Ein Auto mit vielen Gesichtern: NSU-Fiat 1100

“Dies alles fuhr auf unseren Straßen”, so lautet der Titel eines Autobuchs von Paul Simsa, das der einstige U-Boot-Fahrer, Philosoph und Journalist im Jahr 1969 veröffentlichte – dem Geburtsjahr des Verfassers dieses Blogs.

Es wäre auch ein passender Titel für dieses Online-Projekt. Denn Ziel ist eine umfassende Dokumentation der Vorkriegsautos, die einst im deutschsprachigen Raum unterwegs waren – und zwar anhand zeitgenössischer Originalfotos. 

Da macht man immer wieder erstaunliche Entdeckungen, die einem bei der Lektüre gedruckter Oldtimer-Magazine hierzulande meist verwehrt bleiben.

Wann hat man dort zuletzt etwa von den Fiats der Typen 501, 503, 509, 512 oder 525 gelesen, die in der Zwischenkriegszeit in deutschen Landen verbreitet waren?

Speziell mit dem rund 90.000mal gebauten 1 Liter-Typ 509 hatte sich Fiat einen guten Namen in der Einsteigerklasse gemacht. So findet man den 20 PS-Wagen mit seiner klassisch gezeichneten Frontpartie immer wieder in deutschen Fotoalben:

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Fiat 509; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Später wurden Vorkriegs-Fiats sogar in Deutschland gefertigt, im alten NSU-Automobilwerk in Heilbronn. Dabei handelte es sich um beachtliche Stückzahlen – rund 20.000 Exemplare verschiedener Typen verließen bis 1941 das Heilbronner Werk.

Zuvor waren bereits in überschaubarer Zahl bei den Karosseriewerken Weinsberg Chassis diverser Fiat-Typen mit Aufbauten versehen worden.

Ob der folgende Fiat 508 Balilla “Spider” der frühen 1930er Jahre eines dieser in Deutschland eingekleideten Autos war, wissen wir nicht –  überlebt hat der flott gezeichnete Fiat jedenfalls hierzulande, wie das Besatzungskennzeichen verrät:

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Fiat 508 Balilla “Spider”; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch das 1934 vorgestellte Nachfolgemodell Fiat 508 “Nuova Balilla” ist uns hier bereits begegnet. Es sollte der erste Fiat werden, der in größeren Zahlen in Deutschland gebaut werden sollte – mit rasch zunehmendem Anteil heimischer Fertigung.

Das formal ansprechende und trotz des kleinen Motors markentypisch robuste Fahrzeug erfreute sich einiger Beliebtheit.

Wie im Fall der einst verbreiteten Fiats der 1920er Jahre haben sich zahlreiche Fotos erhalten, die das in Deutschland als Fiat 1000 vermarktete Modell in entspannten Situationen wie dieser zeigen:

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Fiat/NSU 1000; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das war nun ein ziemlich langer – hoffentlich nicht langweiliger – Vorspann. Doch die hierzulande wenig bekannten Fiat-Vorkriegstypen liegen dem Verfasser am Herzen, es sind attraktive Wagen, die relativ günstig zu haben sind – wenn man einen findet.

Jetzt aber zum eigentlichen Star des heutigen Blog-Eintrags, dem Fiat 1100, der ab 1938 als Nachfolger des Fiat 508 Nuova Balilla bzw. NSU/Fiat 1000 angeboten wurde.

Der Wagen war gründlich modernisiert worden: Die Leistung des kleinen Vierzylinders mit hängenden Ventilen betrug nun 32 PS, die Vorderräder waren einzeln aufgehängt. Mit 105 km/h Spitzentempo waren auch Reisen über die Autobahn in den Süden drin:

Fiat_1100 aus Wien in Italien Sommer_1939_Galerie

Diese schöne Aufnahme ist im Sommer 1939 auf einer Urlaubsreise irgendwo in Italien entstanden – erkennt jemand die Ansicht?

Der Fiat 1100 ist hier bei tiefstehender Sonne von seiner Schokoladenseite aufgenommen worden – die windschnittig gestaltete Kühlerpartie kommt gut zur Geltung.

Der Verfasser wüsste keinen zeitgenössischen Wagen eines deutschen Herstellers in dieser Hubraumklasse, der so modern und zugleich harmonisch gestaltet war.

Kein Wunder, dass man sich neben so einem attraktiven Gefährt gern ablichten ließ.

Fiat_1100 Kennzeichen Wien Winter 1938_Galerie

Fiat 1100; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dass man bald andere Sorgen haben würde, war den meisten “Volksgenossen” nicht bewusst, auch der junge Luftwaffensoldat in Ausgehuniform dürfte nicht geahnt haben, was auf ihn zukommt.

Entstanden ist obige Aufnahme im Winter 1938 in Österreich – das Kennzeichen verweist auf eine Zulassung des Fiat in Wien.

Hier kommt die behutsame Annäherung an die Stromlinie sehr gut zur Geltung, die Fiat beim Typ 1500 noch perfektionieren sollte.

Auch wenn folgende Aufnahme vom Ausschnitt her alles andere als ideal ist, kommen die fließenden Formen des Fiat 1100 hier gut zur Geltung:

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NSU/Fiat 1100; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Sehr reizvoll ist hier auch die Aufnahmesituation:

Auf der Motorhaube liegt ein Blumenstrauß, darüber erahnt man hinter der Windschutzscheibe das Profil einer Dame mit Hut, die sich der Beifahrerin mit Kostüm und Kopftuch zuwendet, um ihren Reisekoffer auf der Rückbank unterzubringen.

Man muss schon genau hinsehen, aber das lohnt sich bei diesen wunderbaren Zeugnissen einer untergegangenen Welt. Und davon haben wir noch ein weiteres.

Doch zuvor – soviel historische Genauigkeit muss sein – ein anderes Dokument, das eine der vielen Facetten des Fiat/NSU 1100 der Vorkriegszeit vermittelt:

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Fiat/NSU 1100; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sehen wir wieder einen Fiat/NSU 1100, doch die Tarnscheinwerfer verraten, dass zum Aufnahmezeitpunkt Krieg herrscht. Der Zufall will es, dass es erneut ein Luftwaffensoldat ist, der allerdings diesmal auf dem Auto posiert.

Der Winkel auf dem Ärmel weist ihn als Gefreiten auf – noch ein Wehrpflichtiger, der bloße Verfügungsmasse im Ringen der Mächtigen während des 2. Weltkriegs war.

Es ist leider so: Bei der Beschäftigung mit Vorkriegsautos kommt man an den Katastrophen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht vorbei. Doch reizt immer wieder die Frage: Was, wenn die Geschichte eine andere Wendung genommen hätte?

Wieviel Heiterkeit sehen wir auf folgender zauberhaften Aufnahme eines Fiat 1100, die 1938/39 irgendwo in Schlesien entstand:

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NSU/Fiat 1100; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ein NSU/Fiat 1100 in reizvoller Zweifarblackierung – aber Hand auf’s Herz: Hier ist das Auto doch bloße Staffage.

Wir wissen nicht, wer einst vor rund 80 Jahren dieses nahezu vollkommene Foto schoss – es ist wirklich eine Privataufnahme, kein Werbebild.

Da hatte jemand in jeder Hinsicht vollendeten Geschmack: ein modernes Auto, eine flotte junge Dame im schicken Anzug mit Krawatte, nur der mittlere Knopf der Jacke zugeknöpft, die Hände kokett auf die Scheinwerfer gestützt.

Das will so gar nicht dem Klischee jener Zeit entsprechen – viele Dinge waren eben nicht so eindeutig, wie uns die Schwarzweiß-Fotos im nachhinein suggerieren.

Vielleicht hilft eine Aufnahme wie diese, nicht jedes Dokument aus dem Deutschland der 1930er Jahre reflexartig aus politischer Perspektive zu bewerten.

Dass junge Deutsche der Vorkriegsszene – sei es in Bezug auf Autos, Motorräder oder Flugzeuge – heute skeptischer gegenüberstehen als junge Briten, Franzosen oder Niederländer, hat auch damit zu tun, dass das Geschehen vor 1945 hierzulande umso mehr als “vermintes Gelände” gilt, je länger es zurückliegt.

Dabei können wir heute mit dem Abstand von zwei Generationen Lehren aus der Vergangenheit ziehen und dennoch positive Anknüpfungspunkte zur Vorkriegsgeschichte unseres Landes finden, die nicht ausschließlich durch das Hakenkreuz stigmatisiert ist.

Im 21. Jahrhundert können wir die Schöpfungen der 1930er Jahre mit kritischem Abstand betrachten, dürfen aber auch rückhaltlos das genießen, was verdient, genossen zu werden.

Das mag die Botschaft einer weiteren Aufnahme sein, welche die uns schon bekannte flotte Fiat-Besitzerin ganz ohne Auto zeigt:

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Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ganz was Feines! Ein Opel 4 PS in Baden-Baden

Nein, der Titel des heutigen Blog-Eintrags ist nicht ironisch gemeint – wir befassen uns tatsächlich mit einem Opel des ab 1924 gebauten Kleinwagentyps 4 PS.

Den auch als “Laubfrosch” bekannten Typ hatten die Rüsselsheimer dem Citroen 5 CV “nachempfunden”, um es vorsichtig auszudrücken.

Wieso Opel – bis zum 1. Weltkrieg einer der führenden deutschen Automobilbauer mit Kompetenz vom Basismodell bis zur Luxuskarosse – seinerzeit nichts Besseres zustandebekam, bleibt rätselhaft.

Wenigstens hatte man den richtigen “Riecher” bewiesen, das Plagiat Opel 4 PS sollte bis 1931 eine – für deutsche Verhältnisse – echte Erfolgsgeschichte werden. Über 100.000 Stück davon entstanden in Fließbandproduktion.

Ein nicht mehr ganz taufrisches Exemplar wurde 1935 etwas verwackelt abgelichtet:

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Opel 4/16 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wir sehen hier einen Tourenwagen des Typs 4/16 PS mit dem bis 1927 verbauten oben abgerundeten Kühler, der offenbar gerade von einem Besuch bei Verwandten oder Freunden auf dem Lande aufbricht.

Ob die Begeisterung der Gastgeber dem damals bereits veralteten Auto oder eher der Tatsache geschuldet ist, dass nun wieder Ruhe auf dem Hof einkehrt, wissen wir nicht…

Auf der Rückseite trägt der Abzug neben der Jahreszahl 1935 den Vermerk “Radecker See Neumark”. Ganz schlau ist der Verfasser daraus nicht geworden – kann ein ortskundiger Leser helfen?

Natürlich ist das nicht das Foto, das heute im Mittelpunkt steht – der Einstieg ist aber bewusst gewählt. Viele Opel 4 PS-Modelle wurden so im Alltag “rangenommen” und mussten auf oft unbefestigtem Grund jahrein, jahraus ihren Dienst verichten.

Dass dennoch viele davon bis heute überlebt haben, spricht für die robuste Konstruktion von Citroen die gute Verarbeitung bei Opel. Auf Veranstaltungen mit deutschen Vorkriegswagen ist der 4 PS “Laubfrosch” jedenfalls ein häufiger Gast.

Zu welcher Verfeinerung dieses bodenständigen Modells man bei Opel am Ende der Produktionszeit fähig war, zeigt das folgende hervorragende Foto:

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Opel 4/20 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses erwachsen und gefällig wirkende Fahrzeug erinnert kaum noch an die bescheidenen Anfänge des Opel 4 PS-Modells als offener Zweisitzer mit gerade einmal 12 PS aus 950 ccm Hubraum.

Um es vorwegzunehmen: Hier sehen wir einen serienmäßigen Opel 4 PS der letzten Modellgeneration, die von Ende 1930 bis Mitte 1931 gebaut wurde.

Der geringfügig auf 1 Liter vergrößerte Motor dieses Typs leistete nunmehr 20 PS, was bei einem Gewicht von 750 kg (Viersitzer) eine damals ausreichende Leistungscharakteristik ermöglichte. Fast 80 km/h Spitze waren damit drin.

Was aber machte die letzte Variante des Opel 4 PS-Modells zu etwas “ganz Feinem”, wie es der Titel des heutigen Blogeintrags suggeriert?

Nun, dazu muss man nur genau hinschauen:

Opel_4-20_PS_um_1930_Ak_Baden-Baden_Frontpartie

Da wäre erst einmal der beim US-Luxuswagenhersteller Packard abgeschaute Kühler mit geschwungener Oberseite, deren Profil sich in der Motorhaube fortsetzt. Dieses Detail zeichnet alle Opel 4 PS-Modelle ab Herbst 1927 aus.

Auch die geschwungenen, der Form des Rads folgenden Vorderschutzbleche sind ein verfeinertes Merkmal, das 1928 bei den offenen Versionen auftaucht.

Erst ab Ende 1930 finden sich dann die Scheibenräder mit verchromter Nabenkappe – auf der man das Opel-“Auge” erkennt – und zwei feinen Zierlinien.

Für sich genommen sind das unscheinbare Details, aber zusammen lassen sie den Opel 4/20 PS von 1930/31 weit raffinierter erscheinen.

Der Eindruck verstärkt sich, wenn man die Seitenpartie auf sich wirken lässt:

Opel_4-20_PS_um_1930_Ak_Baden-Baden_Seitenpartie

Sehr gefällig wirkt hier das heller abgesetzte Feld, das die sonst vielleicht arg schlichte Seitenlinie abwechslungsreich gestaltet und optisch niedriger macht.

Gut zu erkennen ist außerdem, dass Teile des Verdeckgestänges verchromt sind, auch das findet man bei den früheren Ausführungen des Opel 4 PS-Modells nicht.

Das durchbrochen ausgeführte, ebenfalls verchromte Blech unterhalb der Tür sorgt für einen willkommenen Akzent auf der Schwellerpartie und schützt außerdem den Lack beim Einsteigen.

Das Erstaunliche ist: Alle diese dem Wunsch nach formaler Verfeinerung von Opels Massenprodukt getriebenen Details waren 1930/31 beim offenen Viersitzer serienmäßig – wir haben also keine Spezialausführung vor uns.

Dieser letzte Opel aus der Reihe der 4 PS-Typen profitierte einfach von der beharrlichen Modellpflege der Rüsselsheimer. Und: Wie unser Foto verrät, war das Ergebnis sogar concours-tauglich!

Denn die schöne Aufnahme war einst Nr. 30 einer ganzen Reihe von Fotos, die bei einer Schönheitskonkurrenz im damals mondänen Baden-Baden entstanden.

Die Mode der schicken Damen im Opel und im Hintergrund spricht für eine Entstehung noch im Sommer 1931, als das Modell auslief. Später kamen die auf die 1920er Jahre verweisenden kappenartigen Hüte mit schmaler Krempe außer Mode.

Nun sind die geschätzten Leser an der Reihe: Es sollte doch in einschlägigen Magazinen jener Zeit dokumentiert sein, welche Fräuleins hier so selbstbewusst mit ihrem flotten Opel mit der Nr. 7 auf der Frontscheibe in Baden-Baden posieren.

