Form vollendet(e) Funktion: Essex „Super 6“ von 1928

Wer sich mit Gestaltungsfragen beschäftigt – ob in Bezug auf Architektur, Haushaltsgegenstände oder Automobile – ist ihm schon einmal begegnet, dem Diktum: „Form follows function“ – „Die Form ergibt sich aus der Funktion“.

Eine frühe Formulierung in der Richtung findet sich bereits Mitte des 19. Jh. beim US-Bildhauer Horatio Greenough, kurz vor der Jahrhundertwende dann beim ebenfalls amerikanischen Architekten Louis Sullivan.

Eine radikale Neuinterpretation, die das Ornament als ebenfalls berechtigten Zweck, welcher die Formgebung leitet, ausschließt, findet sich dann in den 1920er Jahren beim deutschen Bauhaus – nicht zufällig inmitten der blanken Not der Nachkriegszeit.

Gemeinsam ist allen Verfechtern dieses Grundsatzes, dass sie diesen als „Gesetz“ oder anderweitige Notwendigkeit formulieren, was dem Ganzen religiösen Charakter gibt.

Denn neben Naturgesetzen und den Gesetzen, die sich eine politische Gemeinschaft gibt, gibt es keine von vergleichbarer allgemeiner Bindungswirkung – es sind vielmehr frei erfundene Behauptungen, mit denen die Vertreter sich selbst über andere erheben wollen.

In der viele Jahrtausende umfassenden Geschichte der Gestaltung von Gegenständen ist die Funktion als oberstes Prinzip, aus dem die Form abzuleiten ist, auf Werkzeuge beschränkt. Alles übrige wurde schon immer gerade nicht rein funktionsbezogen gestaltet, sondern sollte den Dingen eine bestimmte eigenständige Wirkung verleihen.

Die bis heute unumstrittenen Meisterwerke der Gestaltung in der Menschheitsgeschichte wissen nichts von einem Gesetz „form follows function“. Haben sich ihre Urheber also geirrt und sind deren bis heute zahlreichen Bewunderer irgendwie Gesetzesbrecher?

Natürlich ist das alles Unsinn und man darf zuverlässig davon ausgehen, dass alle in Gesetzesform daherkommenden ästhetischen Urteile reine Scharlatanerie sind.

Vielmehr scheint es so, dass der „Normalfall“ der Gestaltung die gefällige oder anderweitig Emotionen weckende Erscheinung ist.

Nach einer kurzen Phase des brutalen Funktionalismus Mitte der 1920er Jahre, speziell im deutschsprachigen Raum, kehrte man auch im Automobildesign unter dem Eindruck der wirkungsvolleren Formgebung ausländischer Fabrikate zur schönen Form zurück.

Ausgerechnet die angeblich seelenlosen Großserienwagen aus amerikanischer Produktion verkörperten Ende der 1920er Jahre die tatsächlich bevorzugte Linie in vorbildlicher Weise.

Die attraktivsten Ergebnisse waren bei offenen Exemplaren zu besichtigen – erst kürzlich konnte ich hier dieses Beispiel von 1929 zeigen, welches in Deutschland zugelassen war, wo niemand Vergleichbares in dieser Preisklasse mit 6-Zylindermotor anbot:

Essex Super Six Cabriolet von 1929; Originalfoto: Sammlung Jörg Pielmann

Das war schon ganz schön schick und von der schnöden Funktion war hier außer den Haubenschlitzen und den Rädern nicht viel zu sehen.

Doch gab es anno 1929 im Angebot der Mittelklassemarke Essex eine Variante, die ich für noch raffinierter halte, was die Erscheinung angeht.

Es gab den offenen Zweisitzer des „Super Six“ nämlich auch in optisch besonders sportlichen Ausführungen, für welche die Bezeichnung „Speedabout“ überliefert ist. Eine Variante davon besaß sogar eine Bootsheckkarosserie.

Typisch für diese Sportversionen war die umlegbare Frontscheibe und der sich daraus ergebene Effekt war dann tatsächlich so erbaulich wie hier:

Essex Super Six Sport Roadster von 1929; Originalfoto: Sammlung Jörg Pielmann

Dieses großartige Foto verdanke ich wie das zuvor gezeigte Leser Jörg Pielmann.

Wäre doch traurig, wenn sich all das, was den Reiz dieses Essex und seiner Insassen ausmacht, dem Diktat der puren Funktion unterwerfen müsste, oder?

