, die den Fund des Monats Mai 2021 stellt.
Dabei nimmt die einst hochbedeutende sächsische Automobilgeschichte ihren Anfang mit einem vom Maschinenbauunternehmer Emil Nacke 1901 in Coswig gebauten Motorwagen.
Nacke war im Unterschied zu einigen Zeitgenossen kein Hinterhoftüftler, sondern hatte nach seinem Studium zunächst Erfahrungen im Lokomobilbau gesammelt und auf Reisen den Stand des Maschinenbaus in Frankreich und England erkundet. Nach weiteren Stationen gründete er 1891 seine eigene Maschinenfabrik in Coswig.
Seinen ersten Motorwagen scheint er 10 Jahre später selbst konstruiert zu haben – während viele deutsche Hersteller im Rückstand waren und ihre ersten Autos nach französischen Lizenzen bauen mussten.
Nach seinem Erstling, der noch den Namen „Coswiga“ trug, baute Nacke unter eigenem Namen von Anfang an vollwertige Automobile mit Motorleistungen zwischen 30 und 55 PS. Diese Wagen besaßen noch den damals dominierenden Kettenantrieb.
Ab 1909 rundete Nacke sein Angebot nach unten mit den leichteren Typen 7/18 PS und 10/25 PS ab. Das 18 PS-Modell zeigt diese Reklame von 1910:
Nacke 7/18 PS; Originalreklame aus Braunbecks Sportlexikon 1910
Hier sieht man die ab 1909/1910 bei deutschen Serienwagen auftauchende Windkappe (auch als Windlauf oder Torpedo bezeichnet), die einen strömungsgünstigen Übergang zwischen der horizontalen Motorhaube und der vertikalen Schottwand dahinter bewirkte.
Dieses aus dem Rennsport entlehnte Detail leistet bei der Datierung von Autos der Frühzeit oft gute Dienste – jedenfalls bei Herstellern aus dem deutschsprachigen Raum. Halten wir also fest: Ab spätestens 1910 versah auch Nacke seine Wagen mit einer Windkappe.
Auch wenn dieses Element hier noch wie „aufgesetzt“ wirkt – was es ja faktisch auch war – verlieh es Automobilen auf einmal eine ganz andere Anmutung: Hier beginnt die Geburt der von vorne bis hinten durchgestalteten Karosserie.
Davor gab es kein optisch vermittelndes Element zwischen dem Motorabteil und dem dahinterliegenden Fahrer- und Passagierraum. Der Motor hatte bis dato lediglich die Funktion der Pferde übernommen, dahinter blieb wie bei der Kutsche alles beim alten.
Nicht umsonst prägte die englische Sprache damals für das Auto den Begriff „horseless carriage“, da der Antrieb noch nicht als Teil des Ganzen verstanden wurde. Eine solche „Kutsche ohne Pferde“ sah bis zur Einführung der Windkappe so aus:
vermutlich Nacke-Landaulet von 1909; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Der Fahrer hatte nun nicht mehr die Pferde vor sich, sondern er blickte über den davorgesetzten Motor hinweg auf die Straße vor ihm – immerhin bereits hinter einer großen Windschutzscheibe.
Für die Herrschaften im Passagierabteil – hier als Landaulet mit niederlegbarem Verdeck über der hinteren Sitzbank ausgeführt – hatte sich gegenüber der Kutsche eigentlich nichts geändert. Bloß die erreichbare Geschwindigkeit und die Reichweite waren drastisch gestiegen – das Prestige ebenso, denn ein solcher Wagen kostete soviel wie ein Haus!
Wieso aber könnten wir es bei diesem Prachtexemplar mit einem Nacke zu tun haben? Liefert die Frontpartie vielleicht einen Hinweis darauf?
Trotz des Detailreichtums der Aufnahme ist kein Hinweis auf den Hersteller zu sehen. Festhalten kann man immerhin zweierlei: Unter der langen Haube war ausreichend Platz für einen großvolumigen Motor, der bei frühen Nacke-Wagen um die 5 Liter messen konnte.
Interessant ist auch die Gestaltung der Kotflügel. Diese repräsentieren das Übergangsstadium zwischen den weit ausladenden flügelartigen Schutzblechen, die bis etwa 1906/07 dominierten und den weniger exaltierten, das Rad enger einfassenden Kotflügeln, die sich danach etablierten.