Wer’s weiß, kann dies gern über die Kommentarfunktion kundtun, die Information wird dann naürlich in den Blogeintrag aufgenommen. Wäre nicht das erste Mal, dass sich so mehr über die Aufnahmesituation oder auch das Auto herausfinden ließe…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

Fund des Monats: Ein Dixi Typ T7 von 1905

Heute beschäftigen wir uns mit einem außerordentlich seltenen Fahrzeug – nur 60 Stück sollen davon entstanden sein. Außerdem geht es weit zurück in die Frühzeit des Automobils, ins Jahr 1905.

Damals vollzog sich die Entwicklung des Kraftfahrzeugs in unvorstellbarem Tempo: Fünf Jahre entsprachen einer ganzen Fahrzeuggeneration, und ein zehn Jahre alter Wagen war so veraltet wie heute einer aus den 1970er Jahren.

Was war das Geheimnis dieses enormen Innovationstempos? Hier kommen mehrere Dinge zusammen:

  • Der Wichtigste ist der, dass nach der Erfindung des Automobils rasch hunderte – später tausende (!) – Firmen an der Weiterentwicklung arbeiteten. Dem stehen heute weltweit nur noch ein gutes Dutzend relevanter Hersteller gegenüber.
  • Hinzu kam, dass es in vielen Ländern, die heute kaum noch führende Technologie zustandebringen, England oder Belgien beispielsweise, eine hochentwickelte Industrie und eine bedeutende Ingenieurstradition gab.
  • Ein weiterer Faktor war die Unternehmensgröße – in kleinen und mittleren Firmen waren die Entscheidungswege kürzer. Für Bedenkenträger gab es seinerzeit keinen Platz – bremsende Rechts- und Complianceabteilungen kannte man nicht.
  • Außerdem war der Chef oft (Mit)Eigentümer, Risikoträger und Profiteur zugleich. Heute stehen Angestellte an der Spitze der Autokonzerne, die risikofrei Millionengehälter beziehen und bei jeder Entscheidung tausend Vorschriften beachten müssen. Für unternehmerischen Mut fehlt schlicht der Anreiz.
  • Nicht zuletzt: In der Pionierzeit des Automobils vollzog sich die Entwicklung ohne politische “Lenkung”. Keine Steuergelder wurden dafür missbraucht, bestimmte Firmen oder technische Lösungen zu begünstigen. Planwirtschaftliche Vorgaben kannte man nicht. Offenbar wusste man damals noch, dass sich technologische Innovation nicht vorhersehen oder gar von Politikern “gestalten” lässt…

Nach dieser angesichts heutiger Verhältnisse leider notwendigen Vorrede blenden wir nun über 110 Jahre zurück und erfreuen uns an diesem Anblick:

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Dixi T7; Originalfoto aus Besitz der Familie Knut und Edith Nicolaus

Dieses herausragende Dokument stammt aus dem Familienalbum von Knut Nicolaus, der uns das Bild großzügigerweise zur Verfügung gestellt hat.

Die Aufnahme zeigt seine Großeltern auf einer Postkarte, die an die Verwandschaft ging und anhand des Poststempels auf 1905 datiert werden kann.

Übrigens sieht man im unteren Drittel Anzeichen einer beginnenden Auflösung des Abzugs – auch das ein Grund, es in digitaler Form der Nachwelt zu erhalten.

Wie sich zeigen wird, muss die Aufnahme entstanden sein, als der abgebildete Wagen noch so gut wie neu war – wir können die Bauzeit recht genau eingrenzen. Allerdings war zuvor einige Fleißarbeit zu erledigen.

Der erste Gedanke war der, dass dies ein Wagen eines französischen Herstellers sein könnte. Die Industrie in Frankreich war um die Jahrhundertwende führend im Automobilbau und vergab auch Lizenzen an etliche deutsche Firmen.

In Frage dafür kamen dafür vor allem DeDion, Darracq, Decauville und Panhard. Hier haben wir eine schöne Aufnahme aus dem Elsass, die zwei Panhard-Wagen zeigt:

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Panhard-Wagen um 1902/03; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bei dem linken Panhard meint man eine ganz ähnliche Kühlerkonstruktion wie auf dem Foto der Familie Nicolaus zu erkennen – verrippte Kühler”schlangen”, die mit Metallbändern zusammengehalten werden.

Doch die genauere Betrachtung zeigt eine andere Gestaltung der Kühlerpartie. So werden die Kühlerschlangen hier nicht nach unten breiter, zudem reichen sie bis unter den Rahmen hinab:

Dixi_T7_Nicolaus_Frontpartie

Auch Vergleiche mit anderen französischen Wagen nach der Jahrhundertwende lieferten keinen Treffer.

So blieb einmal mehr, die naheliegendste Möglichkeit in Betracht zu ziehen: Ein Auto auf einer deutschen Postkarte der Zeit vor dem 1. Weltkrieg ist wahrscheinlich auch eines aus deutscher Produktion.

So ging der Verfasser daran, die Literatur mit Fotos und Prospektbildern zeitgenössischer Wagen aus dem deutschsprachigen Raum zu durchforsten.

Dass sich am Ende ausgerechnet in einem Buch zu BMW-Automobilen ein zu 100 % übereinstimmendes Fahrzeug finden ließ, übertraf alle Erwartungen. Dazu muss man anmerken, dass besagtes Werk von Altmeister Halwart Schrader auch die Geschichte der einstigen Eisenacher Marke Dixi abdeckt.

Dixi bzw. die Vorläufermarke Wartburg hatte bereits Ende des 19. Jahrhunderts mit Automobilen experimentiert und erwarb dazu eine Lizenz von Decauville, die die Grundlage für eigene Konstruktionen darstellte.

Schon 1902 baute Dixi ein Vierzylindermodell mit 5-Gang-Getriebe, wohl dem ersten der Automobilgeschichte. Doch vernachlässigte man auch das Einsteigersegment nicht. 1904 entstand so der Einzylindertyp T7, und das ist genau der Wagen, um den es sich bei unserem Fund des Monats handelt!

Das BMW-Buch von Halwart Schrader zeigt auf S. 107 zwei Karosserievarianten dieses bis 1907 gebauten Typs – einen offenen Zweisitzer und ein darauf basierendes Coupé.

Man findet auf den dortigen Prospektabbildungen alle Details unserer Aufnahme wieder – bis hin zum mittig zwischen den Vorder- und Heckschutzblechen angebrachten Batteriekasten:

Dixi_T7_Nicolaus_Insassen

Ein hübsches Detail ist die Ballhupe, die hier offenbar am Lenkrad angebracht ist – demnach dürfte die Lenkung sehr direkt ausgelegt gewesen sein, andernfalls wäre die Hupe sicher störend gewesen.

Besonderen Reiz gewinnt diese Aufnahme nicht zuletzt durch das schön getroffene  Besitzerpaar, das hier mit verhaltenem Ernst posiert, während hinter der Plattenkamera jemand sein Werk verrichtet.

Dafür, dass Automobilfotografie ein noch sehr junges Genre war, hat er hier vorbildliche Arbeit geleistet – schräg von vorn und mit den stolzen Besitzern – so wünscht man sich die historische Aufnahme solch’ einer frühen “Benzinkutsche”. 

Dass so ein aus heutiger Sicht einfach wirkender Wagen tatsächlich bereits mehr vermochte als jede Kutsche, wird schon an den technischen Daten deutlich: Der Dixi T7 mit seinem 9 PS leistenden 1-Zylinder war für ein Spitzentempo von 40 km/h gut.

Im Vergleich zur Masse, die per pedes oder allenfalls mit dem Fahrrad unterwegs war, befand man sich damit anno 1905 schon in einer herausgehobenen Position. Die hatte freilich ihren Preis: Das Auto kostete damals rund 4.000 Mark – eine stattliche Summe.

Laut Literatur sind vom Dixi T7 nur rund 60 Exemplare entstanden – der Leser mag daran ermessen, wie außerordentlich selten ein Originalfoto eines solchen Wagens nach mehr als 110 Jahren sein muss.

Solche Schätze den Freunden von Vorkriegsautos zugänglich zu machen, das ist eine ganz wesentliche Motivation hinter diesem Blog. Und es ist nicht das erste Mal, das wir ein herausragendes Fundstück der Sammlung oder dem Album eines Lesers verdanken.

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Verblassende Erinnerungen: Bilder des Tatra T11/12

Die Beschäftigung mit historischen Fotos von Vorkriegsautos im deutschsprachigen Raum konfrontiert einen unweigerlich mit Dokumenten, die an die fatalen Konflikte mit unseren Nachbarn in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnern.

Ob es das Hin und Her um das Elsass war oder die Grenzverschiebungen im einstigen österreichisch-ungarischen Imperium nach dem 1. Weltkrieg – immer wieder fand sich die betroffene Bevölkerung ungefragt unter neuen Herrschern wieder.

Ein Beispiel dafür ist das Schicksal der Deutschen in den ehemaligen Provinzen Böhmen, Mähren und Österreichisch-Schlesien, denen 1919 von den Siegermächten des 1. Weltkriegs das Völkerrecht auf Selbstbestimmung genommen wurde.

Mehrere Millionen Deutsche mussten danach im Vielvölkerstaat Tschechoslowakei zurechtkommen. Dass dies immer schärfere Konflikte heraufbeschwor, lehrt uns der Fortgang der Geschichte, doch im Alltag gab es auch friedliche Überschneidungen.

Davon kündet diese schöne Aufnahme aus Böhmen:

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Tatra T12; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf vielen Fotos jener Zeit finden sich Situationen wie diese: Deutsche, die in einem Wagen eines tschechischen Herstellers – hier eines Tatra T12 – posieren.

Kein Wunder – im Automobilsektor gab es von jeher eine fruchtbare Zusammenarbeit zwischen Tschechen und Deutschen. Die Firma Tatra ist ein gutes Beispiel dafür.

Im Vorgängerunternehmen, der Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft, entfaltete Hans Ledwinka von 1897 bis 1917 und von 1921 bis 1945 eine rege Tätigkeit.

Die Leistungen der 1923 in Tatra umbenannten Firma sind untrennbar mit seinem Namen verbunden. Die neuen Herren im Unternehmen wussten seine Fähigkeiten offensichtlich zu schätzen.

Nach seiner Rückkehr 1921 konstruierte Ledwinka als erste Großtat den Tatra T11, der mit seinem luftgekühlten Zweizylindermotor damals für Aufsehen sorgte. Ab 1926 wurde der Wagen mit Vierradbremsen als Tatra T12 angeboten.

Mit einem solchen Modell haben wir es hier offensichtlich zu tun:

Tatra_T12_Böhmen_Frontpartie

Sehr schön ist hier zu sehen, dass Tatra nicht versuchte, dem Wagen eine Kühlerattrappe zu verpassen, sondern eine eigenständige Gestaltung der Frontpartie zuwegebrachte.

Das 1100ccm messende Aggregat leistete 12 PS, was für eine  Höchstgeschwindigkeit von gut 70 km/h genügte.

Man muss das im richtigen Kontext sehen: 95 % der Bevölkerung im deutschsprachigen Raum konnten bereits froh sein, wenn sie ein Fahrrad oder Motorrad besaßen – ein eigenes Automobil war geradezu ein Privileg.

Auf den damaligen Pisten würde auch der Besitzer eines modernen Wagens kaum mehr als 70 Stundenkilometer fahren wollen. Eine Autobahn gab’s damals noch nicht.

So konnte Tatra seinen kompakten und leichtgewichtigen Typ T 11 von 1923-25 problemlos in einigen tausend Exemplaren an den Mann bringen.

Man stößt auf den verblassenden Aufnahmen aus deutschen Fotoalben jener Zeit, die die Vertreibung ihrer Besitzer aus der Heimat ab 1945 überlebt haben, immer wieder auf Bilder, die einen Tatra T11 oder T12 zeigen:

Tatra_T11_Langdorf_1933_Galerie

Tatra T11 oder T12; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Nun mag einer sagen, dass dieser Wagen alles mögliche sein kann. Die Scheibenräder mit vier Radmuttern gab es damals beispielsweise auch beim 4 PS-Modell von Opel.

Richtig, aber den eigenwilligen Schwung des hinteren Kotflügels und die weit nach oben reichenden Luftschlitze findet man bei zeitgenössischen Opel-Wagen nicht.

Außerdem besitzen wir eine weitere Aufnahme des (vermutlich) selben Wagens – man beachte die Ähnlichkeit der jungen Männer auf den Fotos:

Tatra_T11_2_Galerie

Tatra T11 oder T12; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier erkennt man ganz klar die kühlerlose Fronthaube, an die sich die junge Dame – vermutlich die Schwester unseres feschen Tatra-Fahrers – lehnt.

Sachkundige Leser können sicher auch etwas zum Nummernschild des Wagens sagen.

Ob das Auto bereits über Vorderradbremsen verfügt – dann wäre es ein T12 statt eines T11 – oder nicht, soll hier nicht diskutiert werden.

Stattdessen schauen wir uns eine weitere Aufnahme des Tatra T11 bzw. 12 an, die es in die Gegenwart geschafft hat:

Tatra_T11_oder_12_Galerie

Tatra T11 oder T12; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir einen Tatra des Typs T11 oder T12, der einst anlässlich des Baus eines großzügigen Hauses zusammen mit dem mutmaßlichen Bauherrn und mehreren Handwerkern abgelichtet wurde.

Auch wenn man von dem Wagen nicht allzuviel sieht, ist das eine reizvolle Aufnahme. Der gutbetuchte Hausbesitzer war sich nicht zu schade dafür, auf einem Foto mit schmutzigem Anzug und von der Arbeit gezeichneten Männern zu posieren.

Ob links außen seine Frau und der kleine Sohn zu sehen sind, wissen wir nicht genau, die Wahrscheinlichkeit spricht aber dafür. Im Hintergrund sehen wir das vor der Fertigstellung stehende Haus im sachlichen Stil jener Zeit, der in den 1950er Jahren in nochmals vereinfachter Form fortlebte.

Nur wenige Jahre nach dieser Aufnahme folgte die Besetzung der mehrheitlich von Deutschen bewohnten Teile der Tschechoslowakei durch die Wehrmacht. Wie die Sache ausgegangen ist, verraten die Geschichtsbücher.

Man fragt sich bei diesen Aufnahmen, was wohl aus den Menschen, den Autos und dem Haus geworden ist. Letzteres hatte vermutlich die besten Überlebenschancen…

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Vollendeter Auftritt: Ein Adler “Diplomat” Cabriolet

Heute kommen wieder einmal die Freunde der einst hochangesehenen Frankfurter Marke “Adler” auf ihre Kosten – und das gleich mit einem der seltensten Modelle der 1930er Jahre, einem Adler “Diplomat”.

Wer sich mit den Adler-Typen jener Zeit nicht auskennt, hat vom “Diplomat” wohl noch nie gehört – es wurden davon ab 1934 auch nur wenige tausend Stück gebaut.

“Den” Adler der 1930er Jahre schlechthin kennt dagegen jeder, der sich für deutsche Vorkriegsautos erwärmen kann, die Rede ist vom “Trumpf Junior”. Hier haben wir ein Exemplar auf einer schönen, bislang unveröffentlichten Originalaufnahme:

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Adler “Trumpf Junior”; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Viel besser hätte die Werbeabteilung das Volumenmodell von Adlerrund 100.000 wurden davon gebaut – auch nicht treffen können.

