Fund des Monats: “Falke”-Kleinwagen 6/8 PS

Wenn ein braver Kleinwagen mit zugekauftem Motor und ohne jedes Renommee es dennoch zum Fund des Monats bringen kann, muss es sich um eine veritable Rarität handeln. Genau das ist heute der Fall.

Das Foto, das ich heute präsentieren darf, sucht in der mir bekannten Literatur zu frühen deutschen Automobilen seinesgleichen – und zwar vergeblich, denn es gibt dort nur Prospektabbildungen davon, soviel ich weiß.

Bei der Gelegenheit stelle ich außerdem wieder eine “neue” Marke vor, mit der wohl kaum jemand spontan viel verbindet – “Falke” aus der gleichnamigen Fahrzeugfabrik in Mönchengladbach.

Erstmals begegnet ist mir der Hersteller auf zwei Originalreklamen, die ich irgendwann meiner Sammlung einverleiben konnte. Die erste zeigt einen beachtlichen Tourenwagen – damals auch als Doppel-Phaeton bezeichnet:

“Falke”-Reklame um 1907; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Der Wagen wurde offenbar mit einem 12-14 PS starken Vierzylindermotor ausgeliefert, wobei wir es hier noch nicht mit der Angabe von Steuer-PS und Motorleistung zu tun haben. Vielmehr bezeichnen die 12 PS die erzielbare Dauerleistung und die 14 PS die kurzzeitig verfügbare Spitzenleistung.

Wenn Sie nun in einem Standardwerk zu deutschen Automobilen der Frühzeit wie Halwart Schraders “Deutsche Autos 1885-1920” unter Falke nachschauen, werden Sie diesen Typ dort (vermutlich) unter der Bezeichnung 6/12 PS finden.

Er wurde 1907 eingeführt und 1908 wieder eingestellt, da Falke dann die Produktion von Automobilen wieder beendete. In diesem kurzen Zeitraum war der Wagen mit hochwertigen Einbaumotoren von Fafnir bzw. Breuer verfügbar.

Bloß scheint sich die Produktion wirtschaftlich nicht gelohnt zu haben, da half auch der moderne Kardanantrieb nicht viel. Wieviele dieser Wagen überhaupt entstanden, ist unbekannt. Ungewiss ist auch, welche der beworbenen Karosserien gebaut wurden.

So zeigt eine zweite Reklame denselben Falke-Typ mit einem Landaulet-Aufbau, der in der äußerst dürftigen Literatur bislang nicht vertreten ist:

“Falke”-Reklame um 1907; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Man beachte den Preisaufschlag, der für das Landaulet (9.000 Mark) gegenüber dem Tourer (7.500 Mark) zu berappen war.

Auch diese Preisangaben fehlen in der Standard-Literatur. Das macht die beiden Reklamen bereits zu sehr interessanten Quellen, aber die eigentliche Überraschung kommt noch.

Lange fehlte mir der Anlass, die beiden obigen Zeitungsreklamen der 1889 von Albert Falke gegründeten Firma zu präsentieren. Wie so viele deutsche Hersteller kurz vor der Jahrhundertwende baute Falke anfänglich nur Lizenznachbauten oder Kopien moderner französischer Wagen von Marken wie Darracq, Decauville oder DeDion-Bouton.

Eine nähere Beschäftigung verdienen die einheimischen Hersteller aus meiner Sicht erst wieder, als sie zu eigenständigen Konstruktionen in der Lage waren.

Bei Falke war dies bereits 1899/1900 der Fall, als man den Typ B vorstellte, der den Motor vorne hatte und dessen Hinterachse bereits kardangetrieben war. Interessanterweise kehrte man später teilweise wieder zum Kettenantrieb zurück, und zwar bei diesem Fahrzeug:

Falke Kleinwagen 6/8 PS; Originalfoto aus Sammlung Uwe Harnack (Uelzen)

Dieses Foto sandte mir Uwe Harnack aus Uelzen zur Bestimmung zu. Nach seinen Angaben handelte es sich um den Wagen eines Dr. Wedemeyer, der eines der ersten Automobile in der niedersächsischen Stadt besaß.

Der Wagen gab mir anfänglich Rätsel auf, weshalb ich auf eine Methode verfiel, die mir schon des öfteren bei der Identifikation solcher unbekannten Fahrzeuge geholfen hat: Ich blätterte einfach alle Marken im altehrwürdigen “von Fersen” durch (“Autos in Deutschland 1885-1920”, Hans-Heinrich von Fersen, Motorbuch-Verlag Stuttgart, 1965).

Zwar basiert der fast gleichnamige Klassiker von Halwart Schrader darauf, aber in vielen Fällen ist die Darstellung von Nischenmarken bei von Fersen ausführlicher und auch die Bebilderung ist mitunter reichhaltiger.

Fündig wurde ich tatsächlich im Kapitel zu Falke, das bei von Fersen erstaunlich umfangreich ist – er muss noch auf Quellen Zugriff gehabt haben, die Schrader nicht mehr zugänglich waren, vielleicht haben ihn aber manche Marken auch nicht so interessiert.

Jedenfalls fand sich im “von Fersen” die folgende Zeichnung, die mit sehr großer Wahrscheinlichkeit genau den Wagen zeigt, in dem einst Dr. Wedemeyer mit Fahrer in Uelzen unterwegs war:

Falke Kleinwagen 6/8 PS; Abbildung aus: “Autos in Deutschland 1885-1920”, von Hans-Heinrich v. Fersen, Motorbuch-Verlag Stuttgart, 1965

Hier stimmen nicht nur Größe und Proportionen vollkommen überein, sondern auch Details wie der Griff auf der Oberseite der Motorhaube, die Ausführung der Motorstirnwand und die Position des Kettenantriebs.

Auf dieser Zeichnung nicht zu sehen sind die ungewöhnlich weit auseinanderliegenden Luftschlitze in der Motorhaube, aber die findet man dafür bei den Falke-Wagen auf den beiden eingangs gezeigten Reklamen.

Man soll sich seiner Sache in solchen Fällen nie zu sicher sein – die Euphorie angesichts eines solchen Funds kann das Urteilsvermögen trüben – doch sehe ich hier wenig Anlass, an der Identifikation des Wagens auf dem Foto aus der Sammlung von Uwe Harnack als “Falke Kleinwagen 6/8 PS” von ca. 1906 zu zweifeln.

Wie immer bin ich dankbar für Anmerkungen oder Korrekturen seitens sachkundiger Leser – natürlich auch für ergänzendes Bildmaterial, das ich in meine Markengalerien aufnehmen kann.

Zwar ist “Falke” bislang noch nicht über den “Exoten”-Status hinausgekommen, doch auch andere deutsche Hersteller der zweiten und dritten Reihe fristeten dort anfänglich ihr Dasein, bis ich genügend Material für eigene Markengalerien zusammenhatte…

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Auf Zeitreise in die Schweiz: Peugeot 301C

Heute nähere ich mich auf einem eleganten Umweg über die Schweiz dem Ursprung von Pepsi-Cola… Keine Sorge, der Coca-Cola-Konkurrent spielt natürlich nur eine kleine Nebenrolle, aber manche Verbindungen sind zu reizvoll, um sie zu ignorieren.

Am besten ziehe ich die Sache mit Pepsi-Cola vor, anschließend geht es nur noch um Vorkriegsautos, versprochen! Also: 1893 entwickelte ein amerikanischer Apotheker namens Caleb Bradham die Rezeptur für ein verdauungsförderndes Erfrischungsgetränk.

Wasser, Kohlensäure, Zucker, Kolanüsse und Pepsin waren die Hauptzutaten. Das Ergebnis ist bekannt und gilt vielen als zweitklassige Alternative zu Coca-Cola. Interessanter ist der Ort der Entstehung von Pepsi-Cola: “New Bern” im US-Bundesstaat North Carolina.

New Bern wurde 1710 unter Beteiligung einflussreicher Schweizer aus dem Raum Bern gegründet. Einer davon war Christoph von Graffenried, dessen Familie im altehrwürdigen Schloss Worb im Kanton Bern residierte.

Dieses Schloss stellt sich heute im wesentlichen noch so dar, wie zur Zeit des Amerika-Abenteuers von Christoph v. Graffenried, ohne das es kein Pepsi-Cola gäbe. Als Fotomotiv war und ist die Anlage beliebt – ich bevorzuge natürlich diese historische Variante:

Peugeot 301C; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Von Schloss Worb lugen hier nur Teile des mächtigen Bergfrieds und des angrenzenden Palas hervor – ohne die umseitige Beschriftung des Abzugs wäre die Identifikation des Aufnahmeorts aufwendiger gewesen.

Der schicke Zweitürer mit Cabrioverdeck – aber feststehenden Fensterrahmen – ist leicht als Peugeot identifiziert, allerdings ist die Typbezeichnung in dem mittig angebrachten Emblem auf dem Kühlergrill schwer zu lesen: Sowohl “201” als auch “301” könnte dort stehen.

Der Unterschied ist im Wesentlichen ein größenmäßiger, weniger ein stilistischer. Peugeot löste seinen 1929 eingeführten kleinen Typ 201 mit 23 PS leistendem Vierzylinder ab 1932 durch eine erwachsenere Variante mit auf 34 PS erstarktem Motor ab.

Wie der 201 zeichnete sich der Peugeot 301 durch unabhängige Aufhängung der Vorderräder aus, welche die Bodenhaftung und damit die Lenkbarkeit spürbar verbesserte. Beide Typen wurden mit fünf ausstellbaren Luftklappen in der Haube gefertigt, was die Unterscheidung erschwert.

Auch das hier abgebildete Coupé mit Cabrioletverdeck gab es grundsätzlich bei beiden Versionen. Wenn ich mich nicht irre, gab es diese Karosserie aber nur beim größeren 301 mit zusätzlichen Notsitzen im Heck (“Schwiegermuttersitz”).

Genau dieses Detail ist auf einem zweiten Foto desselben Wagens zu erkennen, das am gleichen Tag und Ort aufgenommen wurde:

Peugeot 301C; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier ist zwar die Klappe des Schwiegermuttersitzes geschlossen, man kann aber die beiden glänzenden Knäufe am vorderen Ende sehen, mit denen er sich öffnen ließ.

Ein hübsches Detail ist außerdem die Ersatzradabdeckung mit darauf angebrachtem schweizerischen Nationalitätskennzeichen in großen Chromlettern.

Hätten wir nur noch diese Aufnahme, wäre die Identifikation des Wagens aus dieser Perspektive als Peugeot vermutlich unmöglich gewesen. Es hätte sich auch um ein beliebiges US-Fabrikat der späten 1920er Jahre handeln können.

Erst im weiteren Verlauf der 1930er fand Peugeot dann – wiederum mit Inspiration aus der “Neuen Welt” – zu einer eigenständigen Formensprache bei den Stromlinienmodellen der Reihe 02. Ob dabei vielleicht Pepsi-Cola die Sinne der Gestalter belebt hat?

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Zu Besuch bei den Nassauern: NSU 5/15 PS

Woran denken Sie, wenn jemand als Nassauer bezeichnet wird? Der Begriff mag in der Alltagssprache kaum noch gebräuchlich sein, aber wer schon etwas länger auf Erden weilt, verbindet damit zumindest noch einen fragwürdigen Charakter.

Wer es nicht genauer weiß und sich wie ich sachkundig machen muss, absolviert bei der Gelegenheit eine hübsche Lernkurve – ein Bild, auf das wir noch zurückkommen.

Auf den Punkt gebracht: Ein Nassauer ist im Unterschied zum Schnorrer jemand, der nicht lediglich wahllos Gelegenheiten dazu nutzt, kleine Vorteile mitzunehmen, sondern systematisch und in größerem Stil auf Kosten anderer lebt.

Meine Vermutung ist, dass man im (außerhalb Chinas) größten Parlament der Welt mit Sitz in Berlin besonders gute Chancen hat, auf solche Trittbrettfahrer mit leistungslosem Einkommen (plus diverse “Nebeneinkünfte”…) zu stoßen.

Dazu passt ausgezeichnet, dass der Begriff des Nassauers aus dem Berliner Jargon zu stammen scheint, der für “umsonst” das Synonym “nass” kennt. Für die magische Anziehungskraft ihrer Stadt auf solche Kostgänger können die Berliner freilich nichts.

Die Bewohner der historischen Region Nassau in Hessen scheinen ebenfalls unschuldig zu sein, was die Untugend angeht, dauerhaft und ohne Nutzen zulasten Dritter sein Dasein zu bestreiten.