Dieses Detail ermöglicht zusammen mit dem Fehlen einer Windkappe eine Datierung auf ca 1908/09. Es geht aber vielleicht noch genauer, doch dazu müssen wir erst einmal herausfinden, wer dieses aristokratisch wirkende Automobil einst gebaut hatte.
Eine Laune des Schicksals hat dafür gesorgt, dass ein weiteres Foto die letzten 110 Jahre überstanden hat, das auf den ersten Blick dasselbe Auto zeigt:
Nacke um 1908/09; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger
Vor allem die Ausführung der Schutzbleche legt nahe, dass die beiden gemeinsam erhalten gebliebenen Fotos ein und dasselbe Auto oder zumindest denselben Typ zeigen.
Bei näherem Vergleich entdeckt man jedoch eine Reihe Unterschiede, beispielweise die abweichende Gestaltung des Kühlwassereinfüllstutzens. Nicht viel besagen müssen die unterschiedlchen Scheinwerfer, da es sich um austauschbare Zubehörteile handelte.
Die Dachpartie wiederum stimmt exakt überein. Was ist von diesem Befund zu halten? Nun, zunächst ist festzuhalten, dass im Fall des zweiten Fotos kein Zweifel daran besteht, was für ein Fabrikat darauf festgehalten ist:
„Automobil-Fabrik E. Nacke Coswig Sachsen“ ist dort zu lesen (im Original deutlich klarer).
Das allein genügt für die Klassfizierung als Fund des Monats, denn ein Foto aus dieser Perspektive, das die Herstellerplakette eines so frühen Nacke zeigt, ist mir noch nie begegnet. Besser kann man es sich bei Veteranenwagen kaum wünschen.
Welche Verbindung aber besteht nun zwischen den Wagen auf den beiden gemeinsam erworbene Fotos?
Nun, beide weisen nicht nur eine identische Kotflügelgestaltung und Kühlerform auf und sind demnach auch ähnlich zu datieren. Die Abzüge tragen auch beide auf der Rückseite den Vermerk „Wagenfabrik Trebst“.
Somit kamen einst beide Autos zumindest was den Aufbau angeht, aus demselben „Stall“. Zugelassen war der Wagen auf dem zweiten Foto in Leipzig, was dafür spricht, dass wir die Wagenfabrik Friedrich Trebst in der Leipziger Gustav-Mahler Straße als den Erbauer beider Karosserien annehmen dürfen.
Vorerst offen bleiben muss die Frage, ob nicht auch das erste Foto mit dem Landaulet in Seitenansicht einen Nacke zeigt. Zwar findet sich in der Literatur die Abbildung eines Nacke von 1906, der von den Kotflügeln abgesehen eine fast identische Vorderpartie aufweist, aber einen anderen Hersteller kann man dennoch nicht ausschließen.
Es ist gut möglich, dass bei der Wagenfabrik Trebst parallel zum Nacke einst auch ein anderes Fabrikat eingekleidet wurde, dem man die gleichen eigenwilligen Kotflügel verpasst hat. In Frage kommt beispielsweise ein Horch, der damals ganz ähnlich aussah.
Sollte es sich in beiden Fällen um einen Nacke handeln, dann können wir das Entstehungsjahr auf genau 1909 festnageln. Denn zuvor wurden Nacke-Wagen nur mit Kettenantrieb ausgeliefert, während dieses Exemplar eindeutig kardangetrieben war:
Möglicherweise erkennt ein Leser an der meist markenspezifischen Ausführung der Radnabe, ob wir hier eventuell doch ein anderes Fabrikat vor uns haben.
Es bleibt aber dabei, dass wir zumindest einen der hochkarätigen und unglaublich seltenen Nacke-Wagen fotografisch dingfest machen konnten. Dass heute kaum noch jemand etwas über diese Fahrzeug weiß, hängt wohl auch damit zusammen, dass Nacke die PKW-Produktion bereits 1913 zugunsten der wirtschaftlich aussichtsreicheren Herstellung von LKW und Omnibussen einstellte – was sich als richtig erweisen sollte.
Doch selbst die bis 1929 gebauten Nutzfahrzeuge, die sogar international einen guten Ruf besaßen, scheinen in Vergessenheit geraten zu sein. Umso mehr liegt es mir am Herzen, mit der Vorstellung solcher Originaldokumente zur Erinnerung an dieses interessante Kapitel sächsischer Automobilbautradition beizutragen…