Schräg von vorn kommt das Adler-Emblem an dieser Cabrio-Limousine perfekt zur Geltung. Die beiden Herren mit Fahrerhaube machen durchaus den Eindruck, dass sie zufrieden mit ihrem 25 PS leistenden modernen Fronttriebler sind.

Wer übrigens eine Idee hat, wo sich die Kirchen- oder Klosterruine im Hintergrund befindet, kann dies über die Kommentarfunktion kundtun.

Nun aber zurück zum raren Adler “Diplomat”, von dem wir bislang überhaupt nur ein Exemplar zeigen konnten, dieses hier:

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Adler “Diplomat” Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Den eindrucksvollen Wagen hatten wir vor einiger Zeit hier vorgestellt. Dabei sind wir auch ausführlich auf den Ursprung und die besonderen Qualitäten dieses 6-Zylindermodells eingegangen.

Deshalb verzichten wir an dieser Stelle auf eine ausführliche Besprechung des Typs an sich – und widmen uns stattdessen einer Karosserievariante des Adler “Diplomat”, die nach Meinung des Verfassers das Attribut “formvollendet” verdient.

Leider wissen wir bislang nicht, welcher Karosseriebaufirma wir dieses Prachtstück zu verdanken haben:

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Adler “Diplomat”; Orignalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So repräsentativ die Limousine auch wirkt, so elegant kommt dieses 4-Fenster-Cabriolet daher. Es soll auch eine zweifenstrige Version gegeben haben – im Fundus des Verfassers findet sich aber bislang noch keine entsprechende Aufnahme.

Selbst Fotos dieser offenen Ausführung sind ausgesprochen selten, zumal es sich um die nur 1934 gebaute Variante handelt.

Diese ist an den schüsselförmigen Scheinwerfergehäusen (später tropfenförmig) und den ausstellbaren Luftklappen in der Motorhaube zu erkennen, außerdem an der wie beim “Trumpf Junior” nur leicht geneigten Kühlermaske:

Adler_Diplomat_Cabriolet_Frontpartie

Auf dieser Ausschnittsvergrößerung kann man auf der Radkappe deutlich “Adler Diplomat” lesen, sodass formal ähnliche Wagen wie der Hanomag “Sturm” ausscheiden.

Leider ist der Abzug im Bereich zwischen A-Säule und Ersatzrad beschädigt, doch die Qualität des Aufbaus ist auch so bemerkenswert. Was besticht, ist die Klarheit der Karosserieelemente, die wie gemeißelt wirken.

Ob die präzise Sicke entlang des Vorderschutzblechs, die Ausschnitte der Luftklappen oder die seitliche Zierleiste, die die Gürtellinie des Wagens akzentuiert, alles wirkt konzentriert, schlüssig und selbstverständlich.

Gerade Linien werden so weit wie möglich vermieden, selbst der Türgriff weist einen leichten Schwung auf und die seitliche Zierleiste wird nach hinten breiter.

Wunderbar dann der Verlauf der nach hinten erst leicht abwärts- und dann wieder aufwärtsschwingenden Linien unterhalb der Seitenfenster und der kurvige Abschluss der Fahrgastzelle oberhalb des Trittbretts:

Adler_Diplomat_Cabriolet_Heckpartie

Diese leicht gegenläufigen Bögen erzeugen Spannung im Wagenkörper, vermeiden die öde Gleichförmigkeit paralleler Linien und rechter Winkel.

Wie hier das Karosserievolumen spannungsreich und dennoch im Einklang mit der Funktion der einzelnen Elemente gestaltet ist, verrät eine meisterliche Hand. Das gilt gleichermaßen für die Zeichner des Aufbaus wie für die Arbeiter, die diese organischen Formen mit ihren Händen schufen.

Denn solch eine Blechskulptur fiel nicht aus irgendeiner Stanze und wurde auch nicht über einer Abkantbank in simple Form gezwungen – so etwas war Stilsicherheit pur und Kunsthandwerk vom Feinsten.

Nun betrachte man sich, was heutzutage von vielen Herstellern an “Design” produziert wird, das von irgendwo beginnenden und im Nichts endenden Sicken und Falzen geprägt ist, das mit plump aufgesetzten Plastikelementen und grotesk überzeichneten Lufteinlässen und Auspuffpartien daherkommt.

Wer sich fragt, was die Magie der wirklich alten Autos ausmacht, findet hier eine Antwort.

So wie eine Violine irgendwann ihre vollendete Form fand (das ist schon ein paar Jahrhunderte her) so markieren auch die Autos der 1930er Jahre in den gelungensten Fällen eine formale Vollkommenheit, an der es nichts zu verbessern gibt.

Mit dem “Diplomat” von 1934 erreichte Adler in gestalterischer Hinsicht einen Grad der Vollendung, dem nichts Vergleichbares mehr folgen sollte.

Wenn jetzt noch jemand belegen könnte, wer der Hersteller dieses wunderbaren Cabriolet-Aufbaus war, wäre das Glück perfekt…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

Ganz schön exklusiv: Ein NAG D4 10/45 PS Tourenwagen

Wer diesen Oldtimerblog für Vorkriegswagen schon ein wenig länger verfolgt, vermisst vielleicht “Neuigkeiten” zur einstigen Berliner Marke NAG, für deren charakteristische Wagen der Verfasser seit jeher eine Schwäche hat.

Der letzte NAG, den wir hier präsentiert haben, war ein Typ C4 10/30 PS, wie er von 1920-24 in für deutsche Verhältnisse beachtlichen Stückzahlen gebaut wurde – zur Klarstellung: die Rede ist von wenigen tausend Exemplaren…

In der NAG-Galerie finden sich eine ganze Reihe von Originalfotos dieser robusten Wagen aus dem AEG-Konzern, beispielsweise dieses hier:

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NAG Typ C4  10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Aufnahme ist zwar etwas verwackelt, doch sind alle wesentlichen Details gut wiedergegeben:

  • der NAG-typische Ovalkühler mit mittigem Knick,
  • das sechseckige NAG-Emblem auf der Stange zwischen den Scheinwerfern und
  • die in der unteren Haubenhälfte eingeprägten breiten Luftschlitze.

Der Betrachter merke sich außerdem die Form der spitz auslaufenden Schutzbleche, die beim oben abgebildeten Wagen links und rechts auffallend unterschiedlich sind.

Nun aber zu dem NAG, um den es heute eigentlich geht:

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NAG Typ D4 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Klarer Fall, möchte man meinen: Spitz zulaufender Ovalkühler – ganz sicher ein NAG der 1920er Jahre. Aber auch ein Typ C 10/30 PS?

Nun, auf den ersten Blick dachte der Verfasser an dieses Modell, das sich so oft auf Fotografien der wilden 1920er Jahre findet.

Verfolgte NAG damals nicht wie einige andere deutsche Hersteller eine “Ein-Typen-Politik”? Das war die freundliche Umschreibung dafür, dass man nach dem 1. Weltkrieg nur ein Modell in halbwegs rationeller Form zu fertigen imstande war.

Die Konkurrenz von der Siemens-Tochter Protos machte das seinerzeit so mit dem gleichnamigen Typ C 10/30 PS; selbst Horch aus Zwickau bot nur ein Modell an.

Fast schien es, als sei die Aufnahmesituation das einzig Besondere an dem NAG, doch wie im wirklichen Leben lohnt es sich, vermeintliche Gewissheiten in Frage zu stellen. Der erste Reflex ist oft der richtige, aber nicht immer, so auch hier:

NAG_D4_Tourer_Verdeck_Galerie2

Dass dieser NAG ohne Scheinwerferstange und Markenplakette daherkommt und ihm auch die kleinen Lampen zur Ausleuchtung des Straßenrands fehlen, mag für sich noch nicht viel besagen.

Doch die völlig abweichende Gestaltung der Vorderschutzbleche, die rund statt spitz auslaufen und ein ausgeprägtes Profil zur Stabilisierung aufweisen, hat Gewicht.

Keiner der NAG C-Typen, die dem Verfasser bislang untergekommen sind, weist diese Besonderheiten auf. Dafür gibt es eine Aufnahme in der NAG-Galerie, bei der alles passt, und zwar diese:

NAG_Typ_D_10-45 PS_Frontpartie

NAG Typ D 10/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir dieselbe Gestaltung der Vorderschutzbleche und ein aufgesetztes Blech mit hohen schmalen Luftschlitzen in der Motorhaube.

Leider können wir die Gestaltung der Haubenschlitze beim NAG auf unserem Foto nicht erkennen, doch spricht alles dafür, dass auch er einer der selten abgebildeten D-Typen ist, die 1924 die Nachfolge des C-Typs antraten.

Unter der Haube hatte sich trotz kaum veränderten Hubraums von 2,6 Liter Entscheidendes getan: Hängend im Zylinderkopf angebrachte Ventile erleichterten den Gaswechsel deutlich, wodurch die Höchstleistung um satte 50 % zunahm.

Die Spitzenschwindigkeit des Typs D4 10/45 PS stieg gegenüber dem Typ C4 10/30 PS von 75 auf 90 km/h – bei den damaligen Straßenverhältnissen mehr als ausreichend.

Bis 1927 baute NAG den leistungsgesteigerten und optisch leicht modernisierten Typ D – vermutlich eines der am längsten gebauten Spitzkühlermodelle überhaupt.

Wer die 11.000 Reichsmark für den Tourenwagen aufbringen konnte – für eine Limousine waren sogar fast 15.000 Mark zu berappen – dem war auch sonst ein exklusiver Lebenswandel möglich.

Unser Foto belegt das trotz der ländlichen Umgebung sehr schön:

NAG_D4_10-45 PS_Personen Diese Herrschaften haben sich gerade ausgehfein gemacht – oder sind am Morgen noch in Sektlaune von einer Feier zurückgekehrt.

Was genau der Anlass war, um teilweise im schicken Abendkleid bzw. Smoking auf Automobil oder Motorrad zu posieren, wissen wir leider nicht.

Doch ist in solchen alten Aufnahmen soviel Leben drin, fast meint man dabei zu sein nach über 90 Jahren. Es sind Zeugnisse wie dieses, die uns die Fahrzeuge der Vorkriegszeit nahebringen wie das kein steril präsentiertes Museumsstück schafft.

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Aus dem Familienalbum: BMW 320 Cabriolet

Heute bringen wir eine hübsche Reihe zusammengehöriger Fotos eines BMW 320 Cabriolets, das den 2. Weltkrieg im Rheinland überlebt hatte und das von seinen Besitzern noch einige Jahre lang zu Ausflügen eingesetzt wurde.

Die Aufnahmen sind keine Meisterwerke, vermitteln aber etwas von der Wertschätzung eines treuen alten Familienmitglieds auf vier Rädern in der Nachkriegszeit.

Das darin dokumentierte BMW-Modell ist für die Geschichte der Marke von Bedeutung, spiegelt es doch die neue Linie wider, die ab 1936 mit dem Typ 326 definiert wurde:

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BMW 326 der Luftwaffe in Ahrweiler; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Mit den fast schon mit der Karosserie verschmelzenden Schutzblechen, der Knickscheibe und der dynamischen Gestaltung der seitlichen Luftschlitze war der Typ 326 wohl stilprägender als jeder bis dahin erschienene BMW.

Mit dieser unverkennbaren Optik ließ BMW die Vorgängermodelle weit hinter sich, die zwar schon die Doppelniere trugen, ansonsten aber wenig eigenständig erschienen:

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BMW 319; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese BMW-Limousine des Typs 319 haben wir hier vorgestellt, auch sie übrigens auch ein Überlebender des 2. Weltkriegs.

Der Nachfolger dieses brav anmutenden 6-Zylinder-Modells mit 45 PS brachte zwar technisch wenig Neues mit sich, wirkte aber mit der vom BMW 326 inspirierten Karosserie wie ein Vertreter einer neuen Generation.

Hier haben wir den ab 1937 gebauten BMW 320 als Cabriolet – das Foto ist zugleich der Auftakt zu einem reizvollen Ausflug, den uns die Fotos aus einem längst zerfledderten Familienalbum ermöglichen:

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BMW 320 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer sich fragt, wie man dieses Fahrzeug vom BMW 326 oder 321 oder 329 unterscheiden soll, sei auf die Position des Türgriffs verwiesen. Nur beim BMW 320 waren die Türen wie heute üblich vorn “angeschlagen”.

Auf obiger Aufnahme fällt ansonsten auf, dass der Wagen Scheibenräder und nicht – wie an sich zu erwarten – gegossene Stahlspeichenräder besitzt. Möglicherweise stammen sie von einem anderen Fahrzeug.

Die glänzenden Radkappen verweisen zudem auf eine intakte Verchromung, was auf den folgenden Fotos anders aussieht.

Hier haben wir nun dasselbe Auto bei einem Ausflug auf ländlichen Nebenstraßen irgendwo im deutschen Mittelgebirge:

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BMW 320 Cabriolet; Orignalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wie man bei genauer Betrachtung erkennt, scheute man sich seinerzeit nicht, auf unbefestigten Wegen die Landschaft zu “erfahren”.

Der Fotograf ging für diese Aufnahme in die Hocke und hat wohl einige Gräser im Vordergrund übersehen, die die dritte Person neben dem BMW verdecken. Wer wäre bei dieser Ansicht darauf gekommen, dass man einen BMW 320 vor sich hat?

Auf folgendem Foto sieht man immerhin die vorn angeschlagene Tür wieder, sodass man zusammen mit den schemenhaft erkennbaren Luftschlitzen in der Motorhaube auf den BMW 320 kommen könnte:

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BMW 320 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch diese Aufnahme lässt erkennen, dass man einst beim “Autowandern” auch vor Schotterpisten nicht zurückschreckte.

Außerdem zeichnet sich hier das Besatzungskennzeichen mit dem Kürzel “BR” für “Britische Besatzungszone Rheinland” ab.

Interessant ist die nächste Aufnahme aus derselben Reihe. Sie zeigt ebenfalls einen BMW aus der zweiten Hälfte der 1930er Jahre, aber mit anderer – nicht originaler – Lackierung und abweichendem (Besatzungs-)Kennzeichen:

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BMW 320 (?) Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Eventuell zeigt das Foto denselben Wagen zu einem anderen Zeitpunkt und mit (umzugsbedingt) abweichendem Nummernschild.

Von der Optik her könnte es auch ein BMW 329 oder 326 sein. Wo mag diese Aufnahme entstanden sein? Vielleicht in der Eifel?

Wie auch immer – hier haben wir wieder “unseren” BMW 320 mit bereits dokumentierten Insassen, nun mit interessantem Einblick in den Innenraum:

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BMW 320 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Was hat die Dame auf der Rückbank in der Hand? Ein Teil einer Kamera? Überzeugende Erklärungen werden gern in den Blog-Eintrag aufgenommen.

Auch die folgende Aufnahme zeigt den BMW 320 mit der Kennung “735 458” auf dem Kennzeichen der britischen Besatzungszone Rheinland.

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BMW 320 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bemerkenswert ist hier das Fehlen des Nebelscheinwerfers auf dem gebogenen Halter oberhalb der Stoßstange. Auf dem vorletzten Foto sahen wir einen solchen Halter mit Scheinwerfer – ein Hinweis darauf, dass es ein und dasselbe Auto ist?