Wie primitiv das Ergebnis dann gewesen wäre, lässt das lieblos gestaltete Kennzeichen erahnen. Immerhin wissen wir so, dass dieses Auto im Raum Braunschweig zugelassen war – für solche banalen Zwecke ist „form follows function“ gerade gut genug.

Ansonsten sehen wir hier durch die schöne Form vollendete Funktion in mannigfaltiger Weise. Und so behaupte ich frech, dass es ein „Gesetz“ ist, dass Kultur jenseits der Notwendigkeiten beginnt und eine reine Orientierung an der Funktion in der von uns bewohnten Welt die reine Barbarei ist…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Der Typ hat Charakter! Ein Stoewer R-140

Mitunter bringt einen das aktuelle Zeitgeschehen dazu, über zeitlos Aktuelles zu sinnieren. Gelegenheit dazu bietet sich dieser Tage reichlich, meine ich.

Diesmal geht es um den Unterschied zwischen charakterlosen Typen und Typen mit Charakter. Wie ich gerade jetzt darauf komme, mag sich jeder selbst ausmalen.

Jedenfalls kennt wohl jeder den Typus des geländegängigen Opportunisten, des smarten Slalomfahrers, der allen Hindernissen geschickt ausweicht, um ans Ziel zu gelangen – in der Regel eines, das entgegen hehren Bekundungen eng ans Ego geknüpft ist.

Nichts gegen das Ego und damit verbundene Ziele. Doch finden sich bisweilen auch Naturen, denen auf ihrem persönlichen Weg das Geschmeidige weniger liegt, die keine Konfrontation scheuen und sich gern auch robuster Methoden (oder Rhetorik) bedienen.

Dieser Typus des Kämpfers ist selten Sympathieträger, aber oft einer, der sich Anerkennung dadurch erwirbt, dass er sich treu bleibt und auf eine schroffe Weise authentisch ist, die ihn glaubwürdiger macht als die biegsameren Karrieristen, welche allzuoft das Rennen machen.

Wie gesagt, Beispiele für beide Typen – den charakterlosen Mollusken und den robust-aneckenden Charakter – finden sich zu allen Zeiten.

Und da es an Typen ohne Charakter in unseren Tagen leider nicht mangelt, wir uns hier aber vor allem an positiven Beispielen erbauen wollen, beschränke ich mich im Folgenden auf einen Vorkriegstypen, bei dem man spontan ausrufen möchte: „Der hat Charakter!“

Stoewer Typ R-140, viertürige Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Na, was denken Sie über diesen Typen? Nun, bezogen auf den Herrn neben dem Wagen. der sich im Januar 1938 hat ablichten lassen, ist wohl soviel konsensfähig:

Gut betucht und nicht öffentlichkeitsscheu, selbstbewusst, aber im persönlichen Umgang vielleicht nicht der angenehmste. Auf jeden Fall einer, der weiß, wo es lang geht und dabei ungewöhnliche Wege nicht scheut – und sei es bei der Wahl seines Wagens.

Denn dieses nur auf den ersten Blick konventionelle Auto gehörte in der ersten Hälfte der 1930er Jahre zu den modernsten deutschen Autos der unteren Mittelklasse. Das waren in technischer Hinsicht insbesondere die Fronttriebler von Adler und Stoewer.

Während die Marke aus Frankfurt am Main sich einer gut geölten Großserienproduktion bedienen konnte, um ab 1932 den 1,5 Liter-Typ Trumpf an den Mann zu bringen, blieb die unverwüstliche Traditionsmarke Stoewer aus Stettin der Manufaktur verhaftet.

Dennoch hatte sie das Kunststück vollbracht, mit dem Typ V5 anno 1930 noch vor DKW Deutschlands ersten frontgetriebenen Serienwagen vorzustellen, was gern vergessen wird.

Der Stoewer R-140, den wir auf dem Foto sehen, war dann der erheblich verbesserte, weit stärkere und besser aussehende Nachfolger. Er kam 1932 mit 25 PS aus 1,4 Litern auf den Markt, doch schon 1933 hatte man den Motor auf 1,5 Liter (30 PS) vergrößert.

Ob die Höchstgeschwindigkeit von angeblich 85 km/h davon tatsächlich unberührt blieb, wage ich angesichts der Konkurrenz von Adler zu bezweifeln. Immerhin gab es laut Literatur eine sportlich abgestimmte Version mit angemessener Spitze 100 km/h.

Die viertürige Ausführung, welche auf dem Foto zu sehen ist, erschien 1934. Dass Stoewer diese Limousine zu fast demselben Preis anbieten konnte wie Adler sein Modell Trumpf, ist erstaunlich.