Solchermaßen belehrt können wir uns nun diesem schönen Foto zuwenden, das einst “in der Kurve von Nassau” entstand – so steht es auf der Rückseite vermerkt:

NSU 5/15 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Opel-Freunde erfreuen sich hier natürlich vor allem am Anblick eines frühen 4 PS-Modells mit dem noch leicht spitz zulaufenden Kühler, welches in der Mitte dieser kleinen Ausflugsgesellschaft zu sehen ist.

Damit haben wir den frühesten Entstehungszeitpunkt dieses Fotos – 1924. Den brauchen wir auch, da der Wagen ganz vorne durchaus schon einige Jahre alt sein konnte, als der Kameraverschluss ausgelöst wurde.

Man meint zwar auf dem Markenemblem auf dem in Wagenfarbe lackierten Spitzkühler zwar nur ein “S” zu sehen, doch auf dem Originalabzug ist klar “NSU” zu lesen.

Die Neckarsulmer Fahrzeugwerke waren nach dem 1. Weltkrieg zunächst mit drei Vorkriegsmodellen angetreten – den Typen 5/15 PS, 8/24 PS und 13/35 PS. Sie wurden zunächst noch mit dem traditionellen eiförmigen Kühler ausgestattet:

NSU 5/15 PS Vorkriegsausführung; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Laut Literatur – empfehlenswert: “NSU Automobile” von Klaus Arth” – erhielten die NSU-Wagen erst 1921 einen Spitzkühler, wie er bei anderen deutschen Marken bereits seit 1913/14 in Mode war und allgemein bis etwa 1925 blieb.

Bei der Gelegenheit wurde die Leistung des Basismodells 5/15 PS auf 21 PS gesteigert, ohne dass die Bezeichnung geändert wurde. Warum das bei einem derartigen Leistungssprung unterblieb, ist mir nicht bekannt.

Vielleicht war es für die Käufer des gut eingeführten Typs weniger wichtig, da für ihre Zwecke ein solches Automobil ohnehin vollkommen ausreichend war. Vielleicht sollte auch nicht deutlich werden, dass der größere NSU 8/24 PS keinen PS-Zuwachs erfahren hatte.

Dieser sah übrigens praktisch genauso aus wie der NSU 5/15 PS, war aber wesentlich länger, etwas breiter und beträchtlich schwerer. Die allgemeinen Proportionen des Wagens auf dem Foto lassen vermuten, dass wir es mit dem kleinen Modell zu tun haben:

Die fünf Personen auf dieser Aufnahme waren wohl nicht alle Insassen des kleinen NSU, wenngleich es diesen außer als Zwei- bzw. Dreisitzer auch als Tourenwagen gab.

Da zum Aufnahmezeitpunkt niemand in dem Opel zu sehen ist, schätze ich, dass sich mindestens zwei Insassen desselben hier dazugesellt haben.

Der Ausschnitt erlaubt vielleicht noch eine nähere Eingrenzug des Baujahrs des NSU. So sind an Wagen dieses Typs von 1924/25 flache Windschutzscheiben zu sehen, während “unser” Exemplar noch eine mittig geteilte und leicht pfeilförmige Frontscheibe besitzt.

Demnach haben wir es wohl mit einem NSU 5/15 PS der frühen 1920er Jahre zu tun. Dem Vergleich mit dem erst 1924 eingeführten Opel 4 PS-Typ hielt der ältere NSU mühelos stand, allerdings war er fertigungsbedingt auch wesentlich teurer.

Heute dürfte er eine große Rarität darstellen, wohingegen es vom Opel 4 PS-Modell zahlreiche Überlebende gibt. So könnte der Wagen hinter dem NSU, der einst beim Besuch dieser “Fahrgemeinschaft” bei den Nassauern mit dabei war, heute noch existieren.

Ein überlebender NSU 5/15 PS wäre freilich aus meiner Sicht das weit spannendere Objekt, bei dem man gern einmal nicht nur “Trittbrettfahrer” wäre…

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2 Sta(h)linisten bei der Wehrmacht: ZIS-101

Heute habe ich zum einen das Vergnügen, die stetig wachsende Marken-Schlagwortwolke in meinem Blog um einen Neuzugang zu erweitern – und zwar ganz am Ende.

Zum anderen kann ich endlich der kalten Jahreszeit adieu sagen – nicht nur, weil es in der hessischen Wetterau heute frühlingshaft warm wurde, sondern weil ich endlich eine Gelegenheit gefunden habe, die folgende Winteraufnahme “abzuhaken”:

ZIS-101 in einer deutschen Kolonne an der Ostfront; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses Foto machte einst ein deutscher “Landser” während des Russlandfeldzugs. Wir sehen eine bunt zusammengewürfelte Kolonne, wie sie typisch für die Wehrmacht war, der es immer an Fahrzeugen mangelte, weshalb man nahm, was man kriegen konnte.

Militärischen Anforderungen genügte von den PKW an der Spitze bestenfalls der offene Adler 12N-Kübelwagen, der an dritter Stelle zu sehen ist.

Die Limousine ganz vorne bereitete mir lange Schwierigkeiten – sie sieht aus wie ein Wagen aus dem General-Motors-Konzern von 1934, doch entspricht das Erscheinungsbild keiner der zahlreichen Marken in dem Verbund ganz genau.

Tatsächlich ist der Wagen ein russischer ZIS-101, der ab 1936 nach US-Vorbildern von der Zavod imeni Stalina (ZIS) in Moskau gebaut wurde.

Was das konkrete Vorbild des ZIS-101 angeht, gehen die Angaben auseinander. Laut deutscher Wikipedia nahmen die russischen Konstrukteure Maß an Buick-Modellen, laut anderen Quellen erwarb man dazu eine Lizenz von Cadillac.

So oder so fragt man sich, wozu in der sozialistischen Sowjetunion ein Wagen dieses Kalibers gebaut werden musste, da doch die Vertreter der kommunistischen Führung sicher keine Privilegien gegenüber den übrigen “Genossen” wünschten – oder doch?

Bemerkenswert, dass die deutsche “Wikipedia” zum ZIS-101 die Propaganda wiederkäut, wonach “es weniger darum (ging), repräsentative Wagen für die Regierung zu bauen, als zu demonstrieren, dass die Sowjetunion in der Lage war, Oberklasselimousinen zu fertigen”.

Natürlich wurden diese ZIS-101 Wagen nicht lediglich zu “Show”-Zwecken gebaut, dafür hätte man nicht einige tausend anfertigen müssen. Vielmehr dienten sie dem exklusiven Transport bolschewistischer Bonzen in Politik, Wirtschaft und Militär.

Ihnen konnte es gleichgültig sein, dass der ZIS-101 noch schwerer und durstiger geraten war als die massigen US-Oberklassevorbilder – das Proletariat brachte auch diese Opfer.

Etliche dieser vierrädrigen “Sta(h)linisten” fielen allerdings im Zuge des deutschen Russlandfeldzugs ab 1941 ungeplant der Wehrmacht in die Hände. Hier hat es gleich zwei erwischt, die hinter der Front von deutschen Soldaten untersucht werden:

ZIS-101, Beutewagen der Wehrmacht; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Viele private Aufnahmen vom deutschen Ostfeldzug wirken so harmlos wie dieses.

Doch wird der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion auch dadurch nicht besser, dass er wahrscheinlich entsprechenden Plänen Stalins zuvorkam, der zuvor die zahlenmäßig stärkste (Panzer)Armee der Welt aufgebaut hatte.

An den zivilen und militärischen Opfer des Feldzugs gibt es ebenfalls nichts zu beschönigen, ganz gleich wie sehr der einzelne Soldat darauf bedacht gewesen sein mag, sich an die Regeln des Kriegshandwerks zu halten.

Die ultimative Verantwortung für das allzuoft verbrecherische Geschehen ist freilich in der damaligen Politik und der Wehrmachtsführung zu verorten. Dem Einzelnen ist zuzubilligen, dass er kaum eine andere Wahl hatte, als Anordnungen von höherer Stelle auszuführen.

Dass das abseits des Kampfgeschehens oft banale Tätigkeiten waren, belegen solche Bilder. So war die Prüfung und Ertüchtigung von Beutefahrzeugen eine wichtige Aufgabe, da die Wehrmacht wie gesagt an chronischer Fahrzeugknappheit litt:

Was genau hier vor sich geht, muss offen bleiben. Man mag sich vorstellen, dass die frisch erbeuteten ZIS-101-Wagen, die wohl russischen Offizierschargen als Fortbewegungsmittel dienten, erst einmal gründlich durchsucht wurden.

Doch sind hier bei beiden Autos auch die Motorhauben geöffnet. Entweder glaubte man, dass im Motorraum wichtige Dokumente verborgen sein könnten, oder man verschaffte sich bereits einen Überblick über den Allgemeinzustand der Wagen.

Im nächsten Schritt dürften sie jedenfalls eine Wehrmachtskennung und bald auch ein entsprechendes Kennzeichen erhalten haben, sodass sie in den Fuhrpark einer namenlosen Einheit eingereiht werden konnten.

Wann und wo das war, lässt sich nicht mehr ermitteln. Das Foto trägt auf der Rückseite lediglich den Stempel des Hamburger Fotohauses Weicht. Damit wissen wir immerhin, wo der Wehrmachtssoldat zuhause war, der diese Aufnahme gemacht hat.

Was aus ihm und den beiden “Sta(h)linisten” mit US-Genen wurden, die unfreiwillig für den Dienst beim Gegner eingespannt wurden, wissen wir nicht. Gut möglich, dass die beiden ZIS-101-Wagen im weiteren Kriegsverlauf wieder den Besitzer wechselten.

Im Unterschied zu russischen Kollaborateuren oder auch Kriegsgefangenen wird man sie bei der Roten Armee gern wieder aufgenommen haben, denn dort waren hohe Chargen ungern wie der ordinäre Genosse zu Fuß unterwegs. Für diese Form der Fortbewegung nahm man auch formale wie technische Anleihen bei den US-Kapitalisten in Kauf…

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Französische Mutante: Citroen B2 “Sport Caddy”

Es gab Zeiten, da waren “Mutanten” dem Genre des Horrorfilms vorbehalten, doch in jüngster Zeit macht der Begriff eine zweifelhafte neue Karriere. Man darf die Verwendung dieses Begriffs im Kontext der Variationen des Coronavirus SARS-CoV-2 durchaus kritisch sehen, da er geeignet ist, Panik zu schüren.

Gewöhnliche Mutationen tun es auch und sie sind völlig normal – ohne sie würde die Erde bestenfalls von Einzellern bevölkert. Das wäre doch bedauerlich, denn dann könnte ich heute nicht eine ausgesprochen charmante französische “Mutante” präsentieren.

Doch zunächst gilt es, sich mit der Basis vertraut zu machen, welche später in einem französischen Blech”labor” eine gezielte Mutation erfuhr, die zwar nur begrenzte Verbreitung fand, aber es dennoch mühelos über die Grenze nach Deutschland schaffte.

Hier haben wir ein Exemplar des Citroen B2 in der Standardausführung als Tourenwagen:

Citroen B2; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der ab 1921 gebaute Typ B2 10 HP war der etwas stärkere Nachfolger des ersten Citroen-Automobils überhaupt – des Typs A 10 HP, mit dem die Marke ab 1919 in die Massenfabrikation nach US-Vorbild eingestiegen war.

Mit seinem 1,5 Liter messenden Vierzylinder, der 20 PS leistete, war der Citroen B2 für seine Zeit ausreichend motorisiert – das Spitzentempo von gut 70 km/h wird bei den damaligen Straßenverhältnissen den meisten Käufern vollauf genügt haben.

Die Stärke des Fahrzeugs lag ohnehin in seiner robusten Ausführung und dem im Vergleich zu den in Deutschland vorherrschenden Manufakturautomobilen relativ günstigen Preis. Nur Brennabor fertigte Anfang der 1920er Jahre ebenfalls in industriellem Stil.

Speziell im französisch “verwalteten” – faktisch von Paris wie eine Provinz behandelten – Saarland waren die frühen Citroens ein häufiger Anblick. Wie obiges Foto zeigt, gab es aber auch im Rheinland frühzeitig Anhänger der Marke, lange bevor das Werk in Köln entstand.

Selbst ins ferne München verschlug es einst ein Exemplar des Citroen B2, wie dieses neckische Porträt beweist:

Die junge Dame mit dem leicht verruchten Blick hält sich hier übrigens am Tankdeckel fest, der vor der Windschutzscheibe aus der Karosserie ragte. Dieses Detail verschwand beim auf den ersten Blick ähnlichen Nachfolger, dem Typ B10 (ab 1924 parallel zum B2 gebaut).

Doch am deutschen Markt konnte Citroen nicht nur mit den praktischen Qualitäten und dem attraktiven Preis punkten. Auch für eine wesentlich teurere Spezialausführung fanden sich Käufer – oder zumindest einer.

