Adlig, bürgerlich und arbeitsam: 1927er Erskine

Das ist ja großartig„, mögen jetzt die Anhänger der klassenlosen Gesellschaft ausrufen. Endlich werden die Stände von einst vereint und die Aristokraten bekommen etwas zu tun!

Nun in gewisser Weise stimmt das – aber nur heute in diesem Blog-Eintrag.

Zwar kann man den alten Adel abschaffen und zur bürgerlichen oder gar Arbeiterexistenz nötigen. Doch über kurz oder lang bildet sich eine neue Aristokratie – sie nennt sich zwar nicht so, fühlt sich aber ebenso überlegen und führt sich genauso auf.

Da dies leider nicht zu ändern ist – das lehren Geschichte und Gegenwart- wollen wir uns dennoch hier am zumindest harmonischen Nebeneinander von gleich drei Klassen erbauen.

Die Inspiration dazu lieferte mir kürzlich Leser Klaas Dierks, der mich um die Identifikation eines Autos bat, das im Hintergrund einer Aufnahme aus den 1930er Jahren zu sehen war.

Ganz vorne ist ein Opel „Blitz“ mit Aufbau als Leichenwagen zu sehen – eine Kategorie, die ich in meinem Blog ebenso ignoriere wie Unfallautos, in denen jemand schwer verletzt oder gar getötet wurde.

Denn hier soll die Vergangenheit aufleben und wir wollen unseren automobilbesessenen Vorfahren einen letzten großen Auftritt ermöglichen – so als wären sie noch unter uns. Genau das wird heute der Fall sein – freuen Sie sich darauf.

Nun aber erst einmal zu dem Rätselfoto von Klaas Dierks in Form dieses Ausschnitts – den erwähnten Opel „Blitz“ erahnt man rechts unten am Bildrand.

Erskine-Pickup, Adler „Standard 6“; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Als erfahrener Sammler hatte Klaas Dierks natürlich die großzügige Limousine mit dem dreieckigen Kühleremblem und dem markanten Lochkreis der Räder bereits als Typ „Standard 6“ identifiziert, den die Frankfurter Adlerwerke mit einigem Erfolg ab 1927 bauten.

Der nach amerikanischem Vorbild gestaltete, 45 PS leistende Adler repräsentiert heute den alten Adel – nicht nur wegen der Namensähnlichkeit, sondern auch weil er für die Verhältnisse im alten Europa stand, die damals von den Aufsteigertypen aus den USA überflügelt zu werden begannen.

Letztere gesellten sich hemdsärmelig und selbstbewusst zu den zwar traditionsreicheren aber eher steifen Vertretern aus der Alten Welt. So kommt einem jedenfalls der kompaktere Wagen hinter dem Adler vor, der mit seiner Ladefläche keine Hehl daraus machte, dass er der Arbeiterklasse angehörte. Berührungsängste kannte er offenbar nicht.

Was war das nun für ein Fabrikat, welches sich trotz seiner bodenständigeren Erscheinung hier gleichberechtigt in das Defilee einreiht?

Genau das konnte ich zunächst nicht beantworten. Die Gestaltung des Kühler mit dem nach oben zeigenden mittigen „Zipfel“ war mir noch nicht begegnet. Dummerweise war der Schriftzug auf dem Kühlergrill auch auf dem Originalabzug nicht zu entziffern.

Mein Gefühl sagte mir allerdings bereits, dass dieser kantige Arbeitertyp aus den Vereinigten Staaten stammen musste. Er musste aus einer Klasse stammen, in der man keinen Wert auf großspuriges Auftreten Wert legte und auffallenden Zierrat mied.

In diesen Sphären ging es sparsam zu und so geht dem Wagen auch die Fülligkeit des danebenstehenden Adler ab, der in einer Welt des Überflusses mit schweren Bratensoßen und üppigen Torten zuhause war. Dorthin unternehmen wir gelegentlich wieder einen ausgiebigen Ausflug, liebe Adler-Freunde – versprochen!

Der Zufall wollte es nun, dass ich im Anschluss an die Anfrage von Klaas Dierks diese großartige Aufnahme erwerben konnte, die den Schlüssel zur Lösung des Rätsels enthielt:

Erskine von 1927; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir nun nach altem Adel und Arbeiterklasse die Vertreter des gehobenen Bürgertums, welche im Deutschland der Vorkriegszeit die einzigen waren, die sich überhaupt ein Auto leisten konnten.

Im Unterschied zu vielen anderen Aufnahmen wirken die solchermaßen privilegierten Zeitgenossen endlich einmal entspannt und gut aufgelegt – wozu sie allen Anlass hatten.

Das waren Leute, die auch das nötige Kleingeld hatten, um ihren Kindern schöne und nicht gerade billig wirkende Kleidung zu kaufen.

Die Herren waren gewiss beruflich erfolgreiche Männer und die beiden charmanten Damen hatten ihre prominenten Vorbilder aus Theater und Film genau studiert, welche in den Gesellschaftsmagazinen wiedergegeben waren, die man abonniert hatte.