Geschuldet war es vielleicht dem Verzicht auf gefällige Details, ein weniger geschmeidiges Finish und ein robusteres Auftreten, was Laufkultur und Fahreigenschaften angeht.

Aber das machte womöglich gerade den Unterschied: Das war ein Typ mit Charakter!

Und wie eine zweite Aufnahme zeigt, war das ein Typ, der nicht nur in der Welt der gelackten Schuhe auf Anklang stieß, sondern auch keine Berührungsängste hatte, was die Welt der harten und schmutzigen Arbeit angeht, wo dennoch auf Ordnung Wert gelegt wird:

Stoewer Typ R-140, viertürige Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Mir sind solche ehrlichen Charaktertypen mit manchen Kampfspuren und Dellen, vielleicht auch dem einen oder anderen offensichtlichen Mangel lieber als perfekt gestylte Vertreter, bei denen man nicht weiß, woran man ist – bis man feststellt, dass das Äußere reines Blendwerk ist und sich dahinter Leere oder abgründige Absichten verbergen…

Die echten Charaktertypen sind heute so rar gesät wie einst und ich wage es zu bezweifeln, dass mehr als ein Dutzend dieser Stoewer-Frontantriebstypen mit viertürigem Limousinenaufbau noch unter uns weilen…

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War einst mal das A und O: Opel von 1908

Manchmal denke ich mir: Wir leben in der besten aller Zeiten.

Das mag jetzt überraschen, wissen doch meine langjährigen Leser, dass mich viele Phänomene des Hier und Jetzt deprimieren: das ästhetische Elend öffentlicher Bauten, die Unfähigkeit, Plätze und Parks zu gestalten, die sogenannte Moderne Kunst, die keinerlei Grundsätze und Qualitätsmaßstäbe kennt usw….

Und doch erlauben uns heutige Transportmittel, fast mühelos die schönsten Orte aufzusuchen, die einst von Menschenhand geschaffen wurden, oder auch die Naturwunder der Welt.

Wir können uns auf elektronischem Weg, die großartigsten Bilder und Skulpturen der letzten Jahrtausende vor Augen zaubern, sie auf Wände projizieren und sie sogar zum täglichen Genuss dauerhaft reproduzieren.

Ebenso können wir jederzeit und an jedem Ort sämtliche Meisterwerke der Musik aus den letzten 500 Jahren genießen. So höre ich gerade die Kantatensammlung „Salvator Mundi“ von Dietrich Buxtehude, komponiert im 17. Jh und eingespielt 2022 in der Klosterkirche der Abtei Sainte-Trinité de la Lucerne d’Outremer vom Ensemble Le Ricercar Consort.

Ist das nicht großartig, das A und O von allen Dingen verfügbar oder zumindest zugänglich zu haben? Gewiss, aber in vielen Fällen bedeutet „A und O“ nicht nur „Das Beste“ oder „Einfach Alles“, sondern im ursprünglichen Sinne „Anfang und Ende“.

Denn das „A und O“ sind der erste und der letzte Buchstabe des griechischen Alphabets, welches mit dem „Omega“ endet – letzteres im Unterschied zum „Omikron“ mit langem „O“.

So können wir Menschen des 21. Jh. davon ausgehen, dass wir Anfang und Ende vieler Dinge überschauen können. Die Meisterschaft antiker Mosaiken und Fresken, die Kunst der Kantate und der Fuge, die Welt von Englischen Gärten und klassizistischen Opernhäusern – alles abgeschlossen.

Und vermutlich leben wir in Zeiten, in denen wir auch Zeugen des Endes neuzeitlicher Kreationen auf dem Feld der Technologie sind – dem wohl einzigen Gebiet, in dem das Jetzt bislang brillierte.

Wer denkt nicht an einst große Automarken wie Alfa oder Lancia, die längst nur noch ein Schatten ihrer selbst sind und ein würdigeres Ende verdient hätten?

Ähnliches gilt für die Marke Opel, welche vor dem 1. Weltkrieg in deutschen Landen ganz selbstverständlich neben Benz, Daimler, NAG und Protos in höchsten Kreisen vertreten war. Was ist davon geblieben außer dem Namen?

Kaum jemand kann sich heutzutage noch vorstellen, dass Opel am deutschen Markt zu den Herstellern zählte, die das „A und O“ im Automobilbau repräsentierten. Illustrieren will ich dies heute anhand zweier ganz gegensätzlicher Aufnahmen.