Die Rede ist vom Citroen B2 Sport “Caddy” (in frz. Quellen meist “Caddy Sport”). Dabei handelte es sich um eine “getunte” Version mit 2 Extra-PS, die einer höheren Verdichtung und einer überarbeiteten Nockenwelle zu verdanken war.

Verkauft wurde dieses Modell mit einer der hinreißendsten Karosserien, die je auf einem Kleinwagenchassis entstanden:

Citroen Typ B2 10 HP “Caddy Sport”; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Dieses schöne Foto hatte mir Leser und Sammlerkollege Klaas Dierks mit Bitte um nähere Bestimmung des Wagens zur Verfügung gestellt. Ihm war die (keineswegs zufällige) Ähnlichkeit der Kühlerpartie mit der Opel 4/12 PS von 1924 aufgefallen.

Der tatsächliche Hersteller – Citroen – war zwar rasch bestimmt, aber die raffinierte Bootsheckkarosserie mit exaltierter Gestaltung der Kotflügel wies klar auf eine Spezialausführung hin.

Diese ist zwar für den Typ “Caddy Sport” gut dokumentiert, doch eine Sache konnte ich noch nicht klären. So wird der Aufbau teilweise direkt dem berühmten Karosseriegestalter Henri Labourdette zugeschrieben.

Die einzige Fotografie eines eindeutig von Labourdette eingekleideten Citroen B2 mit einer derartigen Gestaltung, die ich finden konnte (hier), zeigt doch einige abweichende Details.

So ist denkbar, dass die Karosserie des Citroen B2 “Caddy Sport” letztlich nur von Entwürfen aus dem Hause Labourdette inspiriert war. Vielleicht hatte man auch eine Lizenz zum Bau einer Serie solcher Wagen im flamboyanten Labourdette-Stil erworben.

Um die 300 Stück davon sollen von Citroens kleinem Kadetten – das ist nämlich abseits von Golfplätzen die Bedeutung des Namens – entstanden sein.

Da ich bei französischen Wagen und speziell solchen “Mutationen” nur über punktuelles Wissen verfüge, bin ich für alle weiterführenden Hinweise oder auch Korrekturen dankbar. Bitte dazu die Kommentarfunktion nutzen, damit alle etwas davon haben.

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Was vom Tage übrigblieb: Adler “Diplomat”

“Was vom Tage übrigblieb” – das ist der Titel eines britischen Films, auf den ich am Ende zurückkomme. Er ist zugleich Beschreibung dessen, was ich in meinem Blog zu später Stunde tue – einer mehr oder weniger heimlichen Liebe nachgehen.

Beim Schein der Schreibtischlampe tauche ich in alte Fotos ein, die ich – nicht sonderlich zielgerichtet – am Wegesrande aufgelesen habe oder die mir von anderen Enthusiasten zugespielt wurden und welche vordergründig Automobile der Vorkriegszeit zeigen.

In den besten Fällen handelt es sich um Momentaufnahmen, deren zeitlose Botschaft über das Studium technischer Besonderheiten und Karosseriedetails oder Anmerkungen zum Hersteller und zu den Zeitumständen hinausgeht.

Heute kann ich wieder mit einem Beispiel dafür aufwarten, bei dem man sich zwar mit dem Wagen beschäftigt, das einen aber letztlich mit dem Gedanken konfrontiert, was von einem Tag übrigbleibt – vor allem, wenn man nach langer Zeit darauf zurückblickt.

Was von einem Tag im September 1935 übrigblieb, ist zunächst dieser Ausschnitt eines Fotos, das im bayrischen Bad Tölz entstand und welches als Postkarte zu einem Adressaten ins nahegelegene Benediktbeuern gelangte:

Auf den ersten Blick ist hier wenig zu sehen außer einer massigen Limousine mit gegenläufig öffnenden Türen, angesetztem großen Kofferraum mit zwei Ersatzrädern und auffallendem Dachabschluss.

Doch wird sich das Bild ganz anders darstellen, wenn man einmal ein klareres Foto desselben Wagentyps gesehen hat. Ein solches muss man freilich erst einmal auftreiben. Und dazu muss man erst einmal wissen, was man hier eigentlich vor sich hat.

Ein erster Schlüssel zur Identifikation sind die profilierten Scheibenräder mit großer schmuckloser Radkappe. Diese finden sich identisch bei diesem Adler “Trumpf Junior”:

Adler “Trumpf Junior”; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese charmante Aufnahme des erfolgreichen Frontantriebswagens der Frankfurter Adlerwerke entstand 1934 im Raum Berchtesgaden. Im selben Jahr baute Adler die mächtige 6-Zylinder-Limousine, die wir auf dem eingangs gezeigten Foto sehen.

Sie wurde mit ähnlicher Ganzstahlkarosserie von Ambi-Budd (Berlin) ausgeliefert wie der Hanomag “Sturm” – der ebenfalls einen Sechszylindermotor unter der Haube besaß, welche sich durch fünf seitliche Luftklappen auszeichnete. Selbige verraten sich auf dem Foto durch kleine waagerechte Chromleisten.

Auf folgender Aufnahme sehen wir nun dieses Adler-Modell mit der standesgemäßen Bezeichnung “Diplomat” in derselben repräsentativen Ausführung.

Adler “Diplomat” Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Im hinteren Drittel des Dachs wäre Platz für ein weiteres Fenster gewesen wie beim Hanomag “Sturm”. Doch verzichtete man darauf, sodass die Passagiere im Heck dem Blick von außen verborgen blieben.

Das gibt dem Wagen eine aristokratische Würde, die man bei britischen Automobilen jener Zeit findet. Mir ist kein anderer deutscher Hersteller bekannt, der sich für diesen langgestreckten Dachabschluss entschied, der Vorbilder aus der Kutschenzeit zitiert.

Mit diesem Prachtexemplar, das so nur 1934 gebaut wurde, verabschiedete sich Adler aus der Liga klassisch gestalteter Oberklassefahrzeuge. Die ab 1935 gefertigte Version des “Diplomat” besaß eine weit modernere Karosserie, die nicht dieselbe Noblesse ausstrahlt.

Mit solchem Wissen ausgestattet und mit dem majestätischen Erscheinungsbild des Wagens vor Augen kehren wir zum Gegenstand der heutigen Betrachtung zurück:

Adler “Diplomat”; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sieht man das Fahrzeug mit anderen Augen, was auch mit den beiden jungen Damen zu tun hat, die vom Fotografen gekonnt als lebendiger Kontrapunkt zu der dunklen Masse Blech platziert wurden.

Dass der Abzug, der einst als Postkarte lief, nach so langer Zeit nur mäßig erhalten ist, tut seiner Wirkung keinen Abbruch.

Immer wieder geht der Blick von dem eindrucksvollen Wagen zu den trotz gleicher Kleidung vom Typ her völlig unterschiedlichen Frauen und dann in den Hintergrund, der auch mit Strom- oder Telegrafenleitung idyllische Wirkung entfaltet.

Da diese Postkarte aus dem Heilkurort Bad Tölz verschickt wurde, könnte ich mir vorstellen, dass die beiden Damen zum Personal eines örtlichen Hotels gehörten. Wie es wohl zu der Aufnahme mit dem Adler kam, der vielleicht einem Gast gehörte?

Liefert die Beschriftung der Rückseite einen Hinweis darauf?

Leider ist der Text stark verblasst, mehr konnte ich aus dem Original nicht herausholen. Leser und Sammlerkollege Klaas Dierks lieferte folgende Transkription:

Lieber Hansi,
wie geht es Dir jetzt? Hoffentlich besser. Ist auch zu Haus alles gesund? […] einige Wochen dann ist mit der Sesong Schluß. Aber dann spanne ich aus, bis sich daß …..

Vermutlich wissen wir am Ende nicht mehr als diese kurze Botschaft, die wohl eine der beiden Damen auf dem Foto verfasste, den Tag, an dem das Foto 1935 als Postkarte auf die Reise ging, die Empfängeradresse in Benediktbeuren und den Typ des Adler-Automobils, das darauf abgebildet ist.

Was vom Tage übrigblieb, an dem dieses Dokument entstand, ist somit am Ende ein verblassendes Stück Papier. Damit verbindet sich die zeitlose Frage, was vom Tag übrigbleibt, der bedeutend erscheint, während wir ihn erleben, der aber im Dunkel entschwindet, wenn er einmal zum Gestern und Früher geworden ist.

Dieselbe Frage – auf das gesamte Dasein angewendet – behandelt der britische Film “The remains of the day” von 1993. Er ist Reflektion des Daseins eines Butlers in der britischen Aristokratie, der in seinen späteren Jahren mit den verpassten – oder vermiedenen – Pfaden konfrontiert wird, die sein Dasein hätte nehmen können.

Großartig ist folgende Sequenz, in der Miss Kenton, die Haushälterin des Adelssitzes Darlington Hall, gespielt von Emma Thompson, den von Anthony Hopkins verkörperten Butler bedrängt, ihr zu verraten, was er in der Zeit liest, die von seinem Tag übrigbleibt.

“Lesen Sie ein verwegenes Buch”?“Glauben Sie, dass es verwegene Bücher im Regal seiner Lordschaft gibt?”

“Woher soll ich das wissen? Was ist das für ein Buch? Lassen Sie es mich sehen!” – “Bitte lassen Sie mich alleine, Miss Kenton.”

“Warum zeigen Sie mir nicht Ihr Buch?” – “Jetzt ist die Zeit, die ich für mich habe. Sie stören mich darin.”

“Wirklich? … Was steht denn in dem Buch? Bitte, lassen Sie es mich sehen.… Wollen Sie mich vielleicht vor etwas schützen? Würde es mich schockieren? …Lassen Sie es mich sehen! …Oh, es ist ja gar nichts Skandalöses. Das ist ja bloß ein sentimentaler alter Liebesroman”

Filmquelle: YouTube.com; hochgeladen von Movieclips

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Limousine im XXL-Format: Protos Typ C1 10/45 PS

Gerade gestern erst habe ich einen typischen deutschen Tourenwagen der ersten Hälfte der 1920er mit Spitzkühler vorgestellt – einen Mercedes “Knight” 16/45 PS.

Wenn heute ein weiteres Spitzkühlermodell folgt, lasse ich dennoch die Zeit unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg hinter mir, die im deutschsprachigen Raum von sehr konservativer Gestaltung bei Automobilen geprägt war.

Ab Mitte der 1920er Jahre verschwand bei den meisten Herstellern der noch aus der Vorkriegszeit stammende Spitzkühler – zumindest in seiner ausgeprägtesten Form, zugleich kam eine sehr nüchterne, mitunter gesichtslose Gestaltung auf.

Eine markante Ausnahme von diesem Trend, der das Diktat des Funktionalismus widerspiegelte, welcher sich speziell in der neuen Architektur bemerkbar machte, waren die Wagen der alterwürdigen Berliner Marke Protos.

Nicht nur hielt man auch über das Jahr 1925 hinaus noch am Spitzkühler fest – man beließ es auch bei dem einzigartigen Ornament an dessen Oberteil, das Einflüssen des Jugendstils folgte. Damit erhielten Protos-Wagen ein unverwechselbares Gesicht:

Protos Typ C1 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses Prachtexemplar habe ich schon vorgestellt – es handelt sich um den 1924 eingeführten Nachfolger des Protos Typ C 10/30 PS – das Modell C1 10/45 PS.

Dessen beträchtliche Mehrleistung war unter anderem einem neuen Zylinderkopf mit über den Zylindern hängend angebrachten Ventilen zu verdanken. Ab 1926 besaß dieses verbesserte Modell außerdem Vierradbremsen.

Äußerlich zu unterscheiden war der Protos C1 10/45 PS vom Vorgänger nur anhand der nunmehr zehn statt acht Luftschlitze pro Haubenseite, die zudem deutlich höher waren.

Auf obigem Foto sind die genannten Details sehr gut zu erkennen, die den Protos zu einem unverwechselbaren Anblick machten – nicht selbstverständlich zu jener Zeit. Konventionell blieben unterdessen die Aufbauten als offener Tourenwagen oder wie hier als Limousine.

Die geschlossene Karosserie verwandelte den Protos in eine kolossale Erscheinung, die den Tourer deutlich in den Schatten stellte.

Nun könnte man einwenden, dass der Aufbau auf obigem Foto nur deshalb so opulent wirkt, da der Fahrer wie die meisten Menschen in der Vorkriegszeit deutlich kleiner war als unsereins im 21. Jahrhundert.

