Der klebt auf der Straße! Hanomag 3/17 bzw. 4/23 PS

Ein griffiger Titel ist bei jedweder Publikation die halbe Miete – spontan fallen mir folgende Beispiele ein: „Freitags für Freizeit“, „Frust vom Frieren“ oder auch „Frechheit vor Freiheit“.

Wenn Sie nun glauben, ich machte es mir mit „Der klebt auf der Straße“ ebenso einfach und würde entgegen der Faktenlage eine zugkräftige Formulierung wählen, so irren Sie.

Selten war ich „der Wahrheit“ näher als heute, jedenfalls kann ich meine Behauptung schwarz auf weiß belegen. Keine Chance also für selbsternannte Faktenchecker – diese machtverliebten Hausmeistertypen der Internetära, jede Zeit hat ihre Plagen…

Wir sind ihm schon einmal begegnet – dem Hanomag des Typs 3/17 bzw. 4/23 PS von Anfang der 1930er Jahre. Er beerbte den 1930 eingeführten Vorgänger 3/16 bzw. 4/20 PS, dessen Aufbau noch etwas grobschlächtig wirkte:

Hanomag 3/16 PS oder 4/20 PS, Bauzeit: 1930-31; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Auf zwei Dinge möchte ich hier Ihr Augenmerk lenken:

Das eine ist der im Unterschied zur gewölbten Motorhaube waagerechte Verlauf des unteren Abschlusses der Windschutzscheibe, ein gestalterischer Rückfall in die Zeit vor 1920, möchte man meinen.

Die andere Sache ist der recht hochbeinige wirkende Auftritt – das Trittbrett befindet sich genau auf Höhe der Radmitte.

So, und jetzt schauen wir uns den noch 1931 eingeführten Nachfolger mit modernisierter Karosserie an:

Hanomag 3/17 PS oder 4/23 PS, Bauzeit: 1931-32

Sehen Sie die Unterschiede? Nicht nur verfügt dieser Hanomag über eine doppelte Chromstoßstange und ebenfalls verchromter Nabenkappe – er wirkt auch insgesamt verfeinert und: etwas tiefergelegt!

Zur Verfeinerung des Erscheinungsbilds tragen folgende Details bei: dem Profil der Motorhaube folgender Scheibenabschluss, filigraner gestaltete seitliche Zierleisten und das Rad stärker umfassender hinterer Kotflügel.

In der zugehörigen Reklame von 1931 heben die Werbeleute von Hanomag allerdings andere Dinge hervor – neben Selbstverständlichkeiten vor allem technische Aspekte:

Hanomag 3/17 PS bzw. 4/23 PS, Reklame von 1931; Original: Sammlung Michael Schlenger

Die hydraulischen Vierradbremsen verdienen in der Tat die Betonung, während die Behauptung, es sei nur in seltenen Fällen Schalten erforderlich, eine kühne These ist.

Das gilt speziell im Fall des untermotorisierten Typs 3/17 PS, dessen Vierzylinder mit gerade einmal 800ccm Hubraum an den knapp 750 kg Leergewicht schwer zu schleppen hatte.

Noch mehr dichterische Freiheit nahm man sich bei einer weiteren zeitgleichen Werbung, die dem Hanomag Kraftreserven zuschreibt, die man nie benötige – wozu sind sie dann da?

Es war schon Frechheit, sich gar mit Wagen der 35 bis 45 PS-Klasse vergleichen zu wollen:

Hanomag 3/17 PS bzw. 4/23 PS, Reklame von 1931; Original: Sammlung Michael Schlenger

Sicher haben Sie bei der amüsierten Lektüre bemerkt, woher ich die Inspiration für meinen heutigen Titel bezogen habe: „…klebt förmlich an der Straße…“ heißt es da.

Begründet wird das mit dem Tiefbettrahmen, der einen niedrigen Schwerpunkt des Wagens zur Folge hatte – man kann das auf dem oben gezeigten Foto tatsächlich nachvollziehen.

Somit kann ich schwarz auf weiß belegen, was ich so kühn im Titel behaupte – es geht doch nichts über eine Expertenmeinung, auf die man sich beziehen kann.

Allerdings nehme ich für mich in Anspruch, selbst zu überlegen, ob das alles so sein kann, wie es behauptet wird und wurde. Dazu bediene ich mich einerseits der altbewährten Praxis des Selberdenkens, andererseits präsentiere ich gerne Evidenz für meine Sicht der Dinge.

Was nun die Bodenhaftung tiefergelegter Exemplare betrifft, kann ich in Sachen Hanomag 3/17 bzw. 4/23 PS sogar das ultimative Beweisfoto anführen.