Noch interessanter als dieses Dokument gehobener bürgerlicher Verhältnisse ist für uns freilich die Frage, was das für ein Wagen war, welchen diese Leute fuhren.

Das sollte doch nun eine Kleinigkeit sein, so dachte ich und nahm die Kühlerpartie näher unter die Lupe, als dies auf dem Foto von Klaas Dierks möglich war:

Das Emblem mit horizontalem Schriftzug und jeweils darüber und darunter erkennbaren annähernd runden Elementen kam mir irgendwie bekannt vor. Aber der Groschen aus den längst vergangenen Zeiten der deutschen Mark wollte einfach nicht fallen.

In solchen Fällen hilft des öfteren ein Besuch auf Claus Wulffs genialer Kühleremblem-Website – man muss bloß Geduld haben und sich durch die stetig wachsende Markenfülle durcharbeiten.

Die Mühe lohnte sich auch dieses Mal und ich fand die kurzlebige US-Marke „Erskine“ als Lösung. Diese existierte von 1927-30 und war quasi das Discount-Angebot von Studebaker speziell für den europäischen Markt.

Dazu hatte man dem Wagen einen für US-Verhältnisse kompakten 6-Zylindermotor (von Continental) verpasst, der 40 PS aus 2,4 Litern Hubraum leistete.

Damit grenzte man sich geschickt vom Ford „Model A“ ab, das dieselbe Leistung bot, aber nur einen Vierzylinder besaß, dessen größerer Hubraum obendrein von den absurden europäischen Steuergesetzen benachteiligt wurde.

Vor diesem Hintergrund kamen die Werbeleute von Studebaker auf die Idee, den leistungsmäßig klar in der Arbeiterklasse angesiedelten Erskine als „The Little Aristocrat“ anzupreisen.

Diese Art Humor zeigt, dass man die Unterscheidung der Klassen in den Staaten nicht sonderlich ernstnahm. Jeder Bandarbeiter in South Bend (Indiana) wo der Erskine entstand, konnte sich damals ein Auto dieser Klasse leisten, welches in Deutschland damals nur einer dünnen Schicht von Gutverdienern zugänglich war.

Sie sehen am Ende: In Sachen Erskine verschmelzen alter Adel, gehobenes Bürgertum und robuste Arbeitertypen auf letztlich kaum unterscheinbare Weise.

Der „Little Aristocrat“ aus den Staaten begann seine Karriere in deutschen Landen zunächst in gutsituiertem Bürgertum, fand aber nach ein paar Jahren eine neue Anstellung in Verhältnissen, in denen harte Arbeit gefragt war – dafür wurde er zum Pickup umgebaut.

Das Foto von Klaas Dierks dürfte den Erskine am Ende seiner Laufbahn zeigen. Vielleicht fand er kurz nach dem 2. Weltkrieg aber noch einmal eine Anstellung, bei der seine robusten Qualitäten gefragt waren – bis er im Nebel der Geschichte verschwand…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Ein Studebaker im Kompaktformat: „Erskine“ von 1928

In Berlin war schon immer alles möglich: vor über 100 Jahren beispielsweise mehrfache Postzustellung am Tag – heute ein Flughafen, an dem seit über 11 Jahren gebaut wird und dessen Eröffnung stets zwei Jahre in der Zukunft liegt…

Die jahrzehntelange Isolierung der einst brodelnden Metropole inmitten des Arbeiter- und Bauern-Paradieses „DDR“ ist Berlin nicht gut bekommen – was lange bevorzugte Zuflucht von Wehr- bzw. Zivildienstverweigerern war, ist heute die wohl ärmste Hauptstadt Westeuropas.

In den keineswegs nur goldenen 1920er Jahren dagegen schlug in Berlin der Puls der Moderne wie vielleicht sonst nur in Paris:

Berlin um 1925; Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Der einstige Rang Berlins ist auch daran abzulesen, wieviele Automobile aus ausländischer Produktion dort einst unterwegs waren.

Während man auf obiger Postkarte von Mitte der 1920er Jahre nur deutsche Fahrzeuge sieht, darunter drei NAG und einen Presto, stößt man wenig später auf jede Menge importierter oder sogar in Berlin montierter US-Wagen.

Hier haben wir beispielsweise einen prächtigen Packard Sechszylinder des Typs 533 von 1927/28, aufgenommen vor dem Berliner Dom:

Packard „Six“ Typ 533; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Speziell den leistungsfähigen Sechszylindern aus US-Fertigung mit guter Ausstattung und hervorragender Verarbeitung hatten die deutschen Hersteller Mitte der 1920er Jahre kaum etwas entgegenzusetzen.

Auch in formaler Hinsicht waren die damals als „Amerikanerwagen“ bezeichneten Autos das Maß der Dinge – zumindest, was Großserienfahrzeuge angeht.