Diese Annahme lässt sich leicht widerlegen – und zwar anhand eines weiteren großartigen Fotos einer ganz ähnlichen Limousine auf Basis des Protos C1 10/45 PS, das ich Matthias Schmidt aus Dresden verdanke:

Protos Typ C1 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Bis auf ein Detail scheint dieser Protos vollkommen mit dem Wagen auf dem ersten Foto übereinzustimmen.

Hier ist der ausgeprägte Spitzkühler jedoch einer stark abgeschwächten Variante gewichen, die typisch für die späte Ausführung des Protos C1 10/45 PS war, die 1926/27 gebaut wurde.

Bemerkenswert ist hier, dass der Kühler wie meist bei den Protos-Wagen der 1920er Jahre in Wagenfarbe lackiert war. Nur vereinzelt finden sich Abbildungen, die einen glänzenden Messingkühler zeigen.

Das ist merkwürdig, da der Trend damals allgemein zu vermehrtem Einsatz von vernickelten und später verchromten Glanzteilen an Automobilen ging. Zudem ist die expressive Kühlergestaltung in der unlackierten Version weit wirkungsvoller.

Das lässt sich anhand dieser Aufnahme des Vorgängertyps Protos C 10/30 PS nachvollziehen, die ebenfalls die Sammlung von Matthias Schmidt ziert:

Protos Typ C 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt

Wie es scheint, konnte der Käufer zwischen einer polierten Messingausführung und einem lackierten Kühlergehäuse wählen – wobei letztere der Standard gewesen zu scheint.

Vielleicht lenkte aus Sicht vieler Käufern die hochglänzende Ausführung den Blick zu sehr auf den nach modischen Maßstäben nicht mehr zeitgemäß gestalteten Kühler, weshalb man die lackierte Version bevorzugte.

Für mich wäre dagegen die Wahl zugunsten der Messingvariante ausgefallen, auch wenn sie zusätzlichen Putzaufwand bedeutet hätte, da das Metall rasch anzulaufen pflegt. Vielleicht bot Protos aber bereits auch eine Vernickelung an, die unempfindlicher war.

Der Besitzer der Protos-Limousine des Typs C1 10/45 PS auf dem Foto von Matthias Schmidt hatte sich indessen für die lackierte Variante entschieden, vielleicht weil er ein zu Nüchternheit tendierender Charakter war:

Dass wir hier wohl den Besitzer des Wagens sehen, dafür spricht das Fehlen der typischen Fahrermütze und einer zünftigen Lederjacke, die Schutz vor Regen und Öl bei Pannen bot.

Die lässige – bewusst falsche – Knöpfung der Anzugjacke findet man häufig bei betuchten Herren der Vorkriegszeit auch in Deutschland, obwohl sie vor allem in England gängig war.

Der entschlossene Blick dieses Protos-Besitzers geht in eine unbestimmte Ferne, während ein leichtes Lächeln die Mundwinkel umspielt. Leider wissen wir nichts über den Herrn und die Basis seines unübersehbaren Wohlstands.

Für die Limousinen-Ausführung des Typs C1 10/45 PS waren 13.000 Reichsmark aufzubringen – das entsprach 1926 dem achtfachen Jahresgehalt eines durchschnittlichen sozialversicherungspflichtigen Arbeitnehmers im Deutschen Reich!

Heute verdient ein sozialversicherungspflichtiger Arbeitnehmer im Schnitt 41.541 EUR pro Jahr – das Achtfache davon beträgt über 330.000 EUR. Dies mag trotz veränderter Preise von Inputfaktoren und gestiegener Produktivität den sozialen Rang veranschaulichen, der mit dem Besitz eines solchen Wagens verbunden war.

Kolossal war aber nicht nur der Preis dieses Wagens, auch seine Dimensionen entsprachen der Konfektionsgröße XXL. Denn der mit sich und der Welt zufriedene Protos-Eigner war keineswegs klein, er dürfte an die 1,80 m gemessen haben. Bloß sein Automobil überragte ihn mit in der Literatur überlieferten 2,10 m Höhe um Haupteslänge.

Dagegen sind selbst die in unseren Tagen bei einigen – längst nicht den meisten – Käufern so beliebten SUVs noch fast moderat dimensioniert. Ich selbst bevorzuge zwar bei Nachkriegsfahrzeugen die niedrige Silhouette, finde aber bei Vorkriegsmodellen die gänzlich anderen, teilweise ehrfuchtgebietenden Proportionen vollkommen angemessen.

Wie müssen diese Fahrzeuge erst auf Zeitgenossen gewirkt haben, die seinerzeit selbst meist kein XXL-Format aufwiesen, sondern eher klein und schmächtig waren?

Sie dürften sich ganz klein gefühlt haben neben diesen mächtigen Maschinen – so wie dieser junge Mann neben einem deutschen Tourer, den ich noch nicht identifizieren konnte:

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Ritter der Landstraße: Mercedes “Knight” 16/45 PS

Heute kommen die Freunde der Mercedes-Wagen aus der Zeit vor dem Zusammenschluss mit Benz (1926) auf ihre Kosten – zwar mit keiner großen Rarität, doch immerhin mit einem Exemplar, das etwas rätselhaft erscheint.

Die Rede ist vom Typ 16/45 PS mit “Knight”-Hülsenschiebermotor, der von 1910 bis etwa 1924 in mehreren tausend Exemplaren entstand.

Vor den Lohn haben die Götter bekanntlich den Schweiß gesetzt. Dieser Weisheit des altgriechischen Schriftstellers Hesiod folgend sei dem Genuss des “Stars” des heutigen Blog-Eintrags eine kurze Abhandlung über den “Knight”-Motor vorangestellt.

Im Jahr 1907 hatte der Amerikaner Charles Knight mit einem neuartigen Motorenkonzept Furore gemacht, das für den Gaswechsel statt eines mechanisch anfälligen und geräuschvollen Ventiltriebs fast lautlos arbeitende Hülsenschieber vorsah.

An sich war die Idee genial: Beim Motor nach Knight-Patent war der Kolben von zwei ebenfalls auf- und ablaufenden Hülsen umgeben, die Öffnungen für das Frischgas und das Abgas besaßen, welche genau im richtigen Moment freigegeben wurden.

Hier gab es keinerlei mechanische Geräusche wie das Ticken der Ventile mehr. Die in der Frühzeit des Automobils noch häufigen Ventilfederbrüche blieben ebenfalls aus. Der unheimlich ruhige Lauf der “Knight”-Motoren sorgte international für Begeisterung.

So erwirbt auch Daimler im Jahr 1910 eine Lizenz für den Bau von Motoren nach “Knight”-Patent und bringt im selben Jahr das Modell 16/40 PS auf den Markt. Ein Exemplar dieses Typs aus dem Jahr 1912 war 2019 bei den Classic Days auf Schloss Dyck zu bewundern:

Mercedes “Knight” Typ 16/40 PS; Bildrechte: Michael Schlenger

Dieses Fahrzeug wurde ursprünglich an den Besitzer einer Kaffeeplantage in Brasilien ausgeliefert und kehrte erst in den 1980er Jahren nach Europa zurück. Leider wurden sämtliche Messingteile später vergoldet, damit sie nicht mehr anlaufen.

Das vulgär wirkende Glitzerergebnis bleibt einem im Schwarz-Weiß-Modus erspart. Erkennbar bleiben indessen die vier im Vorderteil der Motorhaube angebrachten Luftschlitze, über die die Abwärme des Motors nach außen abgegeben wurde.

Dieses Detail findet sich bei nahezu allen Mercedes “Knight” dieses Typs bis in die 1920er Jahre – mit Betonung auf “nahezu”, denn offenbar gab es Ausnahmen…

Bevor wir uns einer solchen zuwenden, möchte ich die Gelegenheit nutzen, das Foto eines weiteren Mercedes “Knight” zu zeigen, auf dem paradoxerweise nichts zu sehen ist, was eine solche Identifikation erlaubt:

Fahrer eines Mercedes “Knight”; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wo ist hier ein “Knight” zu erkennen, mag man sich jetzt fragen. Nun, “Knight” ist ein durchaus schillernder Begriff und tatsächlich haben wir es mit einem solchen zu tun.

Das englische Wort “Knight” ist eng mit dem deutschen “Knecht” verwandt, wenngleich es etwas scheinbar Gegensätzliches bezeichnet. Ein “Knight” ist im Englischen doch ein “Ritter”, also denkbar weit entfernt vom “Knecht”, möchte man meinen.

Nicht ganz. Ein “Knight” ist auf der Insel die niedrigste Adelsstufe, die historisch in einem ausgeprägten Dienstverhältnis gegenüber dem König stand.

Diese Unterordnung hat sich im Englischen erhalten, obwohl es sich von Aussprache und Bedeutung oft von den germanischen Wurzeln entfernt hat.

Dass man Ritter und Knecht zugleich sein kann – je nach Perspektive, das ist auch die Botschaft des obigen Fotos mit dem Chauffeur. Denn der war einerseits ausweislich seiner Fahrermütze der Untergebene des eigentlichen Autobesitzers, andererseits war er ein Ritter der Landstraße und souveräner Herrscher über das Automobil selbst.

Speziell einen Mercedes mit “Knight”-Motor vertraute man nur einem Meister seines Fachs an, da der Antrieb nach besonders sorgfältiger Wartung und sensibler Fahrweise verlangte.

Die Nachteile des auf dem Papier genialen Motorenkonzepts waren nämlich die Abhängigkeit von perfekter Schmierung zur Vermeidung klemmender Hülsenschieber und ein disziplinierter Gasfuß, weil Knight-Motoren keine hohen Drehzahlen vertragen.

Soweit so klar – bleibt die Frage, woran man erkennt, dass der so vorteilhaft getroffene Fahrer tatsächlich einen “Knight”-Mercedes fuhr. Die Antwort ist einfach: weil es vor langer Zeit jemand auf der Rückseite des Abzugs vermerkt hat…

Letztlich helfen uns beide bisher gezeigten Fotos – so reizvoll sie jeweils sein mögen – bei der Identifikation eines “Knight”-Mercedes nicht weiter. Oder würden Sie spontan dieses Auto als solchen identifizieren?

Mercedes “Knight” Typ 16/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Für die eingefleischten Mercedes-Freunde ist der Fall natürlich klar – das muss ein Daimler der frühen 1920er Jahre sein – erkennt man doch am Spitzkühler!

Gemach. Ich habe in solchen Fällen noch einige andere deutsche Marken auf dem Radar, die damals mit ganz ähnlichen Kühlern ausgestattet waren – Adler, Brennabor, Dürkopp, Elite, Phänomen, Rex-Simplex und Simson sind einige Beispiele.

Dummerweise ist weder auf dem Kühler noch auf den Radnaben irgendetwas zu erkennen, was auf Hersteller oder Marke hinweisen würde. Auffallend ist bloß, dass das Kühlergitter vorn ein kleines Stück über den oberen Abschluss des Kühlergehäuses hinausragt:

Erst durch Zufall – nämlich beim x-ten Durchblättern der Literatur zu deutschen Vorkriegswagen in einem ganz anderen Fall blieb mein Auge an einem Mercedes “Knight” der frühen 1920er Jahre hängen, der genau dieses Detail am Kühler aufwies.

Stutzig machte mich indessen, dass kein Mercedes jener Zeit über die durchlaufende Reihe ausgeprägter, relativ weit auseinanderliegender Luftschlitze besaß. Allerdings fanden sich auf sehr vielen Aufnahmen von Mercedes “Knight”-Wagen nach dem 1. Weltkrieg die drei sehr kleinen zusätzlichen Schlitze im Seitenteil hinter der Motorhaube.

Auch die übrige Karosserie unterstützte am Ende die Identifikation als Mercedes “Knight” 16/45 PS, obwohl der Part hinter der Windschutzscheibe bis Mitte der 1920er Jahre meist marken- und typunabhängig gestaltet war.

Hier sehen wir aber genau eine solche Tourenwagenkarosserie, wie sie sich auf zahlreichen Fotos des Mercedes “Knight” 16/45 PS bis ins kleinste Detail wiederfindet:

Zwar folgen die Linien des Aufbaus grundsätzlich den seinerzeit maßgeblichen Entwürfen von Ernst Neumann-Neander, doch sind sie hinreichend individuell, um als Mercedes-typisch angesprochen zu werden.

Das gilt speziell für die Proportionen der Türen, aber auch den vorn und oben abgerundeten Kasten vor dem hinteren Kotflügel, welcher die Blattfederaufnahme kaschierte und der über einen Deckel zwecks Schmierung derselben verfügte.

Man findet das genau so auf diversen Fotos des trotz kapriziöser Technik erstaunlich langlebigen Mercedes-Modells “Knight” 16/45 PS (zuletzt 16/50 PS).

