Eigentlich war für den finalen Starauftritt im Monat November 2024 ein ganz anderes Fahrzeug vorgesehen. Jedoch habe ich es irgendwie geschafft, dessen Konterfei verschwinden zu lassen, weshalb ich beim Einsender nochmals vorsprechen muss.
Das bringt mich aber nicht in die Bredouille – denn in meinem Fundus und dem von Sammlerkollegen, welche hier großzügig ihre Schätze teilen, schlummert noch Material für viele „Monde“, wie laut Karl May die gemeine Rothaut zu sagen pflegte.
Also greife ich wie die Lottofee einfach, ohne hinzusehen, in die digitale Fotokiste und zaubere einen anderen Sieger hervor – einen Scheibler!
Puuh, werden jetzt die vermutlich wenigen Kenner dieser frühen Marke aus Aachen denken. Das waren doch wenig aufregende Gefährte mit Ein- und Zweizylindermotoren, zu Beginn (1900) sogar noch mit Reibradantrieb, der nur für geringe Leistungen geeignet war.
Bis 1907 blieben diese schon damals altertümlich wirkenden Fahrzeuge in Produktion. Sie mögen automobilhistorisch interessant sein und erlangten zeitweise gewisse Verbreitung.
Doch erstens bin ich kein Automobihistoriker, sondern Dilettant, und zweitens verlangt der Ästhet in mir, dass der „Fund des Monats“ auch optisch etwas hermachen sollte. Genau das kann ich Ihnen heute in Sachen Scheibler bieten.
Die Gelegenheit dazu verdanke ich einmal mehr Leser Klaas Dierks – neben Matthias Schmidt, Jörg Pielmann, Marcus Bengsch und Jürgen Klein – einer meiner wichtigsten Komplizen in Sachen Vorkriegsautos auf alten Fotos.
Genug der Vorrede – Mitternacht rückt näher und bis dahin muss ich „fertig“ sein. Vergessen Sie also alles, was sie bisher mit der Marke Scheibler verbinden und sehen sich das hier an:

Auch wenn auf diesem Abzug nicht von alter Hand „Scheibler“ vermerkt wäre, wäre dieser mächtige Tourenwagen ein aufsehenerregender Fund.
Derartige Dimensionen und Proportionen erreichten vor 1910 nur wenige Luxusfabrikate. Die Kombination aus hohem Aufbau und niedriger, dabei sehr langer Motorhaube war Merkmal weniger ganz großer Fahrzeuge.
Eine ähnliche Optik mit einer Vielzahl von Luftschlitzen in der Haube findet sich bei deutschen Spitzenmodellen wie denen von NAG und Protos aus Berlin, aber auch solchen von heute weniger bekannten Herstellern wie Dürkopp, Nacke und Priamus.
Übrigens sollte man die lange Haube nicht als Hinweis auf einen Sechszylindermotor fehlinterpretieren. Solche waren damals in deutschen Landen noch äußerst selten.
Nein, die enormen Hubräume damaliger Oberklassewagen waren es, welche bereits bei Vierzylindertypen dermaßen viel Platz beanspruchten.
Wenn Sie jetzt fragen, von welcher Zeit wir hier überhaupt reden, dann haben wir als ersten Hinweis das Fehlen des „Windlaufs“, der ansteigenden Blechpartie zwischen der Motorhaube und der Trennwand zum Innenraum, die 1910 in Deutschland zum Standard im Serienbau wurde.
Einen zweiten Orientierungspunkt liefert die Gestaltung der Vorderkotflügel. Vor etwa 1908 schlossen diese im Regelfall noch nicht in harmonischem Schwung an das Trittbrett an, sondern ihr hinterer Abschluss durch“schnitt“ die Ebene des Trittbretts und reichte etwas weiter nach unten. Auch das ist hier der Fall.
Die abgerundete Oberseite der Vorderkotflügel wiederum ist aber etwas, das ich vor 1906/07 noch nicht mit Bewussetsein gesehen habe. Bei früheren Wagen war die Oberseite durchweg flach ausgeführt, meine ich.
So bin ich ganz unabhängig von der Wagenmarke durch rein stilistische Betrachtung zu der im Titel enthaltenen Datierung 1906/07 gelangt.
Tatsächlich war bis zum 1. Weltkrieg das Erscheinungsbild der meisten deutschen Wagen in erster Linie von allgemeinen Tendenzen geprägt – markentypisch waren fast immer nur der Kühler, oft noch die Motorhaube und die Nabenkappen der Räder.
Jetzt bleibt uns „nur“ noch die Identifikation der Marke und des Typs. Da es in der mir vorliegenden Literatur zu deutschen Wagen der Zeit vor 1910 kein Foto eines vergleichbaren Automobils gibt, liefert die Beschriftung „Scheibler“ den einzigen Hinweis.
Schauen wir doch , was unter der Marke damals angeboten wurde – die Daten sind ja überliefert, bloß an Abbildungen mangelt es. Demnach brachte Scheibler 1904 zwei Vierzylindertypen heraus, die 30 bzw. 40 PS leisteten, damals enorm viel.
Hier eine Reklame für das „schwächere Modell“, die mir Leser Wolfgang Spitzbarth zusandte und die sich so auch in Hans-Heinrich von Fersens Standardwerk „Autos in Deutschland 1885-1920“ (Erstauflage: 1965) findet:
Diese sehr teuren Modelle blieben bis 1907 in Produktion, als der Hersteller sich auf die lukrativere LKW-Produktion beschränkte.
Ich stelle daher die Behauptung auf, dass wir auf dem Foto von Klaas Dierks das Scheibler-Spitzenmodell 35/40 PS mit spektakulären 6,9 Litern Litern Hubraum sehen. Letztere waren auf vier opulent dimensionierte Zylinder mit je fast 13cm Durchmesser verteilt – was erheblich zur Baulänge des Motors und damit der Länge der Motorhaube beitrug.
Gleichzeitig war der Hub der Kolben mit 14 cm nicht außergewöhnlich hoch, was in Verbindung mit den damals üblichen Seitenventilen eine recht flache Bauweise erlaubte.
Technisch machbar war das alles für eine heute kaum vorstellbare Vielzahl von Herstellern – bloß erreichten die wenigsten die zum Überleben erforderlichen Stückzahlen.
Es würde mich wundern, wenn von den großen Scheibler-Wagen zwischen 1904 und 1907 mehr als 100 Stück entstanden. Sonst hätten sie mehr Spuren hinterlassen müssen. Das unterstreicht zugleich den Rang des Fotos, das wir Klaas Dierks verdanken.
Umso erfreulicher wäre es natürlich, wenn doch noch jemand etwas in der Richtung beisteuern könnte, was meine Identifikation bestätigt oder auch verwirft…
Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.