Wer sich mit Gestaltungsfragen beschäftigt – ob in Bezug auf Architektur, Haushaltsgegenstände oder Automobile – ist ihm schon einmal begegnet, dem Diktum: „Form follows function“ – „Die Form ergibt sich aus der Funktion“.
Eine frühe Formulierung in der Richtung findet sich bereits Mitte des 19. Jh. beim US-Bildhauer Horatio Greenough, kurz vor der Jahrhundertwende dann beim ebenfalls amerikanischen Architekten Louis Sullivan.
Eine radikale Neuinterpretation, die das Ornament als ebenfalls berechtigten Zweck, welcher die Formgebung leitet, ausschließt, findet sich dann in den 1920er Jahren beim deutschen Bauhaus – nicht zufällig inmitten der blanken Not der Nachkriegszeit.
Gemeinsam ist allen Verfechtern dieses Grundsatzes, dass sie diesen als „Gesetz“ oder anderweitige Notwendigkeit formulieren, was dem Ganzen religiösen Charakter gibt.
Denn neben Naturgesetzen und den Gesetzen, die sich eine politische Gemeinschaft gibt, gibt es keine von vergleichbarer allgemeiner Bindungswirkung – es sind vielmehr frei erfundene Behauptungen, mit denen die Vertreter sich selbst über andere erheben wollen.
In der viele Jahrtausende umfassenden Geschichte der Gestaltung von Gegenständen ist die Funktion als oberstes Prinzip, aus dem die Form abzuleiten ist, auf Werkzeuge beschränkt. Alles übrige wurde schon immer gerade nicht rein funktionsbezogen gestaltet, sondern sollte den Dingen eine bestimmte eigenständige Wirkung verleihen.
Die bis heute unumstrittenen Meisterwerke der Gestaltung in der Menschheitsgeschichte wissen nichts von einem Gesetz „form follows function“. Haben sich ihre Urheber also geirrt und sind deren bis heute zahlreichen Bewunderer irgendwie Gesetzesbrecher?
Natürlich ist das alles Unsinn und man darf zuverlässig davon ausgehen, dass alle in Gesetzesform daherkommenden ästhetischen Urteile reine Scharlatanerie sind.
Vielmehr scheint es so, dass der „Normalfall“ der Gestaltung die gefällige oder anderweitig Emotionen weckende Erscheinung ist.
Nach einer kurzen Phase des brutalen Funktionalismus Mitte der 1920er Jahre, speziell im deutschsprachigen Raum, kehrte man auch im Automobildesign unter dem Eindruck der wirkungsvolleren Formgebung ausländischer Fabrikate zur schönen Form zurück.
Ausgerechnet die angeblich seelenlosen Großserienwagen aus amerikanischer Produktion verkörperten Ende der 1920er Jahre die tatsächlich bevorzugte Linie in vorbildlicher Weise.
Die attraktivsten Ergebnisse waren bei offenen Exemplaren zu besichtigen – erst kürzlich konnte ich hier dieses Beispiel von 1929 zeigen, welches in Deutschland zugelassen war, wo niemand Vergleichbares in dieser Preisklasse mit 6-Zylindermotor anbot:

Das war schon ganz schön schick und von der schnöden Funktion war hier außer den Haubenschlitzen und den Rädern nicht viel zu sehen.
Doch gab es anno 1929 im Angebot der Mittelklassemarke Essex eine Variante, die ich für noch raffinierter halte, was die Erscheinung angeht.
Es gab den offenen Zweisitzer des „Super Six“ nämlich auch in optisch besonders sportlichen Ausführungen, für welche die Bezeichnung „Speedabout“ überliefert ist. Eine Variante davon besaß sogar eine Bootsheckkarosserie.
Typisch für diese Sportversionen war die umlegbare Frontscheibe und der sich daraus ergebene Effekt war dann tatsächlich so erbaulich wie hier:
Dieses großartige Foto verdanke ich wie das zuvor gezeigte Leser Jörg Pielmann.
Wäre doch traurig, wenn sich all das, was den Reiz dieses Essex und seiner Insassen ausmacht, dem Diktat der puren Funktion unterwerfen müsste, oder?
Wie primitiv das Ergebnis dann gewesen wäre, lässt das lieblos gestaltete Kennzeichen erahnen. Immerhin wissen wir so, dass dieses Auto im Raum Braunschweig zugelassen war – für solche banalen Zwecke ist „form follows function“ gerade gut genug.
Ansonsten sehen wir hier durch die schöne Form vollendete Funktion in mannigfaltiger Weise. Und so behaupte ich frech, dass es ein „Gesetz“ ist, dass Kultur jenseits der Notwendigkeiten beginnt und eine reine Orientierung an der Funktion in der von uns bewohnten Welt die reine Barbarei ist…
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.