Gemeinsam ist ihnen auf den ersten Blick nicht viel. Beginnen wir mit dem „A“ – das für den Anfang steht – zwar nicht der Marke Opel, aber des Lebens von Kindern aus begütertem Hause, die einst mit einem solchen Wagen wie selbstverständlich aufwuchsen:

Opel Tourenwagen um 1908; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese schöne Aufnahme lief 1910 oder 1911 als Ansichtskarte von Wiesbaden nach Frankfurt am Main – adressiert war sie an ein Fräulein Anne Klinzner in der Scheffelstraße 13 im einst großbürgerlich geprägten Frankfurter Nordend.

So wie die kleinen Kinder für den Beginn des Lebensweges stehen, so repräsentiert auch der hier recht groß wirkende Wagen eine frühe Phase des Herstellers Opel.

Dieser ist übrigens hier nur anhand der Form des Kühlers und der Gestaltung des Kühlerwasserstutzens zu erkennen und auf etwa 1908/09 zu datieren.

1908 hatte Opel mit dem relativ kompakten Modell 10/18 PS, das auf dieser Aufnahme wahrscheinlich zu sehen ist, einen Neubeginn gewagt. Denn neben den bisher dominierenden großen bis sehr großen Wagen boten die Rüsselsheimer damit nun einen kompakteren Typ an.

Gleichwohl blieb auch dieser Typ mit seinem 2,5 Liter-Vierzylinder nur einem winzigen Teil der Bevölkerung zugänglich und man sieht den Kindern auf dem Foto an, dass sie aus Verhältnissen stammten, in denen man keine materiellen Sorgen kannte.

Der Opel markierte für diese Kleinen also gewissermaßen das „A und O“ der damals verfügbaren Transportmittel. Anstelle mit Pferdegespann, Straßen- oder Eisenbahn wuchsen sie bereits mit einem Automobil auf.

Sie dürften – wenn sonst nichts dazwischenkam – den weiteren Weg der Marke Opel bis weit in die Nachkriegszeit verfolgt haben – vielleicht sogar bis ans Ende des 20. Jh. Dann waren sie Zeuge eines langen – ab den 1960er Jahren allmählich abschüssigen Weges eines einst hochangesehenen und kompetenten Herstellers.

Doch das „O“ – also das „Omega“ und damit das Ende – konnte einen Opel schon viel früher ereilen, lange vor rostanfällligen Schaurigkeiten wie „Astra“ und „Omega“ der 90er Jahre.

Damit verbunden sein konnte auch das Ende des Fahrers selbst – ein weiteres Foto von anno 1908 gemahnt uns an diese finale Bedeutung von „A und O“:

Opel Sportwagen um 1908; Originalabbildung: Sammlung Michael Schlenger

Diese zeitgenössische Abbildung zeigt einen Opel mit dem 1908 eingeführten markanten Sportwagenaufbau, welcher für diverse Motorisierungen erhältlich war.

Selbst der eingangs abgebildete kompakte Typ 10/18 PS konnte mit diesem aufs Wesentliche reduzierten 2-Sitzer-Aufbau geordert werden, dessen niedrigeres Gewicht mehr Agilität versprach.

Der oben genannte und abgebildete Fahrer Otto-Hermann Fritzsche dürfte aber über ein stärkeres Modell mit 40 bis 60 PS verfügt haben. Mit diesem Gefährt, das um die 100 km/h Spitze erreicht haben dürfte, kam er 1908 auf der Landstraße ums Leben.

So schnell konnte es also vorbei sein, wenn man mit dem damaligen „A und O“ aus dem Hause Opel unterwegs war. Es gibt prosaischere und vor allem elendere Wege, aus dem Leben zu scheiden – von daher seien wir nicht traurig.

Bisweilen ist ein rasantes Ende auf der Höhe des Lebens einem langen Siechtum vorzuziehen – und das gilt beileibe nicht nur für Opel. Doch leider sterben zivilisatorische Phänomene meist einen langen Tod und es schmerzt, das mitzuerleben…

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Krass, was „Cars“ bedeuten kann! Morris von 1933

Zurückgekehrt aus dem Süden, wo sich der Herbst von seiner schönsten Seite zeigt, stellte ich heute fest, dass mir zumindest der Sonnenschein gefolgt zu sein scheint.

Die Berge von Laub im Garten und die verbliebenen Rosenblüten stellen sich in warmem Licht ganz anders dar, auch wenn die Temperaturen nicht mehr ideal für ein kurzärmeliges Oberteil erschienen. Aber egal, solange man sich bewegt, wird es schon gehen.