Der Wagen wirkt hier aufgrund eines Steinschlagschutzes vor dem Kühler etwas anders, aber auf ihn kommt es auch gar nicht an – sehen Sie selbst:

Hanomag 3/17 PS bzw. 4/23 PS von 1931/32; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

So nah am Boden der Tatsachen wie dieser tiefergelegte selbstbewusste Hund war einst offenbar auch der Hanomag – viel günstiger konnte man damals in Deutschland jedenfalls keinen Wagen dieser Klasse bekommen, der „förmlich auf der Straße klebte“.

Vielleicht hätte die Marke aus Hannover mit so einer Aufnahme für ihren Wagen werben sollen – dann hätte sie wohl noch mehr als die knapp 7000 Exemplare an den Mann und die Frau mit Faible für Vierbeiner bringen können, welche 1931/32 entstanden…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Vom Zauber des Details: Steyr 30S Luxus-Cabriolet

Man sollte nicht planlos durchs Leben gehen, aber man sollte auch nicht zu planvoll leben.

Die unerwarteten Dinge sind oft diejenigen, welche uns eine unverhoffte Tür im Dasein öffnen, unserem Streben eine neue Richtung geben oder überhaupt erst einmal ein Ziel.

Dazu muss man sich verführen lassen können – nicht immer, nicht beliebig, nicht zu leicht – aber unbedingt dann, wenn Außergewöhnliches lockt, vielleicht Einmaliges.

Wenn ich wie heute abend alte Fotos durchgehe – diesmal solche auf meiner ersten Digitalknipse, die mich 12 Jahre lang begleitete – dann finde ich dort viele Erinnerungen an Momente, die ich der Bereitschaft verdanke, sich verführen zu lassen.

Beim Durchblättern stieß ich auf diese Aufnahme, welche den Titel des heutigen Blog-Eintrags für mich perfekt verkörpert:

Schloss Hünnefeld, Mai 2011; Bildrechte: Michael Schlenger

Ob nun die Zypressen im Hintergrund, der Messinggriff am Fenster oder das Blattwerk auf den Vorhängen – alles auf diesem Foto kündet vom Zauber des Details. Und es steht für mich auch für etwas, was hier gar nicht zu sehen ist, sondern um die Ecke wartet.

Das war der Fiat 1100D von 1964, den ich mit der besseren Hälfte im Jhar 2011 durch halb Deutschland fuhr. Der Wagen hatte sein ganzes Leben in Norden in Ostfriesland verbracht und der Tachometer zeigte wenig mehr als originale 30.000 km an.

Wir hatten uns im Vorjahr auf der Techno Classica-Messe in Essen von dem dort privat angebotenen Wagen verführen lassen, den wir gar nicht gesucht hatten.

Wir kauften den Fiat ohne Probefahrt und holten ihn im Frühjahr bei den sympatischen Vorbesitzern mit frischem TÜV ab. Da der Wagen nur Kurzstreckenverkehr kannte, beschlossen wir, ihn gemütlich über Land heimzufahren ins hessische Bad Nauheim.

Wir nutzten die Gelegenheit, die Schönheiten der norddeutschen Tiefebene zu genießen, wo die Landschaftszerstörungen durch die Renditegeneratoren der Windstromindustrie damals noch nicht soweit „gediehen“ waren wie heute.

Unterwegs übernachteten wir auf Schloss Hünnefeld im Osnabrücker Land. Dort entstand das eingangs gezeigte Foto.

Der Fiat brachte uns auf der längsten Fahrt seines bisherigen Lebens problemlos nach Hause und gehört seither zu den zauberhaften Details unseres Daseins in der Wetterau.

Hier ist er als solches vor der nahegelegenen staufischen Münzenburg zu sehen:

Fiat 1100 D; Bildrechte: Michael Schlenger

Auch wenn unser Fiat ein typisches Kleid der 1960er Jahre trägt – ergänzt um friesische Spitze, die an seine alte Heimat erinnert – so stellt er doch eine unmittelbare Verbindung zur Vorkriegszeit her, um die es in meinem Blog vorrangig geht.

Der erstaunlich laufruhige und nach sorgfältigem Einfahren auch drehfreudige kopfgesteuerte Motor entsprach dem Grundsatz nach immer noch der Konstruktion von 1937, als der erste Fiat 1100 erschien – anfänglich als Typ 508C angeboten.

Zu diesem auch in Deutschland gebauten Modell – für mich eines der besten seiner Klasse überhaupt – finden sich in meinem Blog jede Menge Dokumente.