Auf obigem Ausschnitt sehen wir neben einigen “Rittern” der Landstraße, die sich für die Beherrschung eines Automobils zu fein waren oder sich diese mangels Masse nicht leisten konnten, auch zwei “Dames” – die englische Entsprechung eines Knights bzw. Sirs.

So haben wir am Ende wieder etwas für die Völkerverständigung getan, wir haben gelernt, was Ritter und Knecht verbindet und einmal mehr festgestellt: Die Literatur zu deutschen Vorkriegsautos bildet die einstige Realität nur sehr oberflächlich ab.

Bei meinen Recherchen habe ich neben Mercedes-Modellen des Typs “Knight” 16/45 PS mit vier Luftschlitzen im Vorderteil der Motorhaube auch eines gefunden, das ganz ohne solche Entlüftungsschlitze auskommt (es steht im Technik-Museum Speyer).

Bloß ein Exemplar mit durchgehender Reihe an Luftschlitzen in genau der Ausführung wie auf dem heute präsentierten Foto – das scheint ein “Novum” zu sein, wenn man das von solch einem alten Ritter der Landstraße überhaupt sagen kann…

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War einst auch in Schlesien zuhaus: Stoewer “Greif”

Heute ist in meinem Blog wieder ein deutsches Vorkriegsauto an der Reihe, das trotz geringer Stückzahlen (rund 4.000) auf alten Fotos eine erstaunliche Präsenz entfaltet.

Die Rede ist vom Stoewer “Greif”, mit dem die Traditionsmarke aus Stettin ab 1935 den “Röhr Junior” weiterentwickelte, den die zuvor untergegangene Marke aus dem hessischen Ober-Ramstadt nach Lizenz von Tatra gebaut hatte.

Die Vorgeschichte und die technischen Details des Stoewer “Greif” habe ich vor längerer Zeit umfassend hier dargestellt. Daher beschränke ich mich heute darauf, einige “neue” Bilder dieses Typs Revue passieren zu lassen.

Sie erzählen davon, wo man überall dem Stoewer “Greif” aus dem fernen Stettin begegnen konnte. Einer der Orte gibt zum Schluss Anlass für eine persönliche Geschichte – Liegnitz in Schlesien. Diese Geschichte endet nach dem 2. Weltkrieg in Hessen.

Wie es der Zufall will, entstand dort auch das jüngste Foto eines Stoewer “Greif” aus meiner Sammlung, welcher in der amerikanischen Besatzungszone Hessen trotz einiger unübersehbarer Spuren der Zeit ein geschätztes Familienmitglied war:

Stoewer “Greif”; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Stoewer wird der matten Lackierung nach zu urteilen im Krieg bei einer Militäreinheit im Einsatz gewesen sein. Danach erhielt er auf heute meist nicht mehr nachvollziehbaren Wegen neue Papiere und neue Besitzer.

Die wechselhafte Geschichte verband den Wagen vielleicht mit seinen neuen Eignern, die hier bei einem Ausflug ins Grüne posieren. Mit dem kleinen Stoewer war diese Familie auf jeden Fall am oberen Ende der sozialen Stufenleiter angesiedelt.

Ganz gleich, was die Damen hinter sich hatten, wuchsen die beiden Buben in materiell gesicherten Verhältnissen auf. Nicht vergessen darf man dabei, dass der Besitz eines Autos für den Durchschnittsbürger hierzulande erst in den 1960er Jahren in Reichweite kam.

Der Stoewer mit seinem 34 PS-Boxermotor, Hydraulikbremsen und gutem Platzangebot war bis dahin trotz des Alters seiner Konstruktion ohne Weiteres konkurrenzfähig mit dem Volkswagen – der erst nach dem Krieg eine zivile Karriere machen sollte.

Das Modell war bei Stoewer optisch wie technisch überarbeitet worden und hatte mit dem ursprünglichen Tatra 75 nur noch das Grundkonzept gemein. Mit der windschnittigen Frontpartie und den tropfenförmigen Scheinwerfern wirkte er zweifellos sehr adrett:

Stoewer Greif; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Dieses Exemplar war laut Nummernschild in Berlin zuhause, wo in automobiler Hinsicht alles versammelt war, was es an in- und ausländischen Exoten in Deutschland zu kaufen gab.

Hier ist übrigens das hintere Ausstellfenster zu sehen, das auch an dem in Hessen zugelassenen Stoewer “Greif” ansatzweise zu erkennen ist. Dieses Detail verschwand bei der weiteren Modellpflege ebenso wie der Namenszusatz “Junior”, den man noch von Röhr übernommen hatte.

Ab 1937 prangte auf dem eleganten Kühler nur noch der Schriftzug “Stoewer Greif” – passend zum Wappentier von Pommern und dem Markenemblem der Stettiner Marke.

Recht gut zu erkennen ist dies auf folgender Aufnahme:

Stoewer Greif; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese hübsche Cabrio-Limousine war ausweislich des Nummernschilds im badischen Landkreis Pforzheim zugelassen.

Trotz der insgesamt recht geringen Zahl an Stoewer-Wagen des Typs Greif sieht man daran, wie verbreitet diese doch in der Fläche waren – dank eines über Jahrzehnte aufgebauten Händernetzes.

Auch wenn die Gebrüder Stoewer zu dem Zeitpunkt das lange von ihnen persönlich geführte Unternehmen verlassen hatten, zehrte die Marke immer noch von dem ausgezeichneten Ruf, der ihrem Engagement und Können zu verdanken war.

So findet man den Stoewer “Greif” auch auf Fotos aus Deutschlands Osten – hier eines aufgenommen 1937 im niederschlesischen Liegnitz:

Stoewer Greif; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die junge Dame mit der sportlichen Figur posiert hier vermutlich neben dem Wagen ihres Vaters, der – etwas fülliger – schemenhaft hinter dem Lenkrad zu erkennen ist.

Da der Stoewer trotz seiner kompakten Ausmaße nicht gerade billig war, konnten ihn sich nur betuchte Bürger leisten. In Liegnitz – immerhin nach Breslau die zweitgrößte Stadt Schlesiens mit eigenem Autobahnanschluss – kamen dafür vor allem die gutsituierten Bewohner der Villengebiete in Betracht, die nach der Jahrhundertwende entstanden waren.

Doch der Wohlstand sollte schon bald der Sorge um die blanke Existenz weichen. Zwar war Liegnitz im Krieg von Bombenangriffen verschont geblieben, doch näherte sich im Januar 1945 von Osten unaufhaltsam die Front.

Der jungen Dame muss es noch vor der Besetzung der Stadt am 8. Februar gelungen sein, mit ein paar Habseligkeiten zu entkommen, sonst hätte es diese Aufnahme nicht ins 21. Jahrhundert geschafft. Eventuell leistete dabei der Stoewer der Familie einen letzten Dienst, mit Benzin aus Sonderzuteilungen, das man aufbewahrt hatte.

Zur gleichen Zeit packte in der Liegnitzer Baumgartstraße ein Mädchen seinen Koffer. “Nimm’ nur das Nötigste mit, wir sind bestimmt nicht lange weg”, rief die Mutter von nebenan, als sie die Militärpistole aus dem Schreibtisch nahm, die ihr Sohn beim letzten Fronturlaub wohlweislich dagelassen hatte.

Kurz zuvor hatte sich eine ältere Nachbarin im Haus erschossen – sie war Kriegerwitwe ohne Verwandte und sah sich mit einem ausweglosen Schicksal konfrontiert.

“Denk’ an die Schulzeugnisse, das Sparbuch und Dein Fotoalbum. Sonst nur warme Kleidung und Wäsche zum Wechseln.”

Kurze Zeit später fiel die Haustür ins Schloss. Die Mutter drehte den Schlüssel, prüfte nochmals den festen Sitz der Tür. Dann ging es die Treppe hinunter und zu Fuß zum Bahnhof, wie so oft, wenn man auf Verwandtenbesuch nach Breslau oder Berlin fuhr.

Diesmal war es anders. Irgendwo endete die Fahrt des mit Frauen, Kindern und alten Leuten vollgestopften Zuges. “Nach Westen, unbedingt nach Westen”, hieß es.

Von nun an ging es zu Fuß weiter, Hinweisen von Verwandten vor der Flucht und Gerüchten folgend. Während sich Mutter und Tochter über Böhmen nach Bayern durchschlugen, sorgten unterwegs wildfremde Mitmenschen für Unterkunft und Essen. Als die beiden den amerikanischen Linien näherkamen, vergruben sie die Pistole in einem Waldstück.

Irgendwo auf diesem Weg in ein neues Leben – auf dem das Mädchen das Schlafen in der Badewanne und das Hüten von Kühen auf einem bayrischen Bauernhof kennenlernen durfte – erlebte es am 15. März 1945 seinen 14. Geburtstag. Das Mädchen war meine Mutter – genau heute wäre sie 90 Jahre alt geworden.

Die in alle Winde verstreute Familie fand sich nach einiger Zeit in Stuttgart wieder. Das Mädchen aus Liegnitz baute dort sein Abitur, studierte Fremdsprachen und absolvierte eine ansehnliche Karriere, bis sie selbst Mutter wurde.

Den Rest ihres Lebens verbrachte sie in äußerlich soliden Verhältnissen in der hessischen Wetterau, doch heimisch und glücklich geworden ist sie dort nicht. Den Verlust des Zuhauses der Kindheit hat sie nie verwunden, wie viele ihrer Generation auf allen Seiten.

Heute leben kaum noch Zeitgenossen, die sich daran erinnern. Deshalb sind Vorkriegswagen nicht irgendwelche alten Autos. Sie sind die letzten Zeugen jener Zeit und mit jedem überlebenden Fahrzeug sind Schicksale verbunden, von denen wir nur das wenige wissen, was Teil der Familiengeschichte wurde – längst nicht alles wurde erzählt….

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Triumph der Klassik: BMW 327

Der Begriff der Klassik ist vielschichtig – je nach dem, auf welche Sphäre er sich bezieht, hat er unterschiedliche Facetten.

Mal ist es das Klare, Schnörkellose, den Exzess Vermeidende – mal das Bleibende, Grundsätzliche, der Mode Entrückte – mal das Kluge, Weise, überzeitlich Wahre.

Ein jeder verbindet etwas mit klassischer Baukunst, klassischer Musik oder Dichtung, klassischer Eleganz und klassischer Schönheit. Selbst wenn man es vielleicht nicht sonderlich schätzt, weiß man: Das Klassische ist etwas Edles, dem Alltag Enthobenes.

Heute habe ich Gelegenheit, das Thema des Klassischen durch die Zeiten zu verfolgen – anhand eines BMWs. Das mag abwegig klingen, wenn man die teils monströsen Hervorbringungen der Marke in jüngster Zeit betrachtet.

Doch geht es heute um “den” klassischen BMW schlechthin, für mich das ikonischste Produkt der Marke mit dem Propelleremblem auf vier Rädern:

BMW 327 in Verona; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier wirkt er fast verloren – der ab 1937 gebaute BMW 327 in der Cabrioversion – aufgenommen im Jahr 1939 vor der römischen Arena in Verona – einer Stadt voller Relikte der klassischen Antike, die zugleich voller modernen Lebens ist.

Ein Paar aus München war einst mit dem feinen BMW über die Alpen gekommen und genoss in Verona den Frühling 1939, ohne zu wissen, dass es der letzte vor Beginn des Zweiten Weltkriegs sein würde.

Die überhaupt nicht teutonisch schwerfälligen Linien des Wagens fanden auch einheimische Bewunderer wie diesen Flaneur – der mit perfekt sitzendem leichten Anzug selbst eine klassische Erscheinung war:

Diese Eleganz erreichte man bei BMW nur noch einmal – mit dem legendären 507 der 1950er Jahre, der es mit den Kreationen italienischer Blechcouturiers aufnehmen konnte.

Doch dazwischen lag der Zweite Weltkrieg und ein Kulturbruch, von dem sich Europa nie wieder ganz erholt hat. Fünf Jahre, nachdem dieser BMW Verona seinen Besuch abgestattet hatte, hinterließen andere deutsche “Gäste” in der Stadt ihre Spuren.

Auf dem Rückzug vor den unaufhaltsam nach Norden vorrückenden Truppen der Alliierten verließen deutsche Wehrmachtseinheiten im April 1945 Verona und sprengten bei der Gelegenheit die Mittelbögen der im Kern römischen “Ponte Pietra” über die Etsch:

Ponte Pietra in Verona im Jahr 2013, Bildrechte: Michael Schlenger

Die Brücke wurde in den 1950er Jahren in der ursprünglichen Form wieder aufgebaut, wobei das Baumaterial erkennen lässt, welche Teile antik sind und welche rekonstruiert.