Die Einstellung kann nicht allen Dingen eine neue Richtung geben, aber den Umgang mit ihnen beeinflussen. Über mir am Himmel zogen immer neue Schwärme von Wildgänsen, während ich Holz eines im letzten Jahr gefällten Baums kamingerecht zerkleinerte.

Irgendwann wurde es dann doch frisch und ich suchte mir andere Betätigung – nun in der einst als Kuhstall dienenden Halle mit massiven Ziegelmauern, die den Großteil meiner historischen Gefährte beherbergt und in der es noch etliche Grad wärmer ist als draußen.

Die Beschäftigung mit den Hinterlassenschaften der Vergangenheit ist es, welche einen davon bewahrt, den Verhältnissen der Gegenwart zuviel Macht über die eigene Befindlichkeit zu geben. Lässt man sich darauf ein, macht man erstaunliche Entdeckungen.

Darauf spielt der merkwürdig klingende Titel meines heutigen Blog-Eintrags an. In der Tat krass, was sich einem offenbart, wenn man auf einen Namen wie „Carshalton“ stößt und seiner Bedeutung nachgeht.

Klar, dass es dabei oberflächlich um „cars“ geht, wie man das hier erwarten würde, doch das Wort bedeutet im gegebenen Kontext etwas ganz anderes als „Autos“ auf englisch.

Dabei führt uns das folgende Foto an einen anderen Ort, wie er englischer kaum sein könnte. Zwar ist dieser seit den 1960er Jahren Teil von „Greater London“, doch historisch ist es ein Städtchen, das sich eine gewisse ländliche Anmutung bewahrt hat.

In besagtes „Carshalton“ transportiert uns dieses Foto aus den 1950er Jahren:

Morris von 1933; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Die viertürige Limousine mit sechs Seitenfenstern ist unverkennbar britisch. Die Silhouette mit hohem Aufbau und schmaler Kühlerfront ist ein Merkmal vieler Automobile aus dem England der 1930er Jahre.

Schnell ist der Hersteller „Morris“ identifiziert und das Baujahr auf 1933 festgelegt. Offenbar war dieses Exemplar noch über 20 Jahre nach seiner Produktion in hervorragendem Zustand im Alltag unterwegs und die Chancen stehen gut, dass „GW 3793“ – das Nummernschild stand früher in England für die Identität eines Autos – noch heute existiert.

Viel interessanter fand ich aber, wo dieses Fahrzeug in den 1950er Jahren aufgenommen wurde. Die Ortsangabe „Carshalton Place“ verweist nämlich mitnichten auf einen Ort, wo es Autos geboten war anzuhalten, wie man vermuten könnte.

Tatsächlich transportiert uns diese Bezeichnung fast 1.000 Jahre zurück in die Zeit, als das bis dahin angelsächsisch geprägte England eine Kulturspritze in Form der Übernahme durch die neuen Herren aus der französischen Normandie erhielt.

Ursprünglich ging es dabei „nur“ um die englische Thronfolge, doch letztlich transformierten die Eroberer unter „William the Conqueror“ anno 1066 das bis dato von eher primitiven germanischen Stämmen beherrschte England binnen kürzester Zeit.

Eines der beeindruckendsten Zeugnisse des Herrschaftswillens, aber vor allem der organisatorischen Kompetenz der romanisierten „Normannen“ ist das bereits 1086 fertiggestellte „Domesday Book“.

Dabei handelt es sich um ein bis ins Detail jedes Hofes vollständiges Kataster Britanniens, in dem fast 13.500 Orte mit rund 270.000 Haushalten aufgeführt sind – das einzige erhaltene Werk dieser bis heute atemberaubenden Präzision aus dem Mittelalter.

In dem Werk aus dem späten 11. Jh. erscheint auch Carshalton – womit die Verbindung zu dem Morris hergestellt ist. Das Domesday Book hält fest, dass es in der winzigen Ortschaft „Aulton“ eine Kirche, eine Mühle, eine handvoll Haushalte und zehn Pflüge gab.

Die frühe Bezeichnung Aulton setzte sich zusammen aus Aul für Wasser und ton für Ort (vgl. „town“, „Zaun“ usw.). Etwas später findet sich für das Dorf die Bezeichnung „Cresaulton“, die auf das französische Wort für „Kresse“ zurückgeführt wird.

Krass, was eine fast tausendjährige Quelle über den Aufnahmeort dieses Morris offenbart:

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