Nun folgt eine Aufnahme aus dieser Reihe, die für regelmäßige Leser dieses Blogs einen gewissen Wiedererkennungswert haben dürfte. Denn dieses Foto entstand wenige Jahre nach Kriegsende vor dem unversehrt geblieben Hauptportal des Kölner Doms:

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BMW 320 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer auch immer diese Aufnahme gemacht hat, fing gezielt den Teil der Westfassade der Kathedrale ein, die zum Glück kaum Schaden während der alliierten Bombardements der Kölner Altstadt nahm.

Nur ganz links außen sieht man einige Figuren, die ob des irrsinnigen Kriegsgeschehens den Kopf verloren hatten… Die im unbeholfenen Stil der frühen 1950er Jahre improvisierten Portale sind zum Glück später wieder korrigiert worden.

Unklar ist, wo das letzte Foto des BMW 320 Cabriolets aus dieser Reihe entstand:

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BMW 320 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier passt der Erhaltungszustand des Abzugs sehr gut zum Motiv: ein ziemlich mitgenommener BMW 320 vor einer von Granateinschlägen oder Sprengbomben schwer gezeichneten barocken Kirchenfassade.

Weiß ein Leser, wo diese Aufnahme wenige Jahre nach Kriegsende entstanden ist?

Damit endet unser Ausflug im BMW 320 Cabriolet, der irgendwann in der frühen Nachkriegszeit begann und der Wahrscheinlichkeit nach zu urteilen auf einem Schrottplatz der 1950/60er Jahre endete.

Für uns Betrachter im 21. Jahrhundert, für die jeder Weltwinkel mühelos erreichbar ist, mögen die kleinen Fluchten aus dem Alltag, die so ein Wagen ermöglichte, bescheiden anmuten – doch damals war so etwas für die meisten Deutschen ein unerreichbarer Luxus.

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1917 in Wilna: Hoher Besuch im Heeres-Mercedes

Auch wenn es noch zu früh für den Fund des Monats ist, wollen wir uns heute mit einer außerordentlichen Aufnahme beschäftigen, die für Freunde von Vorkriegswagen in vielerlei Hinsicht ein besonderer Genuss sein dürfte.

Die Mercedes-Fraktion – aber sicher nicht nur sie – wird mit einem prachtvollen Spitzkühlermodell verwöhnt, ebenso kommen die historisch am deutschen Kaiserhaus und am 1. Weltkrieg Interessierten auf Ihre Kosten.

Darüber hinaus ist es schlicht begeisternd, was sich aus einer über 100 Jahre alten Aufnahme an Details herauslesen lässt – dank eines Netzwerks an sachkundigen Lesern.

Nun aber erst einmal hinein ins pralle Leben:

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Mercedes mit Kaiser Wilhelm in Wilna; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Diese eindrucksvolle Aufnahme verschickte im August 1917 ein Vizefeldwebel Krienke als Feldpostkarte an seine Frau in Hamburg.

Der Karte ist der genaue Aufnahmeort nicht zu entnehmen, angegeben ist nur die Truppenzugehörigkeit des Absenders.

Er gehörte zu einer Munitionsversorgungseinheit der 10. Armee, die seit 1915 unter dem Kommando von Hermann von Eichhorn an der Ostfront eingesetzt war und dort die nach Ostpreußen eingebrochene russische Armee zurückgeworfen hatte.

Zum Zeitpunkt unserer Aufnahme zeichnete sich an der Ostfront bereits die endgültige Niederlage Russlands ab, die noch 1917 in einen Waffenstillstand münden sollte.

Vizefeldwebel Krienke verrät in den wenigen Zeilen an seine Frau, wer in dem Mercedes zu sehen ist – mit etwas Geschichtskenntnis hätte man es aber auch so erkannt:

Mercedes_Kaiser_Wilhelm_08-1917_Ausschnitt1

Wer sich hier gerade nachdenklich den Schnauzbart glattstreicht, ist unverkennbar Kaiser Wilhelm II.

Leser Klaas Dierks verdanken wir die Information, dass daneben sein Generaladjutant Generaloberst Hans von Plessen sitzt, der zum engsten militärischen Kreis um den Kaiser gehörte. Mit über 75 Jahren war er 1917 der älteste diensthabende deutsche Offizier.

Vor lauter Prominenz wollen wir aber den mächtigen Mercedes nicht vergessen, in dem der Kaiser hier chauffiert wurde:

Mercedes_Kaiser_Wilhelm_08-1917_Ausschnitt2

Zwar ist dies kein Wagen aus dem kaiserlichen Fuhrpark – doch natürlich hat sich das Armeekommando nicht lumpen lassen.

Laut Aufschrift auf der Haube handelte es sich um Wagen Nr. 3 des Fuhrparks der 10. Armee. Das dürfte eines der repräsentativsten und leistungsfähigsten Automobile gewesen sein, die vor Ort verfügbar waren.

Apropos Ort: Auch wenn wir (noch) nicht genau sagen können, was für ein Mercedes-Modell wir hier vor uns haben, wissen wir doch genau, wo diese Aufnahme entstanden ist.

Die Situation ist nämlich in mehreren Fotos dokumentiert. Es handelt sich um den Besuch Kaiser Wilhelms in der litauischen Hauptstadt Wilna ab Ende Juli 1917.

Unser Foto zeigt laut der Postkarte von Vizefeldwebel Krienke den Kaiser bei der “Abfahrt am Bahnhofsgebäude”, d.h. kurz bevor er in den Zug zurück nach Berlin umstieg, der ihn dorthin gebracht hatte.

Und da der Verfasser ein Faible für die Details solcher Aufnahmen – und besonders die ganz normalen Menschen darauf – hat, hier noch ein Ausschnitt, der beweist, dass dieses Foto einst wirklich am Bahnhof entstand:

Mercedes_Kaiser_Wilhelm_08-1917_Ausschnitt3

Während links einige Offiziere durchs Bild huschen, stehen rechts neben der gusseisernen Säule des Bahnhofsvordachs stoisch zwei Männer.

Der jüngere davon salutiert mit Karabiner und aufgepflanztem Bajonett – er dürfte ein Soldat der 10. Armee gewesen sein. Daneben steht ebenfalls stramm und würdevoll ein deutlich älterer Mann, den die Armbinde wahrscheinlich als Vertreter der Bahnhofs-Kommandantur ausweist.

Er trägt eine 1917 zumindest beim Heer veraltete Pickelhaube und präsentiert sich mit zwei Medaillen auf der Brust. “Oje, hoffentlich macht mir keiner der jungen Burschen Schande, wenn der Kaiser den Zug besteigt”, so mag er sich gedacht haben.

Ob er und der Soldat neben ihm wohl auch Postkarten mit dem Foto dieses Ereignisses in die Heimat schickten? Gut möglich, und vielleicht existieren sie nach über 100 Jahren noch irgendwo und regen ebenso wie unsere Aufnahme die Fantasie an.

Man sieht: Die Beschäftigung mit Vorkriegswagen auf alten Fotos bringt einen oft genug auf spannende Abwege – und dazu tragen auch die Leser dieses Blogs bei.

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Abgesang einer PKW-Marke: Hanomag 1,3 Liter von 1939

Mit dem heutigen Blogeintrag setzen wir gewissermaßen den Schlußstein in der Dokumentation der einstigen PKW-Produktion von Hanomag.

Dann haben wir jedes Modell des Maschinenbauers aus Hannover mindestens einmal – in vielen Fällen öfters – anhand zeitgenössischer Originalfotos vorgestellt. Keine Sorge: Es wird immer wieder Gelegenheit geben, besonders reizvolle weitere Exemplare zu zeigen, darunter echte Exoten.

Die meisten Vorkriegsautofreunde mögen bei Hanomag-PKW an das possierliche “Kommissbrot” denken, mit dem 1925 versucht wurde, einen deutschen “Volkswagen” zu kreieren.

Der Versuch darf angesichts einer Produktion von etwas mehr als 15.000 Exemplaren in drei Jahren als gescheitert gelten.

Das Hanomag “Kommissbrot” ist ein Beispiel für die Sonderwege, die der deutsche Automobilbau seinerzeit beschritt, während in England mit dem Austin 7 und in Frankreich mit dem Citroen 5 CV längst massenmarkttaugliche Konzepte existierten – von den USA ganz zu schweigen.

Doch für den heutigen Betrachter sind solche Sackgassen oft von großem Reiz – dafür mag dieses Foto eines Hanomag “Kommissbrot” Cabriolet stellvertretend stehen:

Hanomag_2-10_PS_Cabrio_Ausschnitt1

Wenn der “rasende Kohlenkasten”, wie der Volksmund den Hanomag 2/10 PS auch titulierte, hier so modern wirkt, hat das zwei Gründe:

Zum einen kommt hier die Pontonkarosserie gut zur Geltung, die wohl erste in der Geschichte des Serienautomobils. Zum anderen hat der Besitzer des Wägelchens, vermutlich der Fotograf, sein Kommissbrot mit einer Stoßstange eines späteren Hanomag-Modells “aktualisiert”.

Die markant profilierte Stoßstange findet sich auch am erfolgreichsten Hanomag-PKW wieder, der in diesem Blog ein besonders häufiger Gast ist, dem Modell “Rekord”.

Leser Michael Mennigen verdanken wir diese schöne Aufnahme, die den Hanomag “Rekord” seiner Eltern zeigt:

Hanomag_Rekord_Michael Mennigen_Galerie

Im Unterschied zum Kommissbrot war das ein hochwertiger, leistungsfähiger und stilsicher gestalteter Mittelklassewagen – damit konnte man sich sehen lassen, das vermittelt diese Aufnahme sehr gut.

Der klassisch geformte Rekord wurde bis 1938 gebaut und wurde dann von einem völlig neu konzipierten Modell abgelöst, mit dem Hanomag der Anschluss an die damalige Mode der Stromlinienform gelang.

Damit waren trotz kleineren Motors (1300 statt 1500 ccm und 32 statt 35 PS) dennoch bessere Fahrleistungen möglich. Kurzzeitig waren an die 115 km/h drin, als Dauertempo wurden 100 km/h angegeben.

Die hochmoderne Karosserie war vielleicht nicht sonderlich elegant, brachte aber die Autobahntauglichkeit durchaus wirksam zum Ausdruck:

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Hanomag 1,3 Liter; Orignalfoto aus  Sammlung Michael Schlenger

Die Frontpartie findet sich ähnlich am Ford Buckeltaunus, ist hier aber geschmeidiger und weniger “amerikanisch” ausgeführt. Die Gestaltung der Fahrgastzelle erinnert zwar an den Volkswagen, doch besaß der Hanomag einen größeren Innenraum.

Mit 12 Volt-Elektrik und hydraulischen Bremsen war der Hanomag dem “KdF”-Wagen auch sonst überlegen und im Unterschied zu diesem verfügbar. Entsprechend selbstbewusst priesen die Werbeleute in Hannover das Modell an:

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Hanomag-Originalreklame von 1939 aus Sammlung Michael Schlenger

Trotz aller Meriten – der Hinweis “großer Kofferraum” dürfte wohl auf VW abgezielt haben – war der Hanomag 1,3 Liter mit über 3.000 Mark für die meisten “Volksgenossen” schlicht unerschwinglich.

Immerhin wurden noch mehr als 9.000 Exemplare ausgeliefert, bevor Hanomag die Produktion kriegsbedingt ganz auf Rüstungsgüter umstellen musste.

Wohl noch vor Kriegsausbruch ließ sich dieser Luftwaffensoldat auf Heimaturlaub mit einem Hanomag 1,3 Liter ablichten, der in ländlicher Umgebung intensiv genutzt wurde:

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Hanomag 1,3 Liter; Originalfoto aus  Sammlung Michael Schlenger

Wie die meisten privaten PKW wurden auch die Hanomag 1,3 Liter Wagen im Krieg entschädigungslos vom Staat beschlagnahmt und landeten im Militäreinsatz oft in Situationen, für die sie nicht gemacht waren.

Man darf davon ausgehen, dass sie sich dank robuster Machart dennoch ähnlich bewährt haben wie die zahlreichen Exemplare des Vorgängertyps Hanomag “Rekord”, die nach Kriegsende ihren meist neuen Besitzern noch treue Dienste leisteten.

Ein Beispiel für einen überlebenden Hanomag 1,3 Liter sehen wir hier:

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Dieser Wagen besitzt sogar noch seine Chromradkappen – vermutlich war er nie in Wehrmachtsdiensten, sondern gehörte einem der wenigen Besitzer, die dank unabweisbaren Bedarfs ihr motorisiertes Eigentum den Krieg über behalten durften.

Woher aber wissen wir, dass diese eine Nachkriegsaufnahme ist? Nun, die Szene ist ein Ausschnitt einer Postkarte, die jemand im September 1949 aus dem zerbombten Köln verschickte.

So ziemlich das einzige Postkartenmotiv aus der Domstadt war damals die glimpflich davongekommene gotische Kathedrale. Zwar wurde auch sie von zahllosen den umliegenden Wohngebieten zugedachten Bomben getroffen. Die offene Konstruktion mit großen Fenstern und die Stabilität der Strebepfeiler milderten aber die Wirkung der Sprengbomben ab, die ansonsten zuverlässig ganze Wohnblöcke einebneten.

Auch der Einsatz der Männer der Dombauhütte, die während der Bombenangriffe auf den Dächern ausharrten und so Brände frühzeitig löschen konnten, hat zur Rettung dieses mittelalterlichen Meisterwerks beigetragen.

So stellte sich das Westportal des Kölner Doms nach dem Krieg einigermaßen intakt dar:

Hanomag_1.3_Liter_Köln_Ak_08-1949_Galerie

Postkarte aus Köln von 1949 aus Sammlung Michael Schlenge

Diese Aufnahme ist auch deshalb interessant, da sie eine der wenigen ist, auf denen man einen direkten Vergleich zwischen dem Hanomag 1,3 Liter und dem später so erfolgreichen Volkswagen ziehen kann.

Auch wenn der VW hier als Behelfslieferwagen daherkommt – für sich genommen schon wieder etwas besonderes – ahnt man den Größenunterschied, speziell was den Innenraum angeht.

Auch fällt die dynamischere Linienführung des Hanomag auf, während der Volkswagen bodenständiger erscheint.

Der Verfasser, der lange Zeit selbst einen 1200er Käfer im Alltag mit Vergnügen gefahren ist (u.a., weil er sich um die Funktionsfähigkeit der an sich leistungsfähigen Heizung kümmerte) würde aus heutiger Sicht dem erwachseneren Hanomag 1,3 Liter den Vorzug geben, auch wenn dessen Benzinverbrauch etwas höher war.

Leider gelang Hanomag jedoch wie vielen deutschen Herstellern mit überzeugenden Fahrzeugkonzepten eines nicht: der Sprung in die Großserienproduktion. So blieb es nach dem Krieg bei einem halbherzigen Versuch, mit dem 1951 vorgestellten Prototyp des Hanomag “Partner” nochmals einen PKW zu bauen.

Wie im Fall von Adler fragt man sich, was gewesen wäre, wenn man nach dem Krieg wieder in den Automobilbau eingestiegen wäre. Aber diese Frage stellt man sich bei der Beschäftigung mit Vorkriegsautos ohnehin ständig: Was wäre gewesen, wenn?