Das Fortleben der klassischen Schönheit dieser Steinbrücke ist der erste Beleg für den “Triumph der Klassik”, welcher der Titel meines heutigen Blog-Eintrag ist.

Wer sich mit antiken Brücken beschäftigt, weiß dass diese auch nach 2.000 Jahren oft noch modernem Verkehr gewachsen sind – ganz nach dem Motto des römischen Baumeisters Vitruv, wonach ein Bauwerk solide, funktionell und schön gestaltet sein muss.

Die Moderne beschränkt sich meist auf’s Funktionelle mit dem Ergebnis, dass Brücken der Neuzeit nur selten erbaulich sind und noch seltener dauerhaft. Das gilt speziell für den Pfusch bei öffentlichen Bauten der 1970er Jahre, der massenhaft Abrisse nach sich zieht.

Doch bis man so weit heruntergekommen war, dauerte es einige Zeit. Erst musste man das Land nach dem Krieg wiederaufbauen, bevor man es nach radikalem Bruch mit allen Traditionen – auch den positiven – erneut zugrunderichten konnte.

Noch in den frühen Nachkriegsjahren waren die alten Standards lebendig – so war es in einer gewöhnlichen Autowerkstatt möglich, einem in die Jahre gekommenen und etwas mitgenommenen BMW ein zweites Leben einzuhauchen – technisch wie blechseitig:

BMW 327/28 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier erstrahlt ein BMW in derselben Cabrioversion wie der einst in Verona aufgenommene Wagen des Typs 327 in neuem Glanz.

Das Kennzeichen aus der britischen Besatzungszone Niedersachsen verweist auf die späten 1940er bzw. frühen 1950er Jahre. Etwas Besseres als dieses Fahrzeug war am deutschen Markt neu praktisch nicht zu bekommen.

Mit nachgerüsteten Blinkern statt der bisherigen Winker ausgestattet war dieser BMW 327/28 mit seinem sportlichen Sechszylindermotor mit 80 PS immer noch konkurrenzfähig – und natürlich wunderschön. Vom sonst optisch identischen BMW 327 mit 55 PS unterscheiden ihn die zusätzlichen Luftschlitze in der Oberseite der Motorhaube.

Überspringen wir die nächsten zwanzig Jahre des Wirtschaftswunders, dann begegnen wir einem weiteren Überlebenden dieses wohl klassischsten BMW in den 1970er Jahren:

BMW 327 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Man sieht hier nun Vertreter der Nachkriegsgeneration in merkwürdigen Posen um dieses klassische Fahrzeug herumstreunen, als ahnten sie, dass es etwas Besonderes ist – doch scheinen sie damit nichts Rechtes anzufangen wissen.

Der BMW trägt dieses Defilée moderner Zeitgenossen mit der stoischen Ruhe des klassischen Philosophen, der weiß, dass man seine Lehren einst wieder schätzen wird.

Wer wie manche Geschichtsphilosophen davon überzeugt ist, dass sich das Weltgeschehen in Zyklen vollzieht, in denen es nicht immer nur vorwärtsgeht, sondern bisweilen auch retour, den überrascht nicht die Renaissance dieser klassischen Wagen in der Gegenwart.

Ein besonders schönes Beispiel für den Triumph der Klassik über den Zeitgeist habe ich vor einigen Jahren anhand eines anderen BMW dieses Typs dokumentieren dürfen. Anlass dazu gab folgende Aufnahme eines 327 in Coupé-Ausführung aus dem 2. Weltkrieg:

BMW 327 Coupé; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger (heute im Besitz von Felix Bühler)

Die Geschichte dieses sehr speziellen BMW ist hier nachzulesen – sie ist vielleicht bislang mein bester Beleg für den “Triumph der Klassik” in automobiler Hinsicht.

Losgelöst von der Sphäre des klassischen Automobils glaube ich, dass gewisse Werte, Errungenschaften und Schöpfungen dem ewigen Anbranden des Zeitgeistes widerstehen und selbst Phasen überdauern können, in denen es wenig Anlass zur Zuversicht gibt.

In mancher Hinsicht mag eine Renaissance des Klassischen indessen länger auf sich warten lassen, als das bei Vorkriegswagen der Fall ist…

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Oldtimer vor 100 Jahren: Ein Loreley 5/12 PS

Wir schreiben das Jahr 2021. Vor 100 Jahren waren “die 20er Jahre” noch ebenso jung wie die heutigen, und die Zukunft war (und ist) ungewiss – zum Glück.

Die geschichtliche Entwicklung ist eine nachträgliche Erfindung der Historiker – oder freundlicher ausgedrückt: der Versuch einer Erklärung von Abläufen im nachhinein.

Gäbe es dagegen so etwas wie historische Gesetzmäßigkeiten, könnte jemand schon heute sagen, wie “unsere 20er Jahre” verlaufen werden. Dazu müsste man als erstes wissen, wann und wie wir aus dem Corona-Schlamassel wieder herauskommen…

Sich wiederholende Muster oder Zyklen mag es geben, aber ihre genaue Ausprägung hängt wie der Ausgang von Feldzügen oft von Kleinigkeiten ab – Wetter, Fehlentscheidungen, Bluffs, Verrat, purem Glück.

So standen vor rund 100 Jahren auch diese Herrschaften erwartungsvoll, aber auch ein wenig ratlos herum – was mochte da auf sie zukommen?

Loreley Typ A 5/12 PS oder L4A 6/18 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Nun wird jeder Kenner von Vorkriegswagen gleich feststellen, dass das Auto auf diesem Foto (aus Sammlung Klaas Dierks) weit mehr als 100 Jahre auf dem Buckel hat.

Das war kein Wagen der frühen 1920er Jahre, sondern ein deutlich vor dem 1. Weltkrieg entstandenes Gefährt – darüber können auch die nachgerüsteten elektrischen Scheinwerfer nicht hinwegtäuschen.

Wie gelangt man zu einer solchen Einschätzung? Auf den ersten Blick klar ist ja nur, dass wir einen Wagen der Marke Loreley aus dem thüringischen Arnstadt vor uns haben.

Wir kommen dem Entstehungsjahr dadurch näher, dass wir nach Archäologenmanier einen Vergleich mit datierten ähnlichen Exemplaren vornehmen. In einem Faksimile-Prospekt aus meiner Sammlung, der von 1913 stammt, findet sich folgende Kühlerform bei Loreley:

Loreley-Prospekt, Faksimile aus dem Archiv-Verlag; Exemplar aus Sammlung Michael Schlenger

Eine solche birnenförmige Gestaltung des Kühlergehäuses taucht bei verschiedenen Marken kurz vor dem 1. Weltkrieg auf, etwa ab 1912. Davor dominierten Kühlergehäuse mit eckigen Formen oder zumindest eckigem Ausschnitt der Kühleroberfläche.

“Unser” Loreley-Wagen ist eindeutig in eine frühere Phase zu datieren.

Dass er frühestens 1909/10 entstanden sein kann, das verrät ein Detail auf dem Foto, welches regelmäßigen Lesern meines Blogs unter verschiedenen Bezeichnungen geläufig ist: Windkappe, Windlauf oder auch Torpedo.

Dabei handelt es sich um den strömungsgünstigen Übergang von der annähernd waagerecht verlaufenden Motorhaube zur mehr oder weniger senkrechten Frontscheibe. Diese Partie findet sich ab 1908/09 bei Sportmodellen und hält ab spätestens 1910 auf breiter Front Einzug auch bei Serienaufbauten – zumindest im deutschsprachigen Raum:

Neben dem rechten Arm des Herrn in doppelreihiger Fahrerjacke ist noch ein Teil dieses für die Datierung so wichtigen Bauteils zu sehen.

So lässt sich dieser Loreley zeitlich auf etwa 1909-1911 eingrenzen. In diesem Zeitraum kommt vor allem das kompakte Modell A 5/12 PS in Betracht, dessen kurzer Radstand von 2,10 Metern gut zu den Proportionen des abgebildeten Fahrzeugs passt.

Daneben gab es auch einen Sechszylindertyp 6/18 PS – nebenbei war Deutschlands erster Wagen mit 6-Zylindermotor ein Loreley von 1907 – der jedoch deutlich länger war. Der kleinere Typ A 5/12 PS wurde 1909-1911 gebaut, also genau im vermuteten Zeitfenster.

Mangels Vergleichsmaterial – die Marke gehört zu den weniger gut dokumentierten hierzulande – muss es bei einer Ansprache “vermutlich Typ A 5/12 PS um 1910” bleiben.

Nachtrag: Leser Jens Gleichmann weist darauf hin, dass es auch einen Vierzylindertyp L4A 6/18 PS gab, der ab 1911 gebaut wurde – diese käme ebenfalls als Kandidat in Betracht.

Wie steht es um die zeitliche Einordnung des Fotos selbst? Hier scheint mir die Sache weniger eindeutig zu sein.

Natürlich verweisen die Rocklänge der Dame vor dem Loreley und die Hutform der Insassin klar auf die 1920er Jahre. Doch Anhaltspunkte für eine genauere Datierung sehe zumindest ich keine. Vielleicht weiß ja ein Leser mehr (siehe Kommentarfunktion).

Aus dem Bauch heraus würde ich diese Aufnahme in die erste Hälfte der 1920er Jahre einordnen, als Vatermörderkragen bei älteren Herren noch gängig waren. In dieser Zeit taucht auch erstmals der schmal gehaltene Schnauzbart auf:

Die junge Generation schaut unterdessen verhalten zuversichtlich und glattrasiert der Moderne entgegen.

Dass 50 Jahre später – in den 1970ern – viele Männer wieder üppige Bärte tragen würden wie einst im Reich, wäre damals vielleicht auf Unglauben gestoßen. Weitere 50 Jahre später – in unserer Zeit – gelten bei vielen Herren abermals Haare im Gesicht als en vogue.

Auf die Wiederkehr des Schnauzers müssen wir vielleicht noch etwas warten, aber die Mode ist bekanntlich unberechenbar. Wie schnell einen solche alltäglichen Dinge sehr alt aussehen lassen können, dafür ist dieses Bild ein gutes Beispiel.

Der Loreley-Wagen hatte zum Aufnahmezeitpunkt nur etwas mehr als vielleicht zehn Jahre auf der Kurbelwelle – doch gehörte er mit seinem Erscheinungsbild und der mäßigen Motorisierung bereits zum alten Eisen – später fand sich der Begriff Oldtimer dafür.

Was mag jemand in 100 Jahren über die Bilddokumente unserer Zeit denken – sofern sie überhaupt noch in einem Format erhalten sind, das dann gängig ist? Wird man sich mit ebensolcher Akribie unseren vierrädrigen Gefährten und uns selbst widmen?

Oder wird die Geschichte bis dahin eine ganz andere Richtung genommen haben als die, die heute mancher in naivem Vertrauen auf immerwährenden Fortschritt erwartet?

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Panne am Weltfrauentag: DKW “Sonderklasse”

Am Weltfrauentag kommt man kaum vorbei – der 8. März ist für Anpasser aller Art ein Anlass mehr, Haltung zu zeigen. Manche Konzerne nötigen ihre Angestellten förmlich dazu.

Da die Tradition des Weltfrauentags aus der Vorkriegszeit stammt, widme ich mich ihr gern. Lange war der Weltfrauentag meiner Aufmerksamkeit entgangen. Es musste 2021 werden, um ihn erstmals in seiner globalen Bedeutung wahrzunehmen.

Da es mir unheimlich ist, wenn plötzlich alle das Gleiche tun, habe ich mich mit dem Hintergrund befasst – zumal mir Datum und Anlass irgendwie bekannt vorkamen…

Am 8. März wird in sozialistischen Ländern seit jeher der Internationale Frauentag begangen. So beschlossen 1921 auf einer kommunistischen Frauenkonferenz in Moskau.

Dass die Damen der Schöpfung ihre Interessen vertreten, ist eine gute Sache – die freilich entwertet wird, wenn es im Rahmen einer radikal antibürgerlichen Ideologie geschieht. Irgendwie hat man es aber geschafft, diese unselige Tradition zu übertünchen.

Noch zu DDR-Zeiten erlahmte der Sturm und Drang der roten Frauenbewegung. Da die Befreiung der Frau im Arbeiter- und Bauernstaat längst erreicht war, verkam der Internationale Frauentag zu einer Art sozialistischer Muttertag.

So putzten sich vermutlich auch diese Damen aus Berlin einst am 8. März kurz nach dem Krieg heraus, um an ihrem Ehrentag einen Ausflug mit dem Auto zu unternehmen:

DKW Sonderklasse; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Leider hatten die Männer wieder einmal versagt und den Wagen nicht ausreichend vorbereitet. So war man liegengeblieben, fieberhaft wurde der Fehler gesucht.