Es ist erstaunlich, wie vielen US-Fabrikaten neben den üblichen Verdächtigen wie Buick, Chevrolet, Chrysler, Dodge und Ford man auf alten Fotos begegnet, die vor dem Krieg in deutschen Landen entstanden.

Da stößt man auch auf weniger bekannte Namen wie Apperson, Chandler oder Graham-Paige. Ebenfalls in diese Exoten-Kategorie gehört das Fahrzeug auf folgender Aufnahme:

Erskine von 1928; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese schöne Aufnahme entstand einst in einem gediegenen Vorort von Berlin, wo die Häuser und Grundstücke großzügig waren.

Nur der Maschendrahtzaun und die Nadelbäume im Vorgarten künden vom einsetzenden Verlust an Stilsicherheit, der nach dem Krieg hierzulande erdrutschartige Ausmaße annehmen sollte.

Die alte Dame auf dem Foto war noch mit der gestalterischen Opulenz und der handwerklichen Qualität von Gründerzeit und Jugendstil vertraut, die nach dem 1. Weltkrieg ohne daran anknüpfende Nachfolge blieben.

Bei Neubauten der Zwischenkriegszeit sorgte damals bereits die Moderne für einen radikalen Bruch – nur im Kleidungsstil betrieb man weiterhin erheblichen Aufwand, was in unseren funktionalitätsbesessenen Zeiten kaum verständlich wirkt.

Auch die Automobile jener Zeit standen noch in einer Tradition, die bis in das 19. Jahrhundert zurückreichte. Hinter der Motorhaube lebte die Formensprache der Kutschenzeit fort, wie man auf diesem Bildausschnitt gut sieht:

Dennoch denkt man hier nicht mehr an eine pferdelose Kutsche, wie das bei den Automobilen der Pionierzeit noch der Fall war.

Kurz vor dem 1. Weltkrieg waren die ersten Wagen entstanden, bei denen Antriebssektion und Passagierraum harmonisch miteinander verbunden waren wie auf unserem Foto.

Die Autos der 1920er Jahre mit ihrer völlig anderen Gestaltungslogik sind der Inbegriff des Oldtimers – jedes Kind könnte sagen, dass das Auto auf dem Foto uralt sein muss.

Wir wollen natürlich genau wissen, was da vor rund 90 Jahren in einem bürgerlichen Viertel Berlins abgelichtet wurde.

Die Wahrscheinlichkeit spricht für ein US-Fahrzeug. Denn die amerikanischen Massenhersteller hatten diesen typischen Stil mit breiter Spur, großer Bodenfreiheit, schlichtem Flachkühler und Doppelstoßstangen geschaffen.

Leider lässt sich das Markenemblem auf dem Kühler auch im Original nicht genau erkennen, doch sieht man genug, um die meisten bekannten Firmen auszuschließen:

Beim Durcharbeiten der Literatur blieb der Verfasser irgendwann bei Studebaker hängen – dort baute man in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre ganz ähnliche Wagen der gehobenen Mittelklasse.

Zwar ließ sich bei keiner der Abbildungen eine vollkommene Übereinstimmung finden, aber die Richtung stimmte.

Die Studebaker Corporation bot nämlich ab 1926 eine speziell für Europa bestimmte Variante an, die unter dem Markennamen „Erskine“ vertrieben wurde.

Die nach dem damaligen Präsidenten von Studebaker Albert Erskine benannten Wagen waren kompakter als die bisherigen Modelle und besaßen einen kleineren Sechszylinder, der 40 PS leistete.

Für europäische Verhältnisse reichte das völlig aus, zumal der von Continental (nein, nicht der Reifenhersteller)  zugekaufte langhubige Motor über ein gutes Drehmoment verfügte.

Unser Foto enthält übrigens ein Detail, das die Identifikation als Erskine von 1928 unterstützt – die im unteren Bereich nach vorne geschwungene A-Säule:

Dieses verspielte Element war damals eigentlich schon überholt – ein Relikt aus der automobilen Frühzeit. Doch taucht es vereinzelt noch in den 1920er Jahren auf, um den sonst sehr schlichten Karosserien eine gewisse Dynamik zu verleihen.

Man mag das mit Elementen vergleichen, die sich bis in unsere Tage erhalten haben wie ausgestellte Radhäuser oder angedeutete Sicken in der Motorhaube – funktionell längst nicht mehr erforderlich, aber eine Erinnerung an klassische Vorbilder.

Der Erskine kam eine Weile lang recht gut an am deutschen Markt – doch schon bald gelang es mehr und mehr einheimischen Herstellern, den Stil der US-Wagen zu kopieren – mit Erfolg.

Nur wer auf wesentlich mehr Leistung und Platz Wert legte, kaufte noch bis Anfang der 1930er Jahre einen der großen 6- oder 8-Zylindertypen aus US-Fertigung.

Das Kapitel Erskine wurde 1930 nach einigen zehntausend Exemplaren beendet. Ob es heute noch einen Überlebenden dieser wenig bekannten Marke in Europa gibt? Weiß jemand etwas darüber?

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.