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1928: Reizende Annäherung an den Protos Typ C 10/30 PS

Heute widmen wir uns einem alten Bekannten – dem Typ C 10/30 PS der einstigen Siemens-Tochter Protos mit Sitz in Berlin.

Das Modell war noch vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs vorgestellt worden. Mit seinem 2,6 Liter großen seitengesteuerten Vierzylinder war der Protos 10/30 PS technisch unauffällig, aber von solider Konstruktion und Verarbeitung.

Viele historische Fotos zeugen von der Verbreitung dieses Typs. Das eine oder andere findet sich bereits auf diesem Blog, weshalb wir uns dem Protos 10/30 PS diesmal auf Umwegen nähern werden.

Am Anfang steht folgende Aufnahme, die wahrscheinlich gar keinen Protos zeigt:

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unbekannter Tourenwagen um 1920; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So unwahrscheinlich es ist, dass wir jemals herausfinden, was für ein großzügiger Tourenwagen sich auf dem Foto versteckt, so reizvoll ist die Situation.

Vier Charakterköpfe haben wir hier – jeden davon könnte man sich als Schauspieler in einer Schwarz-Weiß-Komödie der Zwischenkriegszeit vorstellen. Vermutlich ist die Aufnahme kurz nach dem 1. Weltkrieg entstanden.

Die eigentümliche Mischung aus zivilen und militärischen Kleidungsstücken wirft Fragen auf. Wer ist noch Soldat (eventuell der in Leder gekleidete Fahrer), wer war es und trägt noch Reste des alten Daseins mit sich herum?

Nur bei den beiden Herren ganz links kann man sich sicher sein, dass sie Zivilisten sind. In dieser außergewöhnlichen Aufnahme ist nach fast 100 Jahren so viel Leben, dass man über das verdeckte Automobil gern hinwegsieht.

Dabei hätte es vielleicht schon genügt, wenn man einen Blick auf die Motorhaube erhaschen könnte. Hier ein Beispielfoto aus fast identischer Perspektive:

Protos_Typ_C_10-30_PS_1_Galerie

Protos Typ C 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So unglaublich es klingt: Trotz mäßiger Qualität sehen wir genug, um den Wagen als Protos Typ C 10/30 PS ansprechen zu können.

Diese These stützt sich auf zwei Dinge. Zum einen sind in der Haube zweimal vier Luftschlitze zu erkennen – typisch für den Protos 10/30 PS. Zum anderen besitzen wir einige weitere Fotos desselben Wagens.

Da wäre beispielsweise dieses hier:

Protos_Typ_C_10-30_PS_3_Galerie

Protos Typ C 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Zugegeben: Die Details des Wagens sind nicht das Erste, was den Betrachter hier anspricht. Die charmante junge Dame im Faltenrock und der gesetzte Herr im Auto – einmal mehr sind es die Menschen, die alten Autofotos Leben einhauchen.

Doch präge man sich die leicht schräg verlaufende Blechpartie unterhalb der Windschutzscheibe ein, ebenso das abgefahrene Profil der beiden Ersatzreifen und die Position der drei Befestigungsriemen.

Das findet sich auf folgender, weniger geglückten Aufnahme aus derselben Serie wieder:

Protos_Typ_C_10-30_PS_4_GalerieHier sind lediglich eine Mehrklangfanfare und ein Suchscheinwerfer dazugekommen. Außerdem sehen wir nun die oberen Enden von vier Luftschlitzen in der Haube.

Die Insassen scheinen andere zu sein, aber das will nichts heißen – wie gesagt: diese Bilder gehören zusammen, auch wenn sie zu unterschiedlichen Zeitpunkten entstanden.

Wer noch skeptisch ist, sei auf das nächste Foto verwiesen:

Protos_Typ_C_10-30_PS_2_GalerieWieder eine Aufnahme von einem wenig versierten Fotografen, aber entscheidend ist: Ganz klar dasselbe Auto mit identischen Insassen, nun mit der kompletten Frontpartie.

Und da sehen wir die zweimal vier Luftschlitze wieder, die auf dem ersten Foto dieser Serie zu erkennen waren, außerdem den markanten Protos-Kühler – dazu gleich mehr.

Das Beispiel zeigt, dass uninteressant erscheinende, technisch unvollkommene Fotos mitunter genug Informationen enthalten, um den abgebildeten Wagen zu identifizieren. Dem stehen brilliante Aufnahmen wie das eingangs gezeigte gegenüber, bei denen der Autotyp wohl für immer rätselhaft bleibt.

Für Genießer ist es am schönsten, wenn sich alles in einer Aufnahme vereint: ein klar ansprechbares Automobil aus vorteilhafter Perspektive, Besitzer und Passagiere sowie sonstige Staffage.

Das sieht dann beispielsweise so aus:

Protos_Typ_C_10-30_PS_a_Galerie

Protos Typ C 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Zur Klarstellung: Diese schöne Aufnahme zeigt denselben Wagentyp, aber nicht dasselbe Auto wie auf den vorangegangenen Fotos. Dafür ist hier der Protos-Spitzkühler in voller Pracht zu sehen, der wohl einzigartig gewesen sein dürfte.

Wenn nun der eine oder andere Leser sich genötigt fühlt, die übrigen Bilder noch einmal näher zu betrachten, dann ist das ganz die Absicht des heutigen Blog-Eintrags…

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“MODERNA” geht’s kaum: Lancia Lambda Spezialaufbau

Bei der Betrachtung zeitgenössischer Automobile fragt sich der Verfasser regelmäßig, ob wir eigentlich noch in der Moderne leben oder uns nicht schon wieder auf dem absteigenden Ast befinden.

Viele der in alle Himmelsrichtungen wuchernden Gefährte hätten noch vor 10  Jahren als Karikaturen gegolten – gezeichnet für kindliche Gemüter und ideal für einschlägige Zeichentrickfilme wie “Cars” (2006).

Die Zeichner dieser planlos zurechtgekneteten Vehikel müssen später in der Autoindustrie angeheuert haben, wo sie mit der seit längerem dahinsiechenden gestalterischen Tradition der Moderne endgültig aufgeräumt haben.

Zweifellos kommen die an Schützenpanzer erinnernden Proportionen heutiger SUVs vielen helmtragenden Zeitgenossen entgegen – Motto: “My car is my castle”.

Der Sicherheitsgewinn breit ausgestellter Radkästen und zentimeterdicker Plastikpaneele in Verbindung mit winzigen Fahrgast”zellen” wird aber zumindest in einer Hinsicht ins Gegenteil verkehrt: Man sieht nicht mehr, was draußen passiert.

Für die Hersteller von Sensoren und Kameras sind das herrliche Zeiten, denn ohne die von ihnen offerierten Helferlein wird das rückwärtige Einparken mit vierrädrigen Großstadtsauriern zum Abenteuer.

Wir könnten uns nun mit Fahrzeugen der 1960er Jahre befassen, die die Grundsätze der gestalterischen Moderne perfekt verkörperten – und neben formaler Klarheit und schlichter Eleganz beste Rundumsicht boten.

Letztlich sind die Ideen der Moderne aber alte Hüte, sie stammen aus der Zwischenkriegszeit. So gehen wir noch einen Schritt zurück, mitten in die 1920er Jahre.

Da gab es von der “CAROZZERIA MODERNA” aus Turin zum Beispiel das hier:

Lancia_Lambda_Carozzeria_Moderna_Torino_Galerie

Lancia Lambda; originales Werksfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Aufbau mag auf den ersten Blick gar nicht so ungewöhnlich erscheinen – ein viersitziger Tourenwagen mit seitlichen Steckscheiben, könnte man meinen.

Das Auge des Gourmets fällt daher eher auf die Frontpartie, die trotz verdeckter Kühlerpartie so typisch ist, dass die Identifikation des Wagentyps ein Kinderspiel ist.

Um nicht gleich mit der Tür ins Haus zu fallen, unternehmen wir einen kurzen Ausflug in die Moderne Gegenwart – zum Goodwood Revival Meeting 2017, um genau zu sein.

Dort gefiel dem Verfasser an einem der im strömenden Regen abgestellten Besucherfahrzeuge folgende Karosseriepartie besonders:

Lancia_Lambda_Goodwood_2017_Ausschnitt1

Lancia Lambda; Bildrechte: Michael Schlenger

Vertreter der “Besser als neu”-Fraktion werden jetzt etwas von “verheerenden Spaltmaßen” brummeln, aber solche Kritik perlt an diesem Zeitzeugen ab wie Regen…

Der Ausschnitt, der die gleichen Luftschlitze zeigt, die auf dem eingangs gezeigten Foto zu sehen sind, gehört nämlich nicht zu irgendeiner heruntergerittenen Vorkriegskiste, sondern zu einer Ikone des “modernen” Automobilbaus – einem Lancia Lambda.

Lancia_Lambda_Goodwood_2017.jpg

Lancia Lambda; Bildrechte Michael Schlenger

Wir haben dieses einst sagenhaft fortschrittliche Modell bereits hier und hier gepriesen, daher seine wichtigsten Verdienste an dieser Stelle nur im Telegrammstil:

  • Einzelradaufhängung rundum,
  • hydraulische Stoßdämpfer,
  • V4-Motor mit kopfgesteuerten Ventilen,
  • selbsttragende Karosserie,

und das alles schon 1923. Kein Wunder, dass der Lancia Lambda bis Anfang der 1930er Jahre aktuell blieb.

Trotz der konstruktiven Vorgaben des selbsttragenden Aufbaus versuchten sich diverse Karosserieschneider an diesem Traumwagen. Dabei blieb die Frontpartie meist unverändert wie auf unserem Foto:

Lancia_Lambda_Carozzeria_Moderna_Torino_Frontpartie

Außer der charakteristischen Anordnung der Luftschlitze auf dem elegant gestreckten Vorderwagen fallen hier auch die großdimensionierten vorderen Bremstrommeln ins Auge.

Sie trugen wie das hervorragende Fahrwerk und der niedrige Schwerpunkt zu den ausgezeichneten Qualitäten des Lancia Lambda als Sportwagen bei.

Doch im vorliegenden Fall handelt es sich um ein Exemplar, das keinen sportlichen Zwecken dienen sollte, sondern ausschließlich der repräsentativen Fortbewegung in einem mondänen Umfeld, in dem Sehen & Gesehenwerden zählten.

Damit wären wir nun bei dem Aufbau, bei dem die seitlichen Scheibenrahmen bei näherem Hinsehen nicht so recht zu einem klassischen Tourenwagen passen wollen:

Lancia_Lambda_Carozzeria_Moderna_Torino_Seitenpartie

Bei einem Vierfenster-Cabriolet wiederum würde man sich fragen, warum von den hinteren Seitenscheiben nichts zu sehen ist.

Zum Glück liefert das Foto selbst die Erklärung. Es handelt sich nämlich um eine originale Werksaufnahme von der “Carozzzeria Moderna” aus Turin, auf der einst jemand mit feiner Feder folgendes vermerkte:

“Torpedo con posti anteriori completamente chiusi da cristalli”

Ein “Torpedo” bezeichnete im italienischen Karosseriebau traditionell einen Tourenwagen, die “posti anteriori” sind die Vordersitze, die vollständig (“completamente”) mit Scheiben umschlossen (“chiusi da cristalli”) sind.

Somit haben wir hier die Besonderheit, dass Fahrer und Beifahrer bei geöffnetem Verdeck quasi im Freien saßen, aber die Fahrt dank Rundumverglasung zugfrei genießen konnten.

Dass das Ganze lediglich der Abschirmung des Chauffeurs dienen sollte, dürfen wir ausschließen. Dann hätte er ja die privilegierte Position gehabt, was einer Umkehrung des traditionellen Außenlenkers nahegekommen wäre, bei dem der Fahrer den Unbilden des Wetters ausgesetzt war und die Insassen geschützt waren.

Zur Veranschaulichung hier die Aufnahme eines bislang nicht identifizierten Außenlenkers:

evtl._Austro-Daimler_Galerie

unbekannter Außenlenker; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die extravagante Karosserieausführung für den Lancia Lambda dürfte sich an Selbstfahrer gewandt haben, die mit ihrer Partnerin möglichst windgeschützt unterwegs sein und gleichzeitig perfekte Rundumsicht haben wollten.

Die hinteren Sitze wären dann für weitere Passagiere vorgesehen gewesen, die man gelegentlich mitnahm, wenn es in die Oper oder ins Theater ging.

Übrigens war die “Carozzeria Moderna” aus Turin recht kurzlebig – sie scheint nur von der Mitte bis Ende der 1920er Jahre aktiv gewesen zu sein. Sie scheint aber eine Weile mit weiteren ungewöhnlichen Lösungen Furore gemacht zu haben.

In der spärlichen Literatur (“Forme e creativitá dell’ automobile – cento anni di carozzeria”, hrsg. von der Associazione Italiana per la Storia dell’Automobile, Turin, 2011) findet die Manufaktur aber lobende Erwähnung.

Unter anderem besaß man Patente auf spezielle Wechselkarosserien und Türen, die sowohl nach vorne wie auch nach hinten aufgingen. Die Stärke der Firma scheint eher in mechanischen Kabinettstückchen gelegen zu haben denn in der Formensprache.

Was sollte man am Erscheinungsbild eines Lancia Lambda auch groß verbessern? Der Wagen war so modern, das konnte selbst die “Carozzeria Moderna” nicht mehr steigern…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

Auch Niedersachsen liebten ihn: Auf Tour im DKW F1

Nachdem der letzte Blog-Eintrag noch einem der ikonischen Wagen aus dem Hause Avions Voisin gegolten hatte, begeben wir uns in die vermeintlichen Niederungen der Alltagsmobilität im Deutschland der 1930er Jahre.

Das Fahrzeug, um das es geht, könnte simpler kaum sein – ein DKW F1, der abgesehen vom noch recht neuen Frontantrieb wenig Aufregendes zu bieten hatte. Dennoch besitzen diese 15 PS-Vehikel mit Zweizylinder-Zweitakter ihren eigenen Reiz.

Das gilt umso mehr, wenn man eine Reihe von Originalfotos ein und desselben Wagens in unterschiedlichen Situationen hat. Solche Dokumente verraten etwas von der Bedeutung, die diese aus heutiger Sicht bescheidenen Gefährte einst im Leben ihrer Besitzer hatten.

Beginnen wir mit dieser schönen Aufnahme aus dem Mai 1936:

DKW_F1_05-1936_0_Galerie

DKW F1; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das ist keines der Bilder, wo der Wagen als Staffage für ein Foto der Familie oder der Beifahrerin herhalten muss – nein, hier hat jemand seinen vierrädrigen Liebling in den Mittelpunkt gerückt, und die Dame dient als dekoratives Beiwerk.

Viel vorteilhafter kann man so einen DKW F1 kaum ablichten, da war ein echter Liebhaber am Werk. Er hat seinem Auto sogar ein verchromtes Steinschlagschutzgitter gegönnt, das es ebenso als Zubehör gab wie den mittig angebrachten Nebelscheinwerfer.