Dabei war so ein DKW nun wirklich nicht kompliziert – das wussten die beiden Damen – nennen wir sie aus Nostalgie einfach Rosa L. und Clara Z.

“Sag’ mal Rosa, das kann doch nicht sein, dass die Männer das nicht alleine hinbekommen. Der DKW-Motor hat doch bloß drei Teile, das weiß doch jedes Kind.”

“Clara, ich kann es mir auch nicht erklären. So ein Zweitakter ist wirklich das Einfachste, was es gibt. Wir wären auch darauf gekommen, wenn man uns gelassen hätte.”

Damit hatten die beiden schlauen Frauen prinzipiell recht – an einem klassischen DKW-Zweitakter gibt es kaum etwas, was kaputtgehen kann. Selbst Männer können ihn ohne akademische Vorbildung reparieren.

Was Rosa und Clara allerdings nicht bedacht hatten, war die Tatsache, dass dieser aus der Vorkriegszeit übriggebliebene DKW so ziemlich das Komplizierteste war, was jemals an Zweitakttechnik auf Deutschlands Straßen unterwegs war.

DKW hatte hier zwar formal alles richtig gemacht und die gleiche stromlinienförmige Frontpartie gewählt, mit der der Fiat 1100 im alten NSU-Werk in Heilbronn gefertigt wurde:

Fiat 1100 in Westberlin; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Ähnlichkeit der beiden Wagen, die 1937 in Serie gingen, ist frappierend, aber wohl nicht Ergebnis eines Plagiats.

Wie in anderen Fällen auch, lagen gewisse formale Ideen in der Luft, wobei Fiat der Stromlinie konsequenter huldigte als DKW, wo man eine Lufthutze am oberen Abschluss der Frontscheibe verbaute, die strömungstechnisch verheerend war.

Die Neigung für abwegige technische Lösungen setzte sich beim DKW-Modell mit der Bezeichnung “Sonderklasse” unter dem Blech fort. Dort fanden sich ein komplexer und durstiger V4-Zylinder-Zweitakter mit je einer Ladepumpe pro Zylinderbank.

Die auf dem Papier geniale Motorenkonstruktion war erstmals 1930 zum Einsatz gekommen. In der Praxis barg sie Tücken, die DKW nie in den Griff bekam bzw. die zu einem immer komplexeren Aufbau führten, der die Vorteile des Zweitaktmotors ins Gegenteil verkehrte, nämlich: wenige bewegte Teile, einfache Ölversorgung, geringer Verbrauch.

Ob es einst tatsächlich der vermaledeite Ladepumpenmotor war, der diesen DKW am Internationalen Frauentag zum Stillstand verdammt, ist schwer zu sagen:

Auf diesem Ausschnitt ist im Motorraum an der Stirnwand nämlich etwas zu sehen, was es dort eigentlich nicht geben sollte – ein oberhalb des Motors angebrachter Benzintank. Bei der ab 1937 gebauten DKW “Sonderklasse” befand sich der nämlich im Heck des Wagens.

Vielleicht hat jemand eine Idee dazu. Unterdessen haben die Damen wieder das Wort:

“Wenn es nach uns Frauen gegangen wäre, hätte man einen Motor eingebaut, den wir selbst wieder in Gang hätten bringen können, nicht wahr, Clara?”

“Da hast Du völlig recht, Rosa. Das haben die Männer nur deshalb so kompliziert gemacht, um uns Frauen von der Technik fernzuhalten, so ist das nämlich!”

Nun ja, mir scheint, dass die beiden Damen eigentlich ganz zufrieden damit sind, dass sie beim Basteln im öligen Motorraum wieder einmal “ausgegrenzt” werden. Daran hat sich bis heute wenig geändert – Ausnahmen bestätigen die Regel.

Forderungen am Weltfrauentag nach stärkerer Teilhabe des schönen Geschlechts an schmutzigen und gefährlichen Arbeiten sind mir noch nicht zu Ohren gekommen.

Damit sich wirklich etwas bewegt in Sachen Gleichbehandlung, muss der 8. März in mehr Ländern zum gesetzlichen Feiertag werden. In den freiheitlichen Musterstaaten Nordkorea, China und Uganda ist das bereits der Fall – im stets progressiven Berlin übrigens auch…

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Verweile doch, Du bist so schön: Ford Eifel Cabrio

“Verweile doch, Du bist so schön” – wie so vieles bei dem (nach Luther) größten Meister der deutschen Sprache ist das ein schillerndes Bonmot – Goethe verwendete es im Faust 1 und Faust 2 in gänzlich gegensätzlicher Bedeutung:

Erst heißt es: “Werd’ ich zum Augenblicke sagen: / Verweile doch! Du bist so schön! / Dann magst du mich in Fesseln schlagen, / Dann will ich gern zugrundegehn!” Das ist Fausts Wette mit dem Teufel, dass er die Suche nach Erkenntnis nie einstellen wird.

Im Spätwerk des Dichters findet sich derselbe Ausspruch, als Faust der Unterdrückung durch eine feudale Herrscherkaste das Ideal einer freien Gesellschaft gegenüberstellt:

“Das ist der Weisheit letzter Schluß: / Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,/ Der täglich sie erobern muß./ …Solch ein Gewimmel möcht’ ich sehn,/ Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn. / Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:/ Verweile doch, du bist so schön!”

Bei der Gelegenheit nur eines zum sprichwörtlichen aktuellen “Verweilverbot” in einer lebensfrohen deutschen Großstadt: DAS ist Ausdruck einer zutiefst menschenfeindlichen Einstellung von Bürokraten, die einen an finsterste Zeiten hierzulande erinnert.

In ebensolchen Zeiten entstand das Foto, das ich heute zeigen möchte und das mich – beflügelt von einem herrlichen Vorfrühlingstag – spontan an Goethe denken ließ:

Ford Eifel Cabriolet (Karosserie: Gläser, Dresden); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bei dieser Gelegenheit dachte ebenfalls jemand: “Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:/ Verweile doch, du bist so schön!” – und griff zur Kamera, um den Moment festzuhalten.

Wir Nachgeborenen teilen mit gut achtzig Jahren Verspätung diese Empfindung und nebenbei wird man sich bewusst, worin die Magie klassischer Automobile liegt: ihre Ästhetik harmoniert vollkommen mit Mensch und Natur.

Man stelle sich dieselbe Situation mit einem modernen Ford “Fiesta” vor, neben dem jemand mit Dreiviertelhosen und Baseballkappe posiert. Würde man da auch ausrufen: “Verweile doch, du bist so schön!” und sich dem Wagen mit Wonne widmen wollen?

Natürlich nicht, und auch deshalb lesen Sie – vielleicht ganz unbewusst – in meinem Blog, weil so viel Schönes hier zu sehen ist, woran es uns mangelt in der Gegenwart :

Dieser junge Herr hat noch seine Fahrerhaube auf und die Handschuhe an, mit denen man einst ein solches Cabriolet zu lenken pflegte – das Verweilen war wohl nur ein kurzes, doch in sich ruhend sieht man hier einen zufriedenen Menschen.

Um 1938 wird das gewesen, als die politische Großwetterlage unübersehbar Ungemach verhieß. Dem Einzelnen blieb nichts, als sein Leben weiterzuleben, so gut es ging – im vorliegenden Fall verbunden mit dem privilegierten Besitz eines Automobils.

Wer aus heutiger Sicht nun meint: “Ist ja bloß ein Ford Eifel” – dem fehlen schlicht die Maßstäbe. Gewiss, von der Papierform war das ein Fahrzeug der unteren Mitteklasse mit 1,2 Liter Seitenventilmotor, 34 PS, Spitze 100 km/h, Gestängebremse, Starrachsen.

Doch exklusiv war das Gefährt schon deshalb, weil für den Durchschnittsverdiener im damaligen Deutschland selbst ein einfaches Automobil fast unerreichbar war. Exklusiv war diese Version des Ford Eifel aber noch aus einem anderen Grund.

Das war ein aufwendig gefertigter Manufakturwagen – nicht gerade, was man mit Ford verbindet, oder? Der Aufbau als 2-Fenster-Cabriolet mit verkleideten Hinterräder entstand tatsächlich einst in Handarbeit, bis Anfang 1938 bei Gläser in Dresden, danach in fast identischer Form bei der Karl Deutsch GmbH in Köln.

Wieviele dieser eleganten kleinen Cabriolets dort gefertigt wurden, ist mir nicht bekannt – vielleicht weiß ein Kenner von Vorkriegs-Fords Näheres. Nur, dass das Exemplar auf meinem Foto in München zugelassen war, das ist gewiss.

Woher der Wagen kam, als er für die Nachwelt festgehalten wurde, und wohin es anschließend ging – für das Auto und die Insassen – das muss offen bleiben.

Vielleicht überstand das Auto den Krieg und ermöglichte seinen Besitzern noch einmal exklusiven Genuss – wenn auch mit neuem Kennzeichen und anderer Lackierung:

Ford “Eifel” 2-Fenster-Cabriolet (Karosserie: Deutsch, Köln); Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Diese Aufnahme verdanke ich Sammlerkollege Klaas Dierks, der ein besonderes Auge für das Zusammenspiel von Mensch und Maschine aus gekonnter Perspektive hat. Solche Dokumente sind mir die liebsten, ein technisch perfektes Werksfoto kann da nicht mithalten.

Dem Auto mit Besatzungskennzeichen der Nachkriegszeit sieht man an, dass es einiges hinter sich hat – während die zwei Kleinen das Leben noch vor sich haben.

Was meinen Sie, liebe Leser, sind das Geschwister – und wenn ja – ist eines davon vielleicht ein Mädchen, das als Bub kostümiert wurde? Ich würde sagen: ja.

Die zwei dürften heute in den 70ern sein – ob sie sich noch an das Auto erinnern? Vielleicht gehörte es einem vermögenden Verwandten, vielleicht einem Besucher auf dem Land?

Auch zu dieser Aufnahme passt: “Zum Augenblicke dürft’ ich sagen:/ Verweile doch, du bist so schön!” und direkt darauf folgend heißt es bei Meister Goethe: “Es kann die Spur von meinen Erdetagen / Nicht in Aeonen untergehn”.

Alte Fotos von Menschen und ihren vierrädrigen Träumen bringen uns diesem kühnen Traum des Weisen aus Weimar schon ziemlich nahe, meine ich…

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Mit Kellner-Karosserie in den Krieg: Fiat Tipo 3

Kellner, Kellner – hatten wir das nicht gerade? Natürlich nicht den Kellner im Restaurant – den Umgang mit ihm hat uns die Obrigkeit ja seit geraumer Zeit verboten.

Doch in meinem Blog darf man mit Kellnern weiterhin auf Tuchfühlung gehen – zuletzt in Form eines Renault “Reinastella” mit Karosserie von Kellner (Billancourt). Heute machen wir nun Bekanntschaft mit einem “Kellner” ganz anderer Provenienz.

Der nicht ganz alltägliche Vorname “Alexis” bestimmte diesen vermutlich dazu, sich in seinem Leben gründlich der Extravaganz zu widmen. Das tat Alexis Kellner ab 1910 mit seinem Karosseriebetrieb in Berlin, der legendären Status erlangen sollte.

Alexis Kellner wusste eine anspruchsvolle Klientel nicht nur mit luxuriös ausgestatteten Aufbauten zu verwöhnen – er lieferte auch eine herrlich arrogante Begleitmusik dazu. 1911 verkündete er im Artikel “Der Stil im Autosport” unter anderem:

“Im Innern der Limousine ist jeder, auch der raffinierteste Luxus gestattet, ich möchte beinahe sagen: geboten… Zeige mir Deine Limousine und ich werde Dir sagen, wie Du zu Hause eingerichtet bist!”

Außerdem: “Nur in der Limousine kann die Dame Eleganz entwickeln – sie kann den größten Federhut aufsetzen, den sie hat, vorausgesetzt, dass er durch die Tür geht.”

Nicht gut weg kommt bei Kellner hingegen das Landaulet:

“Ein Landaulet ist niemals schick, man überlasse diese Karosserieform den Droschkenkutschern – und den Spatzen.”

Mehr Sympathie bringt er für den offenen Tourenwagen oder Phaeton auf:

“Als Herrenwagen ist das Phaeton auch im Winter richtig; es kommt aber auch hier auf die Form an… Besonders schmerzend wirkt ein Offizier in Uniform hinter dem Windschutz.”