Doch will ich nun auf der Suche nach dem „Zauber des Details“ ein paar Jahre zurückgehen. Die erste Station machen wir noch hoch zu Pferde:

Steyr Typ 30S Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme habe ich vor gut einem Jahr hier ausführlich gewürdigt.

Heute nehmen wir davon nur ein Detail mit – nämlich dass der links neben den majestätischen Rassepferden beinahe schüchtern wirkende Wagen ein Steyr des Typs 30S war.

Dieser musste sich bei Erscheinen anno 1932 jedoch nicht verstecken. Denn der 2-Liter-Sechszylindermotor des Basismodells Steyr XXX (ab 1930) erhielt im Fall des „S“ einige extra Pferdestärken und war mit dann 45 PS sowie Viergang-Getriebe auch sonst ein exzellentes Automobil in seiner Klasse.

Nun mögen Sie jetzt denken, dass die Pferde unter der Haube wenig zum sichtbaren Zauber im Detail beitragen, den ich Ihnen heute versprochen habe.

Ganz recht, und daher muss ich zum Schluss noch im Detail nachlegen. Zum Glück bot Steyr den Typ 30S mit einer Reihe attraktiver Aufbauten an.

Den flotten Roadster dieses Typs habe ich leider noch nicht vor die Flinte bekommen, aber Sie können ihn immerhin auf Seite 160 von Hubert Schiers Standardwerk „Die Steyrer Automobil-Geschichte“ bewundern.

Mit einer Aufnahme kann ich dann doch aufwarten, die meines Erachtens vom Zauber des Details in Sachen Steyr 30S kündet. Außer mir wollte niemand dieses Foto haben, dabei passt es perfekt zur heutigen Story:

Steyr Typ 30S Luxus-Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Vielleicht bin ich nach teutonischen Maßstäben übersensibel für solche Dinge, aber für mich entfaltet sich in der Linienführung der Tür von links unten über den oberen Abschluss bis zum hinteren Karosserieausschnitt für das üppige Verdeck ein Zauber im Detail, den ich so bei noch keinem anderen Wagen jener Zeit bemerkt habe.

Ich verspüre hier nicht das geringste Bedürfnis, den ganzen Wagen zu sehen, auch wenn mir Steyr-Spezialist Thomas Billicsich aus Österreich schon vor längerer Zeit eine entsprechende Aufnahme aus einem Archiv zugefunkt hat, die Eingang in meine Steyr-Galerie gefunden hat.

Wenn auch Sie, geschätzte Mitleser, sich diesem Zauber des Details gern hingeben und darin Ihrem Dasein einen schönen Moment abgerungen haben, begleitet von einem „Hach…“, einem „Schee…“ oder auch einem „O Yeah….“ , dann bin ich zufrieden…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Rüstige Senioren sind gefragt! Opel 30/50 PS

Die Schrumpfung des Erwerbstätigenpotenzials – ergänzt durch die noch schneller sinkende Zahl der Erwerbswilligen – verlangt zunehmend Kreativität, wenn der Laden in deutschen Landen halbwegs am Laufen gehalten werden soll.

Nicht zufällig werden für deutsche Rentner die Möglichkeit des Nebenverdiensts immer großzügiger gestaltet, denn rüstige Senioren sind gefragt und die Renten sind mickrig.

Man muss ja nicht so weit gehen wie zu Zeiten der römischen Republik vor Einführung der Berufsarmee ab etwa 100 v. Chr.

Damals griff man man bei den wehrpflichtigen Bürgern neben den „iuniores“ – den bis 45-jährigen – notfalls auf die „seniores“ zu, also die Älteren. Diese konnten auch mal über 60 sein – entscheidend war die Fähigkeit zum bewaffneten Einsatz.

Was aus der Spätphase des 2. Weltkrieg bekannt ist, als das nationalsozialistische Regime neben Kindern auch alte Männer in den Kampf schickte, sofern diese nicht von einzelnen Militärs wieder nach Hause geschickt wurden – das gab es auch bereits im 1. Weltkrieg – allerdings in einer wenig beachteten Variante.

Denn offenbar schreckte man damals nicht davor zurück, noch auf rüstige Senioren in Form von Veteranenautos zuzugreifen!

Leser Jürgen Klein stellte mir in digitaler Form das passende „Beweisfoto“ zur Verfügung:

Opel 30/50 PS von 1909 im 1. Weltkrieg; Originalfoto: Sammlung Jürgen Klein

Wenn Sie diese rund 110 Jahre alte Aufnahme ratlos lässt und Sie nur ein altertümliches Automobil mit einem lederbejackten Chauffeur sehen, dann muss ich für Aufklärung sorgen.