Der Knick im unteren Bereich des Kühlergrills ist dem Fronantrieb geschuldet – zugleich ist dies das Haupterkennungsmerkmal des ersten Modells aus der langen Reihe von DKW-Fronttrieblern.

Beim Nachfolger wurde der Kühler weiter nach vorne verlegt und leicht geneigt, ab dann wurden die DKW-Modelle äußerlich richtig attraktiv.

Nun aber zurück zu unserem Fotomodell, das sich hier recht offenherzig zeigt:

DKW_F1_05-1936_1_Galerie

DKW F1; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Für die Technikgourmets ist diese Aufnahme ein besonderer Leckerbissen – selten sieht man die beiden Querblattfedern und die Antriebswellen an der Vorderachse so gut.

Woran der trotz schütteren Haars noch junge Mann im Blau(?)mann über blütenweißem Hemd werkelt, ist ein wenig rätselhaft. Er selbst schaut sinnierend in die Ferne, als sei er der Lösung eines Problems auf der Spur.

Der Vorderwagen ist mit einem Wagenheber aufgebockt, was könnte der Grund dafür sein? Immerhin scheint der wackere DKW-Mann gut gerüstet für dergleichen Fahrtunterbrechungen gewesen zu sein:

DKW_F1_05-1936_1_Ausschnitt

Kenner der Vorkriegs-DKWs werden vermutlich schon hier erkennen, was unser Mechanikus für ein Teil in der Hand hält.

Wie es scheint, ist es ein kleines Bauteil, das man eher nicht im Bereich der Aufhängung oder des Antriebs vermuten würde. Viel kaputtgehen konnte da auch nicht, die Vorderachskonstruktion der DKW Fronttriebler galt als ausgesprochen robust.

Nun haben wir das Glück, dass von der Situation eine weitere reizvolle Aufnahme existiert, die wohl ebenfalls die Beifahrerin gemacht hat – vermutlich war sie mit der Perspektive noch nicht ganz zufrieden.

Recht hatte sie, es geht tatsächlich noch besser:

DKW_F1_05-1936_2_Galerie Hier haben wir den DKW F1  aus idealem Blickwinkel und nun scheint sich unser Schrauber auch angemessen mit dem Bauteil in seiner Hand zu befassen – oder ist er etwa eingenickt?

Auch diese Szene verdient eine nähere Betrachtung und nun meint man zu erkennen, welches Teil da Probleme zu bereiten scheint – höchstwahrscheinlich der Verteiler:

DKW_F1_05-1936_2_Ausschnitt

Jedenfalls würde das Erscheinungsbild zu einem Zweizylindermotor passen. Sachkundige Kommentare sind wie immer erbeten!

Schön zu sehen ist bei dieser Gelegenheit der vor der Schottwand angebrachte Benzintank mit Einfülllstutzen. Zum Tanken musste also stets die Motorhaube geöffnet werden – beim Volkswagen war dies bis in die 1960er Jahre ebenso.

Wir können sicher sein, dass der kleine DKW bald wieder lief und die Insassen gut nach Hause gebracht hat. Zwei Monate später – im Juli 1936 – war er jedenfalls wieder auf Tour, wie dieses entsprechend datierte Foto beweist:

DKW_F1_07-1936_Galerie Man merkt gleich, dass hier jemand anderes die Kamera bedient hat – Fokus und Schärfentiefe sind jedenfalls leicht “daneben”.

Dennoch ist das eine schöne Aufnahme, die die Atmosphäre eines sonnigen Sommertags irgendwo an einer Allee transportiert. In einer Cabriolimousine die Landschaft erfahren – auch mit 15 PS ein Genuss!

Dem aufmerksamen Betrachter wird natürlich nicht entgangen sein, dass unser DKW hier mit zusätzlichem Zierrat ausstaffiert ist:

DKW_F1_07-1936_Frontpartie Wie das Emblem mit den vier Ringen verrät, war der Besitzer des kleinen DKW offenbar stolz darauf, dass “seine” Marke auch zum Auto Union-Verbund gehörte.

Kein Wunder: die neuen Rennwagen der Auto-Union machten damals international Furore – mit ihrem Mittelmotor waren sie die Wegbereiter der Moderne im Rennsport.

Der Eindruck, den diese Wagen hinterließen, war ungeheuerlich – selbst eine biedere Publikation wie die “Illustrierte Versicherungs-Zeitschrift” brachte 1934 einen Auto-Union Rennwagen mit Großmeister Hans Stuck auf dem Titelblatt:

Auto-Union_Stuck_1934_Galerie

Originalzeitschrift aus Sammlung Michael Schlenger

Gut verständlich, dass mancher Fahrer älterer DKWs sich nun berechtigt sah, die vier Ringe des Auto Union-Verbunds, zu dem die Marke seit 1932 gehörte, auf den Kühler zu montieren.

Tatsächlich wurde das Emblem bei den späteren Modellen der vier Konzernmarken Audi, DKW, Horch und Wanderer auch werksseitig verbaut.

Nach dem Krieg wurden dann eine Weile auf DKW-Technik basierende Auto Union-Wagen in der Bundesrepublik gebaut, die ebenfalls die vier Ringe trugen. Die neugegründete Marke Audi übernahm diese Tradition und ist heute als Treuhänder aller ehemaligen Auto Union-Marken tätig – vorbildlich!

Wie man sieht, genossen die vier Ringe schon vor über 80 Jahren Prestige. Unsere kleine Bilderserie transportiert etwas vom Stolz der einstigen Besitzer aus Niedersachsen, für die der DKW F1 vermutlich das erste Auto war.

Damit müssen sie viele Ausflüge unternommen haben, soweit das die wenigen Urlaubstage zuließen, die man damals als Arbeitnehmer hatte.

So zeigt ein letztes Foto den wackeren DKW ebenfalls im Juli 1936 bei einem Halt irgendwo im Pegnitz-Tal in Franken (Landkreis Bayreuth):

DKW_F1_07-1936_an_der_Pegnitz_Galerie

DKW F1; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Was die fesche junge Dame wohl gerade für eine Lektüre in Händen hält? Denkbar, dass sie einen Reiseführer oder eine Straßenkarte konsultiert – wir werden es nicht mehr erfahren.

Was bleibt, sind Zeugnisse vom einstigen Rang dieser heute mitunter belächelten Automobile, die damals Deutschlands volkstümlichste Wagen waren. Sie hoben ihre Besitzer aus der Masse derer hervor, für die schon der Besitz eines Motorrads etwas ganz Besonderes war und ein Auto meist ein unerfüllter Traum blieb.

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Spitzkühler einmal anders: Ein Avions Voisin C14

Heute widmen wir uns ausführlicher dem Thema Spitzkühler – von dem es in der Vorkriegszeit einst so viele Variationen gab – speziell im deutschen Sprachraum.

Klar denkt der Veteranenfreund zuerst an die rassigen Mercedes-Modelle, die als Begründer dieser Mode gelten:

Mercedes_15_70_100_PS_Galerie

Mercedes 15/70/100 PS; Original

Man muss kein Anhänger der Stuttgarter Traditionsmarke sein, um dieses 15/70/100 PS-Modell beeindruckend zu finden. Das einem hohen Offizier der Reichswehr dienende Prachtexemplar, neben dem der Fahrer posiert, haben wir hier vorgestellt.

Mercedes-Wagen wie dieser begründeten einst einen weltweiten Nimbus, der bis heute anhält. Hoffen wir, dass sich die Hüter der Marke ab und zu vergewissern, was für ein Erbe sie da verwalten – denn nicht alles im aktuellen Angebot verdient einen Stern…

Nach diesem Einstieg kann nicht mehr viel kommen, mag nun mancher denken. Weit gefehlt, wir haben noch einiges in petto. Da wäre beispielsweise ein Vertreter der Marke, die tatsächlich als erste Spitzkühler serienmäßig verbaute, und zwar 1908.

Die Rede ist von Metallurgique aus Belgien; kennt heute keiner mehr, war aber einst eine hochangesehene Manufaktur von Oberklassewagen. Es gab auch eine deutsche Lizenzproduktion von Bergmann.

Metallurgique-Wagen sind zwar leicht als solche zu identifizieren, die genaue Typenansprache bereitet aber noch Probleme. Wenn hier Klarheit gewonnen ist, kommen auch die entsprechenden Fotos aus dem Fundus an die Reihe.

Einstweilen muss ein Blick auf diesen Metallurgique genügen, der im Mai 1913 bei einer Ausfahrt aufgenommen wurde:

Metallurgique_AK_gelaufen_05-1913_Galerie

Man sieht, es muss nicht immer ein Mercedes sein – und auch kein Benz, um die andere berühmte Firma zu erwähnen, die Spitzkühlermodelle baute.

Hier eine Benz-Originalreklame, die vor rund 100 Jahren veröffentlicht wurde – in der Spätphase des 1. Weltkriegs:

Benz_Reklame_Motorfahrer_12-1917_Galerie

Benz-Reklame aus “Der Motorfahrer” von Dezember 1917; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Im Unterschied zu anderen zeitgenössischen Reklamen von Benz und Mercedes sind die Hinweise auf den Krieg hier sehr dezent. Wären da nicht der Doppeldecker und der Hinweis auf Flugmotoren, könnte man meinen, es herrschte tiefster Frieden.

Bemerkenswert sind die Kronen auf den Scheinwerfern des oberen Wagens – übrigens von Aufbau und Proportionen dem Metallurgique vergleichbar. So etwas war den Fahrzeugen im kaiserlichen Fuhrpark vorbehalten.

Doch wir wollen das Thema Spitzkühler nicht aus dem Auge verlieren. Interessant ist, wie viele Fotos unidentifizierter Wagen sich finden, die einen Mercedes- oder Benz-Kühler zu tragen scheinen, aber keiner dieser Marken zuzuordnen sind.

Dazu gehört diese schöne Aufnahme:

unbek_kein_Benz_Galerie

Unbekannter Tourenwagen um 1920; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Über Vorschläge zur mutmaßlichen Marke würde sich der Verfasser freuen.

Bevor wir uns einer anderen Variante des Spitzkühlers zuwenden, mit der wir uns zugleich dem Star des heutigen Blogeintrags nähern, sollen die noch schnittigeren Ausführungen nicht unerwähnt bleiben, die Steyr in Österreich verbaute:

Steyr_Typ_VII_Franzensbad_08-1929_Ausschnitt

Steyr Typ VII; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Statt solcher kantigen Vertreter verwendeten mehrere Firmen Spitzkühler mit abgerundeter Form, übrigens nicht nur im deutschsprachigen Raum.

Der legendäre Bentley 3 Litre (1924-29) besaß ebenfalls solch einen Kühler, der bei oberflächlicher Betrachtung mit dem der Sportversion eines zeitgenössischen deutschen Wagens verwechselt werden kann.

So war der erste Gedanke des Verfassers, als er folgende Aufnahme fand: ein Bentley! NAG_C4_Flugplatz_Galerie

Nun, der Irrtum klärte sich schnell auf – es handelt sich um einen Sporttyp C4 der Berliner Marke NAG – aber man muss zugeben, zumindest optisch näher an Bentley kam wohl kein deutscher Wagen jener Zeit.

Die typischen Spitzkühler von NAG sind Lesern dieses Blogs sicher vertraut – diese leider weitgehend vergessene Marke wird hier immer wieder gern gewürdigt.

Das Gleiche gilt für die Stoewer-Wagen, die in den frühen 1920er Jahren ebenfalls Spitzkühler mit abgerundeten Formen besaßen. Folgendes Exemplar haben wir hier bereits präsentiert:

Stoewer_D12_13-55_PS_Galerie

Stoewer D12 13/55 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ein Foto des Stoewer D12 in dieser Qualität ist eine große Rarität. Wem es aus einem anderen Kontext bekannt vorkommt, hat es wohl als Bild des Monats auf der Website des Stoewer-Museums gesehen, das der Verfasser hin und wieder “versorgt”.

Man präge sich die Form der Kühlermaske mit dem auf der abschüssigen Oberseite angebrachten ovalen Stoewer-Emblem ein – wir kommen darauf zurück.

Nach diesem hoffentlich nicht allzu ermüdenden Umweg kommen wir zum eigentlichen Objekt der Begierde – das einen solchen Spannungsaufbau absolut verdient.

Allerdings ist der Kontrast im wahrsten Sinne des Wortes krass – wenn man vom Kühler absieht:

Voisin_C14_Ausschnitt

Avions Voisin C14; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Was ist das für eine eigenwillige Kreation – ein Prototyp oder ein Umbau, vielleicht?

Nun, man muss bei diesem aus Sicht des Verfassers großartigen Wagen ganz andere Maßstäbe anlegen als an alle Fahrzeuge, die wir bislang besprochen haben.

Denn dieses Auto ist die Schöpfung einer der ganz großen Figuren des französischen Automobilbaus: Gabriel Voisin.

Luftfahrtpionier und Lebemann, Unternehmer und Erfinder, Ingenieur und Künstler, Individualist und Verächter industrieller Massenware – so lassen sich die Qualitäten eines enorm begabten Menschen zusammenfassen.

Bevor wir auf die Besonderheiten dieses Meisterwerks von Automobil eingehen, kurz einige Hinweise zur Identifikation. Natürlich erinnert die Frontpartie mit dem abgerundeten Spitzkühler stark an Stoewer:

Voisin_C14_Ausschnitt2

Auch hier ahnt man ein Emblem auf der Oberseite der Kühlermaske, auch hier ist die Vorderkante des Kühlergrills leicht nach hinten geneigt.

Dort enden die Gemeinsamkeiten. Wir brauchen hier gar nicht Zahl und Form der Luftschlitze zu thematisieren – die gesamte formale Konstruktion der Karosserie ist radikal anders.

Alle funktionellen Elemente – Schutzbleche, Motorhaube, Windlauf, Passagierraumsind klar voneinander abgegrenzt und wirken wie absichtlich aneinandergeheftet.

Dieser Aufbau wirkt wie die Blaupause eines Automobils, alles tritt klar hervor, nichts wirkt geschönt, auf Zierrat wird fast vollständig verzichtet. Nur die zugelieferten Scheinwerfer wollen sich nicht so recht dieser Logik unterwerfen.

Den Eindruck einer streng alle Strukturen offenlegenden Architektur macht auch der übrige Aufbau:

Voisin_C14_Ausschnitt3

In technischer Hinsicht war der Avions Voisin C14 ebenfalls eine außergewöhnliche Kreation.

Wie der Vorgängertyp C11 verfügte der Wagen über einen 2,3 Liter großen 6-Zylinder-Motor mit laufruhiger Schieber-Steuerung (Knight-Patent).

Das Getriebe wurde durch eine elektrisch zuschaltbare Übersetzung (Cotal-Patent) ergänzt, mit der in jedem (!) der 3 Gänge ein weiteres Übersetzungsverhältnis gewählt werden konnte – ähnlich dem später bei britischen Fahrzeugen üblichen Overdrive. Angeboten wurde zudem eine der frühesten Servo-Unterstützungen für die Lenkung.

Der Verbesserung der Gewichtsverteilung dienten auf den Trittbrettern montierten Gepäckkisten. Das Fahrzeuggewicht profitierte von der Verwendung von Aluminium für den Aufbau.

