Der Fund des Monats November fiel für mich anfänglich fast ein wenig enttäuschend aus. Denn weder konnte ich mit einem Foto aus meinem eigenen Fundus aufwarten, noch vermoche ich Wesentliches zur Identifikation des darauf abgebildeten Wagens beitragen.
So schien es mir jedenfalls auf den ersten Blick zu sein.
Dennoch bin ich sicher, dass Sie – liebe Leser – ganz auf Ihre Kosten kommen. Das gilt vor allem, wenn Ihnen der Sinn nicht nur nach Nischenfabrikaten steht, sondern auch gelungene Aufbauten Ihr Herz erfreuen – und es gern ein wenig rätselhaft sein darf.
Diese ideale Kombination kann ich jedenfalls heute anbieten, und ich wüsste wirklich nichts daran auszusetzen, wäre da nicht der Makel, dass ich mich (fast) komplett mit fremden Federn schmücke. Doch das werden Sie mir in diesem Fall verzeihen:

Ein zweitüriges Cabriolet mit hinreißender Linienführung ist das zweifellos. Ich hätte es aus stilistischer Perspektive auf ca. 1930 datiert, doch worum es sich genau handelt, das wäre mir vermutlich verborgen geblieben.
Ins Auge fällt unabhängig davon das ungewöhnlich niedrige Chassis, welches auf eine “Underslung”-Konstruktion hindeutet. Diese ist dadurch gekennzeichnet, dass die blattgefederten Achsen nicht unterhalb des Leiterrahmens angebracht sind, sondern darüber. Der Rahmen ist also unter der Achse entlanggeführt, was einen wesentlich niedrigeren Schwerpunkt und damit bessere Straßenlage ermöglicht.
Diese Lösung wurde bereits weit vor dem 1. Weltkrieg ersonnen – das US-Fabrikat “American Underslung” trug den Hinweis sogar im Namen. Doch kam so etwas letztlich nur für sportliche Fahrzeuge in Betracht, die sich nicht auf den meist noch kaum befestigten und unebenen Straßen im Alltag bewähren mussten.
Doch zum Posieren in der Großstadt und bei einschlägigen Schönheitskonkurrenzen eignete sich dieses Konzept vorzüglich.
Die elegante Erscheinung des oben gezeigten Wagens ist natürlich auch der außergewöhnlich langen Motorhaube geschuldet, die auf einen Reihensechser oder gar ein Achtyzlinderaggregat schließen lässt; beide bauten wesentlich länger als ein Vierzylindermotor, zumindest wenn sie auch einen größeren Hubraum besaßen.
Aber was ist das denn jetzt für ein Fahrzeug, werden Sie wissen wollen?
Nun, zwar kam mir die Form ein wenig vertraut vor, doch wäre ich nicht auf das gekommen, was auf der Rückseite des Originalabzugs steht, welcher sich in der Sammlung von Leser Jörg Pielmann befindet:

Demnach handelte es sich bei dem schicken Zweitüren-Cabrio um das Achtzylindermodell “Trumpf-Aß” aus dem Hause Hansa-Lloyd, Baujahr 1927.
Tatsächlich baute der norddeutsche Traditionshersteller ab 1926 in kleinen Stückzahlen auch Achtzylinderwagen mit satten 100 PS Höchstleistung – anfänglich mit 4,6 Litern Hubraum, ab 1927 dann mit 5,2 Litern.
Das waren auch technisch beeindruckende Konstruktionen mit hochfeinem Ventiltrieb über im Zylinderkopf liegende Nockenwelle, getrieben wiederum von einer Königswelle.
Nüchtern veranlagte Zeitgenossen werden sich freilich von solchem Vokabular nicht ablenken lassen. “Stand auf dem Abzug nicht etwas von 7 Litern Hubraum?” werden Skeptiker stattdessen fragen.
Vollkommen richtig und als ebenfalls keinen vermeintlichen Autoritäten hörige Person machte mich das ebenso stutzig wie die für mich unplausible Jahresangabe 1927.
Konnte man dem Vermerk vielleicht auch in sonstiger Hinsicht nicht trauen?
Werfen wir nochmals einen Blick auf die Vorderpartie des Wagens und prägen uns das Erscheinungsbild der Motorhaube mit den Proportionen der Luftschlitze und der Position des hinteren Haubenhalters ebenso ein wie die Gestaltung des Kühlwasserdeckels:

Und noch etwas: Die Ausführung der Räder mit dem sechseckigen Emblem auf den Nabenkappen behalten wir ebenfalls im Hinterkopf.
Solchermaßen präpariert wenden wir uns nun einem Foto aus meiner Sammlung vor, das ich schon einmal präsentiert habe – es zeigt einen NAG-Protos des Typs 16/80 PS (Bauzeit: 1930-33) in der besonders begehrten Ausführung als Sport-Cabriolet.
Hier haben wir das Prachtwück auf einem originalen Pressefoto:

Meinen Sie nicht auch, dass die Gestaltung von Haubenpartie, Vorderkotflügel und Kühlwasserdeckel vollkommen übereinstimmen?
Gut, die Radkappen weichen ab, handelt es sich doch hier um Drahtspeichenräder mit Zentralverschlussmutter statt Radbolzen. Aber das sechseckige Logo, das auf den Nabenkappen des angeblichen Hansa zu sehen ist, findet sich hier unterhalb des Motorhaubenhalters.
Kann das ein Zufall sein? Ich halte das für sehr unwahrscheinlich, auch wenn der “Hansa” auf dem Foto von Jörg Pielmann am Heck anders gestaltet ist als das Sport-Cabrio von NAG-Protos.
Denkbar wäre zwar, dass der Hansa vom selben Karosseriebauer eingekleidet wurde wie der NAG-Protos. Aber wenn ich es richtig verstehe, war der Aufbau als Sport-Cabriolet ein Werksfabrikat des Herstellers selbst.
Außerdem halte ich es für unglaubwürdig, dass die markante Gestaltung des Deckels für den Kühlwassereinfüllstutzen (wohlgemerkt: keine Kühlerfigur) bei zwei Herstellern identisch sein sollte, die nichts miteinander zu tun haben.
Sie sehen: Am Ende habe ich doch etwas Eigenes beizusteuern zu diesem Fund des Monats. Natürlich mag ich falsch liegen mit meiner These, dass der vermeintliche Hansa ein Wahrheit ein NAG-Protos war und bloß das Foto falsch beschriftet wurde.
Doch jetzt sind Sie an der Reihe, liebe Leser, denn dass Sie diese schönen Dinge einfach nur so genießen dürfen, das kann ich nicht immer gewährleisten.
Manchmal kommt man der Lösung nur im sportlichen Meinungsaustausch näher und dass wir es hier mit einem ganz besonderen Sport(objekt) zu tun haben, daran kann kein Zweifel bestehen…
Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.