Diesen Eindruck wollten die Herren Offiziere partout vermeiden – selbst im Winter nahmen sie im zugigen Heck Platz, wenn sie in ihrem – natürlich offenen Wagen – unterwegs waren:

Fiat Tipo 2B, aufgenommen im Januar 1918; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Was Alexis Kellner so lässig und leicht ironisch vor dem 1. Weltkrieg an Regeln für die Kundschaft seiner Karosseriemanufaktur “erlassen” hatte, wurde der fotografischen Evidenz folgend beim Militär streng befolgt.

Hohe Chargen fanden sich tatsächlich stets auf der Rückbank, während der Fahrer von der Windschutzscheibe und der Abwärme des Motors profitierte. Das obige Foto eignet sich aber nicht nur in dieser Hinsicht als Einstieg ins eigentliche Thema.

Vielmehr zeigt es bei aller Unschärfe sehr wahrscheinlich einen engen Verwandten des Fiat Tipo 3, den ich heute vorstellen möchte. Es handelt sich wohl um den ab 1912 gebauten Tipo 2B 15/20 PS mit 2,8 Liter großem Vierzylindermotor (Vergleichsfoto hier).

Dieses Modell war der erste große Erfolg der Marke aus Turin, wie ich zu meiner eigenen Überraschung feststellen musste. Bis dato war ich der Ansicht, dass Fiat erst kurz nach dem 1. Weltkrieg mit dem Kleinwagen 501 wirklich große Stückzahlen baute.

Doch auf Ferdinand Lanners fabelhafter Fiat-Website wird man eines Besseren belehrt: Über 21.000 Exemplare des frühen Mittelklassemodells Tipo 2B wurden zu einer Zeit gefertigt, als Italien noch ein bitterarmes Land war.

Da blieb nur der globale Markt als Absatzgebiet – und davon machte Fiat Gebrauch wie das kein deutscher Hersteller damals zustandebrachte. Nicht nur, dass man in die ganze Welt einschließlich Skandinaviens, Russlands und Australiens exportierte – das taten deutsche Hersteller auch. Nein, Fiats wurden auch in den USA produziert!

Das galt ganz speziell für das Fiat-Modell, um das es heute geht – den Tipo 3 20/30 PS mit 4 Liter-Vierzylinder. Er wurde in Italien mangels Kapazitäten 1915 eingestellt, während die Fertigung in Poughkeepsie (US-Bundesstaat New York) bis 1918 weiterlief.

Dieser (mutmaßliche) Fiat Tipo 3 stammte aber eindeutig aus europäischer Fertigung und erhielt sein Blechkleid von Alexis Kellner in Berlin:

Fiat Tipo 3 (Karosserie: Alexis Kellner, Berlin); Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Auf diesem reizvollen Foto, das mir Leser Klaas Dierks zur Verfügung gestellt hat, ist der typische birnenförmige Kühler zu erkennen, der bei Fiat ab 1914 verbaut wurde.

Zwar entspricht die Grundform grob derjenigen des Tipo 2B auf dem ersten Foto, doch die Proportionen sprechen klar für ein größeres Modell. Die noch stärkeren Modelle Tipo 4 bis 7 kommen aufgrund der geringen Stückzahlen weniger in Betracht, ganz ausschließen lassen sie sich nicht. Sie besaßen teilweise Sechszylindermotoren mit bis zu 9 Litern Hubraum.

Dass Fiats aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg so gar nicht zu dem Kleinwagenimage passten, das erst ab den 1930er Jahren entstand, zeigt auch die Verwendung einer Sonderkarosserie von einem Luxus-Blechschneider wie Alexis Kellner.

Doch woran erkennt man eigentlich, dass hier der Berliner Couturier am Werk war?

Nun, ein Indiz spricht sehr deutlich dafür, dass wir es mit einem Fiat zu tun haben, der einst einen Aufbau bei Kellner erhielt – die stromlinienförmig verkleideten Positionslichter auf den Kotflügeln!

Den Hinweis, dass dies sehr wahrscheinlich ein Markenzeichen von Alexis Kellner war, verdanke ich Thomas Ullrich aus Berlin. Dass der Aufbau nicht ganz alltäglich war, das lässt auch der horizontale Knick erahnen, der am Ende der Motorhaube ansetzt.

Leider liegt die Karosserieflanke im Dunkel, sodass von der übrigen Gestaltung nicht viel zu erkennen ist, doch dafür werden wir mit zwei prachtvollen Physiognomien entlohnt:

Während uns vorne in typischer doppelreihiger Lederjacke ein Angehöriger der Kraftfahrertruppe finster mustert, residiert am Ende des Wagens ein nicht mehr ganz junger Offizier – dem Fahrtwind ausgesetzt, ganz wie das Alexis Kellner gefordert hatte.

Der Kasten auf dem Trittbrett ist offenbar der Karbidentwickler, in dem das Gas für die riesigen Scheinwerfer produziert wurde. Auch dazu konnte Alexis Kellner mit endgültigen Wahrheiten dienen:

“Mächtige Scheinwerfer sind am Stadtwagen unbedingt zu vermeiden…Die großen Scheinwerfer sind überflüssig und störend, nur protzig.”

Da wir es im vorliegenden Fall mit einem Armeefahrzeug zu tun haben, das nachts gegebenfalls in völlig unbeleuchteten Gefilden unterwegs war, hätte Alexis Kellner für die überdimensionierten Scheinwerfer gewiss Verständnis gezeigt.

Seine Schöpfungen wandten sich jedenfalls an “Automobilisten, die wissen was man fährt” – im vorliegenden Fall fuhr hier der Chef der deutschen “Festungs-Eisenbahn-Bau-Kompanie 7” mit Kellner-Karosserie in den Krieg:

Reklame für Karosserien von Alexis Kellner von Januar 1914; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Quellenhinweis: Die Zitate von Alex Kellner sind folgender Publikation entnommen: “Autos aus Berlin: Protos und NAG”, von Hans-Otto Neubauer, Verlag W. Kohlhammer, 1983.

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Tauchfahrt 1930: Renault Reinastella “Scaphandrier”

Heute unternehme ich eine “Tauchfahrt” in die Wunderwelt obskurer Karosserieformen der Vorkriegszeit – anhand eines Renault-Modells, das an sich schon Exotenstatus besitzt.

Es würde mich wundern, wenn hierzulande mehr als nur einige Enthusiasten etwas mit dem Renault “Reinastella” verbinden – dem 1928 vorgestellten Spitzenmodell der Marke aus Billancourt.

In dem Ort bei Paris baute Louis Renault 1898 in zwei Monaten sein erstes Auto – da war er 21 Jahre alt. Damit fuhr er am 24. Dezember desselben Jahres mit seinem Bruder in Paris vor einer Bar vor, um Heiligabend dort zu verbringen. Solche Geschichten gibt es heute nicht mehr.

Im darauffolgenden Jahr entsteht die Automobilfabrik “Renault Frères”. 1902 schlägt Renault bei der Wettfahrt von Paris nach Wien alle Konkurrenten, erstmals mit einem Wagen mit selbstentwickeltem Motor.

In weniger als fünf Jahren avancierte Renault so zu den weltweit führenden Autoherstellern. Nach dem Ersten Weltkrieg verlor die Marke ihren Vorsprung, blieb aber eine feste Größe am französischen Markt, wo man alle Fahrzeuggattungen abdeckte.

Dazu gehörten sogar luxuriöse Achtzylinder-Modelle, die auf eine Kundschaft abzielten, die sich auch einen Rolls-Royce oder einen Hispano-Suiza hätte leisten können.

“Renahuit” lautete die Bezeichnung dieser Wagen anfänglich – eine Wortschöpfung aus “Renault” und “huit” (frz. “acht”). Später verfiel man auf “Reinastella”, was aus dem spanischen Wort für “Königin” und dem lateinischen Wort für “Stern” zusammengesetzt ist.

Ein solches Prachtstück begegnete mir auf dem Titelblatt eines französischen Kunstmagazins aus dem Jahr 1930:

Renault Reinastella von 1930; zeitgenössisches Magazin aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses Exemplar (der Zeitschrift, nicht des Wagens…) erwarb ich, da es eine Reihe von Fotos umfasst, die unter anderem Spezialkarosserien der Manufaktur Kellner zeigen. Anlass dafür war der Pariser Automobilsalon 1930, wo solche Unikate zu sehen waren.

Kellner war ebenfalls in Billancourt ansässig, sodass es nahelag, Renaults dort mit Spezialaufbauten auszustatten, wenn Kunden dies wünschten. So wurde die Karosserie des Reinastella auf dem Titelblatt ebenfalls von Kellner gefertigt.

Bevor ich mich den Besonderheiten dieses speziellen Blechkleids zuwende, wollen die technischen Meriten des Modells Reinastella gewürdigt werden.

Die Motorisierung verrät bereits, in welcher Liga man sich bewegte. Verbaut wurde ein 7,1 Liter großer Reihenachtzylinder, dessen 110 PS (später 130 PS) für ein Spitzentempo von 130-140 km/h gut waren.

Die Kühlung des Motors war thermostatgesteuert, die Bremsen waren servounterstützt, und die Hinterachse besaß hydraulische Stoßdämpfer. Der 110 Liter messende Tank ermöglichte ungeachtet des durstigen Aggregats eine Reichweite von mehreren hundert Kilometern.

Der 5,30 Meter lange Koloss brachte trotz reichlichen Einsatzes von Leichtmetall rund 2,7 Tonnen Gewicht auf die Waage – ein mächtigerer Renault sollte nie wieder gebaut werden. Solche Exzesse waren auch bei anderen Herstellern damals nicht unüblich.

Der Preis eines Reinastella war astronomisch – 140.000 Francs wurden 1932 dafür aufgerufen – doch ließ er sich mit einer Spezialkarosserie wie dieser noch steigern:

Renault Reinastella “Scaphandrier” von 1930 (Karosserie Kellner)

Dass der Wagen hier nicht so gigantisch aussieht, wie es die Papierform erwarten lassen würde, liegt daran, dass keine Insassen darin abgebildet sind. Der Fahrer wäre hinter dem riesigen Lenkrad mit 50 cm Durchmesser verschwunden und die Passagiere wären im Heckabteil in üppigen Polstern versunken.

Besondere Schönheit ist dieser Karosserie nicht zu attestieren, doch in der Luxusklasse gab man einer gewissen Extravaganz gern den Vorzug. Außergewöhnlich ist bereits die Bezeichnung dieses speziellen Aufbaus als “Scaphandrier”.

Wie im Fall von “Reinastella” handelt es sich hierbei um ein Kunstwort – bloß dass es weit älter ist. Geschaffen wurde es im 18. Jh. vom Erfinder einer Art Schwimmanzug, aus dem sich später ein Taucheranzug entwickelte.

Die Bezeichnung dafür setzte sich aus den griechischen Wörtern “skaphe” und “andros” zusammen – und beschreibt ein Mischwesen aus Boot und Mensch. Daraus entstand das französische Wort “scaphandre”, welches “Taucheranzug” bedeutet.

Taucher trugen bis in die Neuzeit ein den ganzen Kopf umschließendes Oberteil, in das Glasscheiben eingelassen waren. Genau daran erinnert das vorne und seitlich aus Glas bestehende Passagierabteil, weshalb dieser Aufbau die eigentümliche Bezeichnung “Scaphandrier” (frz. “Taucher”) erhielt.

Woher ich dieses Wissen beziehe, mag man sich fragen. Nun, vom “scaphandre” habe ich heute ebenfalls zum ersten Mal gehört. Mit ordinärem Schulfranzösisch gelangt man nicht in solche Tiefen der prachtvollen Sprache unserer westlichen Nachbarn.

Auf die Karosseriebezeichnung “Scaphandrier” stieß ich erst beim Eintauchen in das Standardwerk “Renault – L’Empire de Billancourt” von J. Borgé und N. Viasnoff (1977).

Dort ist auf Seite 282 ein Renault Reinastella “Scaphandrier” mit derselben Karosserie abgebildet, den niemand geringeres als Louis Renault selbst besaß. Er war damals immer noch Eigentümer der Marke und sollte es bis zu seinem mysteriösen Tod 1944 bleiben.

Damit schließt sich für heute der Kreis. Auf das Magazin “L’Art Vivant” und einige darin abgebildete Ausstellungstücke des Pariser Automobilsalon 1930 komme ich jedoch zurück. Als Vorgeschmack darauf mag die Anzeige auf der Rückseite des Magazins dienen:

Reklame von Avions Voisin, Rückseite des Magazins “L’Art Vivant” von Oktober 1930; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Wüsste man nicht, was sich hinter “Voisin” (frz. für “Nachbar”) verbirgt, würde man ohne Französischkenntnisse kaum darauf kommen, dass es sich um eine Autoreklame handelt…

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