Wer sich der Begeisterung des Verfassers über dieses automobile Meisterstück nicht so recht anschließen kann, hat so ein Fabeltier noch nicht in freier Wildbahn erlebt. Der Concours d’Elegance 2015 auf Schloss Chantilly bei Paris gab Gelegenheit dazu:

Voisin_C14_a_Chantilly_2015

Avions Voisin C14; Bildrechte: Michael Schlenger

Dieses herrliche Exemplar weicht in einigen Details von dem Wagen auf der historischen Aufnahme ab, was nicht viel heißen will. Autos wurden bei Avions Voisin in Manufaktur gefertigt, da sah keines wie das andere aus.

Zudem dürfte der in Chantilly gezeigte Wagen überrestauriert gewesen sein. Zum Glück stand daneben ein unberührt gebliebenes Exemplar:

Voisin_C14_b_Chantilly_2015

Avions Voisin C14; Bildrechte: Michael Schlenger

Ein Blick auf den “Zuschnitt” der in Aluminium ausgeführten Vorderschutzbleche und den über die Jahrzehnte matt gewordenen, doch noch komplett vorhandenen Lack verrät: Dieser Wagen hat nie so ausgesehen wie sein “restauriertes” Gegenstück.

Und noch etwas, was diese Fotos leider nicht transportieren können:

Der Verfasser kann sich genau erinnern, wie ihn an jenem warmen Spätsommertag im weitläufigen Park von Schloss Chantilly plötzlich ein intensiver Geruch aus altem Fett und Öl anwehte.

Tja, der Magie des unrestaurierten Originals haben moderne Neuaufbauten nun einmal nichts entgegenzusetzen.

Patina will über Jahrzehnte geduldig erarbeitet oder “erstanden” sein. Das erst macht den Zeitzeugen aus, den authentischen Boten aus einer Vergangenheit, von der schon bald kein lebender Mensch mehr berichten kann.

Auf ihre Weise haben historische Automobilfotos eine ähnliche Qualität. Sie transportieren uns in eine Vergangenheit zurück, in der noch alles neu und aufregend war, was wir heutigen Autofahrer oft gedankenlos nutzen.

Brillianten Köpfen und schrägen Vögeln wie Gabriel Voisin verdanken wir unsere Mobilität, nicht angepassten und ideenlosen Leitenden Angestellten in den Automobilkonzernen von heute…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

1928: Ein Kennzeichen für alle deutschen Autos!

In den letzten 90 Jahren hat sich in Deutschland viel verändert – aber eines nicht: die blinde Begeisterung für Einheitslösungen, am besten von oben verordnet und in der Regel handwerklich schlecht gemacht.

Beispiel: “Ehe für alle” – gewiss eine Antwort auf ein drängendes Problem unserer Zeit. Aber sollte einer nicht auch seinen Schäferhund oder sein Auto heiraten können? Da muss noch nachgebessert werden, es könnte ja jemand “diskriminiert” werden.

Der Grad der Inanspruchnahme der genannten Regelung dürfte übrigens vermutlich nur von den Abrufen von Elektroautoprämien hierzulande untertroffen werden…

Wie man sich am Schreibtisch eine “Lösung” für ein selbstformuliertes Problem ausdenkt, diese mit viel Getöse präsentiert und die Initiative dann in der Realität verpufft – davon künden auch die Fotos, mit denen wir uns heute beschäftigen.

Diesmal geht es nicht um eine bestimmte Automarke oder einen speziellen Wagentyp, sondern ein Detail, das dem Verfasser hin und wieder beim Studium historischer Fahrzeugfotos aus deutschen Landen aufgefallen war.

Zuletzt war das der Fall bei diesem Brennabor Typ Z von 1928/29:

Brennabor_Typ_Z_Foto_Mittweida_Frontpartie

Gemeint sind nicht die Tannenzweige am Kühlwassereinfüllstutzen – so etwas findet man oft auf alten Fotos von Autoausflügen. Vielmehr geht es um das Emblem am unteren Rand des Kühlergrills.

Wenn man’s weiß, erkennt man dort eine stilisierte Eichel mit abstehendem Eichenblatt – wenn nicht, wird es auf weniger scharfen Aufnahmen schwierig.

Zum Beispiel auf folgendem Foto eines Mercedes-Benz 8/38 PS von 1928/29:

Mercedes-Benz_8-38_PS_Frontpartie

Man muss schon genau hinschauen, aber die Umrisse des Emblems zeichnen sich auch hier ab.

Nebenbei sieht man, dass mitunter selbst ein technisch missglücktes Foto – leider kommt die junge Dame nicht so “scharf” rüber wie der Strauch hinter ihr – noch seinen Nutzen haben kann.

Ein schöner Zufall ist es, dass wir eine Aufnahme des Nachfolgetyps Mercedes-Benz “Stuttgart” von 1929 mit ähnlichem Sujet haben:

Mercedes-Benz_Stuttgart_Frontpartie_Ahlefelder

Mercedes “Stuttgart”; Foto aus Sammlung Holger Ahlefelder

Hier sieht man das an derselben Stelle angebrachte Emblem etwas deutlicher.

Was fällt bei den bisher gezeigten Aufnahmen auf? Nun, es handelt sich um deutsche Autos von 1928/29, die besagtes Kühleremblem alle an derselben Stelle tragen. Kann das Zufall sein? Wohl kaum.

Tatsächlich entstand das Emblem im Jahr 1928 auf Inititative des Reichsverbands der deutschen Automobilindustrie. Die Geschichte dazu ist einigermaßen kurios.

Das Hintergrundwissen dazu verdanken wir einmal mehr einem alten Hasen der deutschen Vorkriegsszene und Leser dieses Blogs, der den Verfasser immer wieder mit Wissenswertem und historischem Material versorgt.

In seinem Fundus befindet sich ein zeitgenössischer Bericht zur Entstehung des Emblems, der dem Verfasser in Kopie vorliegt.

Der Kommentar befasst sich mit dem neuerlangten Selbstbewusstsein der deutschen Automobilindustrie Ende der 1920er Jahre und berichtet stolz:

“Auf den großen Automobilausstellungen in Paris, London und Berlin 1928 haben die deutschen Fabrikate vor einem internationalen Forum und in der Auslandspresse starke Bewunderung und uneingeschränktes Lob gefunden.”

Gepriesen wird außerdem die “glückliche Verbindung gründlicher Werkmannsarbeit mit der genialen Erfinderkraft des deutschen Ingenieurs”.

Ganz so sicher war man sich beim Reichsverband der Automobilindustrie nicht, vor allem nicht, was die Wertschätzung der heimischen Produkte beim Kunden angeht. 

Deutsche Käufer entschieden sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre nämlich gern für US-Fabrikate, was auch die auf diesem Blog vorgestellten Beispiele illustrieren:

 

Angeblich auf Anregung aus den “Kreisen des Publikums” – mit diesem Kunstgriff kaschiert man noch heute eigene Interessen – rief man einen Wettbewerb ins Leben.

Dabei sollte ein Kennzeichen vorgeschlagen werden, “das auch in Deutschland… das einheimische Fabrikat sinnfällig kennzeichnet.”

Das muss man wirklich genießen: Für deutsche (!) Autokäufer sollten also einheimische Fabrikate wie Adler, Brennabor, Opel oder Mercedes eigens als deutsche Qualitätswagen gekennzeichnet werden.

Als Qualitätsausweis genügte nach dieser bizarren Funktionärslogik also nicht das individuelle Markenemblem, sondern das vom Verband unter “20.000 Entwürfen” ausgewählte einheitliche Kennzeichen in Form einer Eichel mit Eichenblatt…

Klar: In den Köpfen der Verbandsvertreter stand das deutsche Automobil vor allem für Tugenden wie Robustheit und Langlebigkeit – da kam man an der legendären tausendjährigen Eiche nicht vorbei.

Dumm nur, dass jeder US-Großserienwagen diese Tugenden seit Jahren bot – obendrein gab es höhere Leistung, bessere Ausstattung und modernere Formen. Es war keineswegs nur eine Preisfrage, dass die “Amerikaner-Wagen” so geschätzt wurden.

Mangels einfallsreicherer Attribute wurde das Emblem als “schlicht und einfach” gepriesen. Man fragt sich, ob unter 20.000 Entwürfen kein besserer war – sofern es den angeblichen Wettbewerb überhaupt gegeben hatte.

Jedenfalls wurde “nach langwierigen Zwischenarbeiten” – was das wohl gewesen sein mag? – “das Zeichen anlässlich der Internationalen Automobil- und Motorradausstellung der Öffentlichkeit übergeben.”

Übergeben also, nicht einfach vorgestellt. Klingt wie etwas, das man nun gefälligst zu verwenden habe. Entsprechend ehrfüchtig stellt der Kommentator bezüglich der Eichel mit Eichenblatt fest: “Es wird künftig die Fahrzeuge zieren, die aus deutschen Fabriken stammen und zu wenigstens 75 v. H. ihres Werts deutsche Werkstoffe verwenden.” 

Bei soviel amtlicher Gewissheit möchte man davon ausgehen, dass gleich noch entsprechende Montagevorschriften für das Emblem mitgeliefert wurden. Die bisher gezeigten Fotos scheinen das zu bestätigen.

Doch an anderen Fahrzeugen findet sich besagte Eichel mit Eichenblatt an allen möglichen Stellen des Kühlers, etwa hier:

Steyr_530_Cabriolet_Frontpartie

Was für ein Wagen sich auf diesem Bildausschnitt verbirgt, soll an dieser Stelle noch nicht verraten werden. Fabrikat, Ort und Zeitpunkt der Aufnahme sind so außergewöhnlich, dass wir uns damit gelegentlich separat befassen werden.

Geradezu verwegen positioniert ist das Emblem auf dem folgenden Fahrzeug, das leicht als Opel zu erkennen ist – ein Typ 10/40 PS von 1928/29:

Opel_10-40_PS_Frontpartie

Was wir auf diesem Bildausschnitt nicht sehen, wird ebenfalls noch bei passender Gelegenheit in voller Pracht präsentiert.

Auffallend ist: Unter den hunderten historischen Aufnahmen von deutschen Vorkriegsautos der späten 1920er und frühen 1930er Jahre im Fundus des Verfassers sind die hier gezeigten so ziemlich die einzigen, die das skurrile Emblem zeigen.

Nur auf dieser Nachkriegsaufnahme eines Brennabor Typ Z findet es sich ebenfalls:

Brennabor_Typ_Z_Cabriolimousine_1928-29_Frontpartie

Nach Lage der Dinge scheint sich das hochtrabend angekündigte “Kennzeichen für deutsche Kraftfahrzeuge” nicht durchgesetzt zu haben.

Es war schlicht ungeschickt gewählt und überflüssig: Ein Produkt setzt sich nicht aufgrund von Verbandsaufrufen und öffentlichen Solidaritätsappellen durch, sondern weil es als überlegen erkannt wird.

Dafür brauchte der gemeine Autokäufer schon damals keine Lenkung von oben; der wusste schon, was etwas taugt und was nicht.

Ebensowenig braucht er in unseren Tagen über die angebliche Überlegenheit des Elektroautos belehrt zu werden. Sollten die Dinger irgendwann bei gleicher Mobilität billiger oder bei gleichem Preis leistungsfähiger sind als Verbrenner, setzen sie sich ebenso von selbst durch, wie es einst das Automobil gegen die Pferdekutsche getan hat.

Zum Abschluss bringen wir noch eine Aufnahme, die zeigt, was dabei herauskommt, wenn man es den Leuten überlässt, persönliche Wertschätzung kundzutun:

DKW_F1_07-1936_an_der_Pegnitz_Galerie

DKW F1; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese schöne Aufnahme stammt aus einer Reihe reizvoller Fotos eines DKW F1, also des ersten frontgetriebenen DKW von 1931/32. Die Serie bringen wir natürlich noch.

Entstanden ist das Foto im Juli 1936 an der Pegnitz in Oberfranken – da war der hübsche kleine DKW schon ein paar Jahre alt.

Zwischenzeitlich war durch Zusammenschluss der Marken Audi, DKW, Horch und Wanderer der Auto-Union-Verbund entstanden, versinnbildlicht durch das Emblem der vier ineinandergreifenden Ringe.

Nicht zuletzt durch die Rennerfolge des sächsischen Konzerns genoss der Name Auto Union enormes Prestige. Und so drückte vor über 80 Jahren der Besitzer dieses DKW mit gerade einmal 15 PS seinen Stolz auf die “Konzernzugehörigkeit” dadurch aus, dass er die vier Ringe nachträglich unter das DKW-Emblem montierte.

Eine solche freiwillige Markenbindung ist der Traum jedes Unternehmens.

Man sieht daran, dass die Leute von sich aus ein gutes Gespür für Qualität haben und ein natürliches Bedürfnis, nach außen kundzutun, worauf sie stolz sind. Das lässt sich nicht anordnen – und wenn, kommt meist nichts Gescheites dabei heraus.

Audi hat das verstanden und zehrt bis heute im In- und Ausland vom Nimbus der einstigen Auto Union. Das geht freilich nur solange, wie man die Erwartung außergewöhnlicher Leistung erfüllt.

Mit Eichel und Eichenblatt dagegen war schon vor dem Krieg bei Autokäufern kein Blumentopf zu gewinnen…

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

Bringt selbst Schweizer zum Rasen – Amilcar C6

Nach arbeitsreichem Jahresauftakt mit wenig Schlaf soll nun wieder allabendliche Routine in diesem Blog für Vorkriegs-Oldtimer einkehren – den Besucherzahlen scheint die kleine Pause seit Neujahr jedenfalls nicht geschadet zu haben.

Zur Entschädigung derer, die den täglichen Besuch dieses Blogs als rezeptfreie Immunisierung gegen die Zumutungen moderner Automobilität betrachten – oder auch als Ablenkung vom Elend des politischen (Nicht-)Geschehens hierzulande – bringen wir heute einen besonderen Leckerbissen – ein Amilcar!

Natürlich kennt jeder die kompakten, leichtgewichtigen Sportwagen der 1921 gegründeten Pariser Manufaktur und auf hochkarätigen Klassikerveranstaltungen wie den Classic Days auf Schloss Dyck hat man immer wieder einmal das Glück, ein überlebendes Fahrzeug im Einsatz zu erleben wie hier:

Amilcar_Schloss_Dyck_M_Buller_2014

Amilcar bei den Classic Days auf Schloss Dyck 2014; Bildrechte: Michael Schlenger

Bei dieser Gelegenheit ein Gruß an den Insassen dieses Schmuckstücks und langjährigen Blogger in Sachen Vorkriegsautomobil.

Interessanterweise scheint es heutzutage leichter als früher zu sein, eine solche Preziose im deutschen Sprachraum vor’s Objektiv zu bekommen. Jedenfalls finden sich historische Aufnahmen von Amilcars in alten Fotoalben hierzulande nur selten.

Immerhin ist uns vor längerer Zeit ein rarer Lizenznachbau des Amilcar CGS Grand Sport von Mitte der 1920er Jahre ins Netz gegangen – ein GROFRI aus Österreich.

Dann hätten wir noch dieses Amilcar von 1925 mit belgischer Zulassung, das um 1960 bei einer Veteranenveranstaltung in einer wunderbar erhalten gebliebenen Fachwerkaltstadt abgelichtet wurde, eventuell in Monschau in der Eifel:

Amilcar_Ausschnitt

Amilcar von 1925; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So weit, so gut. Alles feine Vierzylindermodelle mit typischer Cyclecar-Anmutung, wie man sich das vorstellt, wenn man an Amilcar denkt.

Weniger im Blick haben die meisten Vorkriegsautofreunde hierzulande aber vielleicht die Sechszylindertypen der Marke, die in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre zu den schärfsten Waffen ihrer Klasse gehörten.

Genau mit solch einem Modell – einem Amilcar C6 – wollen wir die Leserschaft heute erfreuen. Dazu begeben wir uns ausgerechnet in die Schweiz – dem mitteleuropäischen Land, das man vermutlich am wenigsten mit automobiler Leidenschaft verbindet.

Der Verfasser schätzt übrigens die ruhige, gegen ideologische Wahnvorstellungen immune Mentalität der schweizerischen Nachbarn ebenso wie die unauffällige Art, mit der Dinge wie Schienenverkehr, Schokoladenproduktion und Schrankenöffnen für Italiensüchtige aus dem Norden reibungslos funktionieren.

Die eigentümliche Mischung aus Skepsis gegenüber modernen Heilsversprechen aller Art und Freude an echter Innovation und uhrwerksartiger Präzision hielt etliche Schweizer offenbar vor rund 90 Jahren nicht davon ab, folgendem aus heutiger Sicht “lebensgefährlichen” Geschehen beizuwohnen:

Amilcar_C6_1929_Galerie

Amilcar C6 im Renneinsatz 1929; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

“Viel zu gefährlich!”, entfährt es bei diesem Anblick womöglich dem neuzeitlichen Helikopterpapa mit Hipsterbart und Hornbrille, während er dem kleinen Jan-Malte erst einmal einen Helm aufsetzt, bevor dieser das Dreirad erklimmen darf…

Wären bei diesen lokalen Rennveranstaltungen der Vorkriegszeit jedes Wochenende Zuschauer zu Schaden gekommen, hätte auch die damalige Obrigkeit dem Treiben schnell ein Ende bereitet.

Auch waren die Besucher keineswegs lebensmüde, jedenfalls nicht mehr als zeitgenössische Besucher von Weihnachtsmärkten und anderen neuerdings unter Polizeischutz abgehaltenen Brauchtumsveranstaltungen unserer Tage.

Nein, offenbar hatte man Vertrauen in das Können der Ritter der Landstraße, die bei solchen Gelegenheiten Gefährte um die Kurven fliegen ließen, die teilweise heute noch Respekt einflößen.

Denn im vorliegenden Fall fegt nicht irgendein Vierzylinder-Amilcar in einer Staubwolke um die Kurve – nein, das ist ein prächtiger Sechszylinder des Typs C6:

Amilcar_C6_1929_Ausschnitt1

Diese Erkenntnis verdanken wir Leser Michael Müller, der uns schon kürzlich wertvolle Details zu einem einzigartigen Bugatti T49 mit Gläser-Aufbau geliefert hat.

Über sein Netzwerk in der Schweiz ließ sich sogar herausfinden, wer einst mit dem Kennzeichen 4814 H so rasant daherkam. Doch eins nach dem anderen.

Zuerst wollen wir uns die technische Rafinesse dieses Juwels zu Gemüte führen: Der Typ C6 besaß ein aus dem Rennsport abgeleitetes 6-Zylinder-Aggregat mit 1100 ccm, das über zwei obenliegende Nockenwellen verfügte.

Der enorm drehfreudige Motor leistete mit Aufladung über 60 PS – klingt vielleicht heute nicht sehr beeindruckend, doch bei einem Leergewicht von nur 550 kg war ein Amilcar C6 ein äußerst agiler Straßensportwagen.

Damit ließ sich in den 1920er Jahren die magische Grenze von 100 Meilen pro Stunden knacken. Man möchte den sehen, der sich damit heute noch die nachgewiesene Spitzengeschwindigkeit von über 160 km/h auszufahren traut.

Da dürften die meisten modernen Bleifußhelden der linken Autobahnspur Fracksausen bekommen, ob mit oder ohne Helm. Wer aber war der kühne Fahrer, der einst mit diesem Amilcar C6 – einem von rund 50 Exemplaren – so rasant die Kurve nahm?

Dank des Kennzeichens lässt sich das genau sagen: es war ein Herr mit dem verwegen klingenden Namen Emil(io) Rampinelli aus dem schweizerischen Schaffhausen. Von ihm wissen wir, dass er nur 1929 in einem Amilcar C6 bei diversen Bergrennen in der Schweiz antrat.

Anhand einiger Details können wir das Foto noch genauer datieren. So spricht die Obstbaumblüte auf der Aufnahme für eine Entstehung kaum später als Anfang Juni. Damit kommt am ehesten das Eigenthaler Bergrennen am 9. Juni 1929 in Frage.

Übrigens findet am damaligen Austragungsort im Herbst 2018 eine “Memorial”-Veranstaltung statt, die an die Tradition der dortigen Bergrennen erinnern soll.

Zwar wird auf der einst 6,5 km langen Strecke von Obernau nach Eigenthal, die knapp 500 Meter Höhenunterschied überwindet, nicht mehr auf Zeit gefahren.

Doch die zu erwartende Präsenz hochkarätiger Sportwagen aus ganz Europa lässt erwarten, dass sich die Ortsansässigen die Gelegenheit zu kontrollierter Raserei nicht entgehen lassen – so wie vor fast 90 Jahren ihre Vorfahren:

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Tja, bei einer Sportveranstaltung in den USA oder auch in England hätte die Wiese im Kurveninnern mit Autos oder zumindest Motorrädern vollgestanden.

Dass man hier nur Fahrräder sieht, erinnert daran, dass die Schweizer nicht mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurden, sondern sich ihren heutigen Wohlstand mit großem Fleiß und außerordentlichem Können erst nach dem Krieg erarbeitet haben.

Im Vergleich zu den von fatalem Futurismus beseelten Nachbarstaaten schien die Schweiz in den 1920er Jahren beinahe rückständig. Doch gleichzeitig hat sie sich dank einer zum Konservativen tendierenden Volksherrschaft jeder selbstzerstörerischen politischen Raserei enthalten und profitiert bis heute von der Besinnung auf das Eigene.

So gesehen mag es kein Zufall sein, dass sich die sonst technologisch so leistungsfähige Schweiz auf dem von ungetümem Vorwärtsdrang geprägten Automobilsektor kaum nennenswert betätigt hat.

Dass Schweizer dennoch durchaus rasant unterwegs sein können, wenn sie wollen, das belegt unser Foto auf’s Schönste.

Nicht unerwähnt bleiben soll, dass Emilio Rampinellis Tochter Rita das Sportwagenfahrergen von ihm erbte und in den 1950er Jahren unter anderem auf Cisitialia (Fiat 1100-Technik) einige Erfolge feierte.

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.

 

 

 

 

 

 

Vor 90 Jahren: Start ins Neue Jahr im Luxus-“Ford”

Zum Start ins Jahr 2018 bedankt sich der Verfasser bei allen, die diesen Blog als Leser schätzen oder auch mit Fotos, Ergänzungen und Korrekturen dazu beitragen, dass wir die facettenreiche Welt der Vorkriegsautos virtuell fortleben lassen können.

Außerdem sei allen Besuchern und befreundeten Enthusiasten gewünscht, dass 2018 ein gutes Jahr werde – mit viel Freude am historischen Automobil, ob beim Fahren, Schrauben oder auch bei einschlägigen Ausflügen im Netz.

Der Verfasser freut sich darauf, wiederum ein Jahr lang Sehenswertes, Seltenes und Spannendes aus seinem Fundus an Originalfotos zeigen zu können. Darunter werden auch wieder etliche Raritäten wie beim letzten Fund des Monats sein.

Leisten wir uns zum Jahresauftakt einen luxuriösen Einstieg wie diesen:

Lincoln_1925-26_Ak_Riesengebirge_nach_Neustadt_Harz_Neujahr_1927_Galerie

Lincoln von 1927; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf der Postkarte, die dieses mächtige Fahrzeug zeigt, schickte dessen Berliner Besitzer vor 90 Jahren Neujahrsgrüße aus dem Urlaub im schlesischen Riesengebirge (heute Polen) ins thüringische Neustadt (im Harz gelegen).

Moment mal, war im Titel des heutigen Blogeintrags nicht die Rede von einem “Ford”? Sicher, aber in Verbindung mit “Luxus” war das erkennbar augenzwinkernd gemeint.

Ein Ford im eigentlichen Sinn ist das natürlich nicht, aber immerhin ein Steckenpferd von Henry Ford und seinem ebenfalls schwer “autistischen” Sohn Edsel.

Bei Kennern von US-Marken dürfte sogleich der Groschen fallen – für alle anderen leiten wir die Identität dieses Prachtexemplars aus der Frontpartie ab:

Lincoln_1925-26_Ak_Riesengebirge_nach_Neustadt_Harz_Neujahr_1927_Frontpartie

Die brachiale Optik der Stoßstange – an eine mittelalterliche Schmiedearbeit erinnernd – lässt einen gleich an einen US-Wagen denken.

Keine Frage, die amerikanische Autoindustrie war in der Zwischenkriegszeit der europäischen Konkurrenz um Längen voraus – nur sie war imstande, echte Volkswagen zu bauen, sie war stilistisch und eine ganze Weile auch technisch führend.

Doch Ende der 1920er Jahre kündigte sich an, dass man jenseits des Atlantiks geschmacklich nicht so sattelfest wie in Europa war, wo man aus über 2.000 Jahren gestalterischer Tradition schöpfte. Nach 90 Jahren funktionsbesessener Bauhaus-Monokultur ist das freilich inzwischen auch passé…

Sieht man von der Stoßstange ab, die dem “Kuhfänger” einer Dampflok im Mittleren Westen Ehre gemacht hätte, erinnert die Kühlerpartie an einen Ford A:

Ford_A_Grunewald

Diese Ähnlichkeit ist wohl kein Zufall – denn der dicke Brummer auf der Neujahrskarte stammt von einer Marke, die 1922 von Ford gekauft wurde: Lincoln! Auf der Originalaufnahme kann man den Markennamen im ovalen Kühleremblem lesen.

Der bis dato wenig erfolgreiche Hersteller von Luxuswagen hatte erst 1920 mit der Produktion begonnen – Gründer Henry Martyn Leland hatte allerdings zuvor bereits Bedeutendes für die US-Autoindustrie geleistet.

Er war es, der 1902 den Finanziers der glücklosen Henry Ford Company empfahl, eine neue Automarke ins Leben zu rufen – Cadillac. Das erste Modell unter diesem Namen war bis auf den Motor noch ein Ford-Entwurf. Henry Ford, der bei der Gelegenheit die Firma verließ, sollte diese Schmach nicht vergessen.

Nachdem Henry Martyn Leland 1917 bei Cadillac den Abschied gab, versuchte er sein Glück mit einer nach US-Präsident Lincoln benannten eigenen Firma. Zunächst baute diese Flugmotoren für die US-Luftwaffe, doch schon bald endete der Erste Weltkrieg.

Zur Auslastung der Fabrik verlegte sich Leland auf den Bau eines Luxuswagens mit V8-Motor. Diese ab 1920 gebauten Lincolns waren von bester Qualität und Leistung (80 PS), doch das belanglose Äußere stand dem Erfolg entgegen.

Erst die Übernahme der Edelmarke ausgerechnet durch den mittlerweile etablierten Volksautofabrikanten Henry Ford, für diesen sicher eine große Genugtuung, sorgte für einen Aufschwung. Bis Mitte der 1920er Jahre stieg die Produktion des nunmehr 90 PS leistenden Lincoln auf rund 7.000 Stück pro Jahr.

Genau aus dieser Zeit stammt “unser” Lincoln. Das verraten zwei Details: Ab 1925 wurden alle Lincolns serienmäßig mit einem Windhund als Kühlerfigur ausgestattet. Gleichzeitig verschwanden die Positionsleuchten am Windlauf:

Lincoln_1925-26_Ak_Riesengebirge_nach_Neustadt_Harz_Neujahr_1927_Frontpartie2

Die trommelförmigen Scheinwerfer finden sich nur an Modellen der Jahre 1924-26, sodass wir eigentlich das Baujahr dieses Wagens hinreichend eingeengt hätten.

Doch obiger Bildausschnitt zeigt auch ein Detail, das nicht dazu passt: die vorderen Bremstrommeln. Sie wurden laut Literatur erst ab 1927 verbaut, die Lincolns dieses Baujahrs besaßen aber stets kegelförmige Scheinwerfer.

Das ist aber nicht die einzige Merkwürdigkeit an diesem Wagen. Ebenfalls aus dem Rahmen fällt die vertikal geteilte Frontscheibe, die dem Verfasser bislang auf keinem anderen Foto eines Lincoln jener Zeit begegnet ist.

Natürlich liegt es nahe, aus der deutschen Zulassung des Wagens auf eine hierzulande gefertige Spezialkarosserie zu schließen. Dann hätten wir es aber mit einer veritablen Rarität zu tun.

Vom Lincoln des Jahres 1927 mit vorderen Bremstrommeln wurden laut Literatur nur 83 Exemplare als nacktes Chassis ausgeliefert. 1925/26 sah es mit 121 bzw. 154 Wagen nicht viel besser aus.

Auch der Aufbau als solcher wirkt außergewöhnlich:

Lincoln_1925-26_Ak_Riesengebirge_nach_Neustadt_Harz_Neujahr_1927_Passagiere

Formal betrachtet haben wir es hier mit einem Sedan-Cabriolet zu tun – einer sechsfenstrigen Limousine mit komplett niederlegbarem Verdeck. Im Unterschied zum Tourenwagen sind hier feste Fenster mit Rahmen verbaut.

Irritierend ist die große Kiste, die die volle Länge des Trittbretts ausfüllt. Wie sollte man da ohne zusätzliche Hilfe einsteigen können?

Überhaupt wirkt die gesamte Partie ab der Frontscheibe wenig gefällig, sie erinnert ein wenig an zeitgenössische Mannschaftswagen von Polizei und Feuerwehr.

Rätselhaft ist nicht zuletzt das Emblem, das der die Tür offenhaltende junge Mann an Ärmel und Schirmmütze trägt. Säße nicht bereits jemand am Lenkrad, würde man ihn für den Chauffeur des Lincoln halten.

Wer kann etwas zu diesen eigentümlichen Details sagen? Wann genau wurde der Lincoln gebaut: 1925/26 oder doch erst 1927? Woher stammt der merkwürdige Aufbau und welchem speziellen Zweck diente er? War der Lincoln vielleicht ein Jagdwagen?

Wagen wie dieser und Fragen wie diese sind es, die die Beschäftigung mit Vorkriegsautos so spannend machen – es ist längst nicht alles dokumentiert, was einst auf unseren Straßen unterwegs war.

Auch insofern: Möge das Jahr 2018 noch viele Überraschungen wie diese bereithalten!

Literatur: Standard Catalog of American Cars 1805-1942, B. R. Kimes/H.A. Clark

© Michael Schlenger, 2018. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://www.klassiker-runde-wetterau.com with appropriate and specific direction to the original content.