Der quasi an seinem Arbeitsplatz aufgenommene Herr ist nämlich bei näherer Betrachtung als Mitglied der Kraftfahrertruppe des deutschen Heeres zu erkennen.

Diese Männer trugen im 1. Weltkrieg ein auf dem Jackenkragen angebrachtes Emblem in Form der Silhouette eines Automobils mit geschlossenem Aufbau. Die übrige Kleidung war – von Koppel und „Knobelbechern“ abgesehen – an die rustikale Lederkluft damaliger Chauffeure angelehnt:

Leser meines Blogs wissen natürlich, dass ein Automobil ab 1914 wesentlich moderner aussah.

Der Übergang von Motorhaube zur Windschutzscheibe war dann harmonisch gestaltet, die Partie zwischen Trittbrett und Aufbau war geschlossen, sodass man Chassisrahmen und Trittbrett nicht mehr sah. Auch das Fahrerabteil besaß nunmehr Türen.

Ein geeignetes Vergleichsfoto ist dieses, welches einen großen Opel von 1913/14 ebenfalls im 1. Weltkrieg im von deutschen Truppen besetzten St. Quentin in Frankreich zeigt:

Opel 29/70 PS von 1913/14 im 1. Weltkrieg; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Zwei Dinge hatten die Wagen auf den beiden Fotos jedoch gemeinsam:

Zum einen sind sie an der leichten Neigung der durchgehenden Reihe von Luftschlitzen in der Motorhaube als Opel zu erkennen.

Zum anderen zählten sie bei Erscheinen jeweils zu den Spitzenmodellen der Rüsselsheimer Marke, welche damals noch das gesamte Spektrum vom leichten Einsteigermodell bis zur schweren Luxuskarosse abdeckte. Beides kennt man von Opel schon lange nicht mehr…

Der in St. Quentin vor dem Rathaus abgelichtete Wagen dürfte die 70 PS starke Ausführung mit 7,3 Liter großem Vierzylindermotor gewesen sein.

Dieses Modell löste ab 1910 die veralteten Typen 30/50 PS bzw 35/60 PS ab, welche bei vergleichbarem oder sogar noch größerem Hubraum weit weniger leistungsfähig waren, aber zu ihrer Zeit Automobile der Spitzenklasse darstellten.

Wahrscheinlich sehen wir so einen Veteranen von anno 1909 auf dem Foto von Jürgen Klein. Damals entsprachen 5 Jahre einer ganzen Autogeneration in technischer wie gestalterischer Hinsicht.

Das erklärt, weshalb die eingangs gezeigte große Opel-Limousine im 1. Weltkrieg wie aus einer anderen Zeit wirkte. Sie zählte zwar zu den Rentnern, war aber in der Praxis noch so rüstig, wie man sich das beim Militär mit seiner chronischen Knappheit an geeignetem Material nur wünschen konnte.

Wer auch immer mit diesem Vertreter der Senioren-Fraktion unterwegs war, wird keinen Mangel bemerkt haben. Der Wagen war bei guter Instandhaltung in Bestform und wer wollte nicht auf einen Veteranen vertrauen, wenn es darauf ankam?

Dass es die Menschheit nicht gelernt hat, ihre Konflikte anders zu lösen und immer wieder Kriege provoziert oder vom Zaun gebrochen werden, das steht auf einem anderen Blatt.

Hoffen, wir, dass es in unseren Tagen einigen rüstigen Senioren gelingt, demnächst einen Waffenstillstand vor Europas Haustür zuwegezubringen und jüngeren Heißspornen zuvorzukommen, die nicht wissen, wovon sie reden und was sie riskieren…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Tragischer Held – banales Ende: Ajax von 1925/26

Um die klassische Bildung steht es nicht zum Besten in unseren Tagen. Das gilt insbesondere für die Vertrautheit mit den Mythen des klassischen Altertums, obwohl diese wie sonst nur Shakespeares Dramen oder Puccinis Opern zeitlose Stoffe bieten.

Speziell in den Werken des griechischen Dichters Homer tritt der Mensch in allen Lebenslagen als das zutage, was er ist – im Großen und Erhabenen ebenso wie im Kleinen und Niedrigen, im Triumph wie im Scheitern.

Hat man sich einmal mit dieser vermeintlich so entrückten Welt gründlich auseinandergesetzt, verfügt man über mentales Marschgepäck für’s Leben.

Mit zehn Jahren verschlang ich atemlos die komprimierten Fassungen von Homers Werken in Schwabs Sagen des Klassischen Altertums, etwas später las ich dann die komplette Übertragung ins Deutsche von Heinrich Voß – eine sprachliche Großtat per se.

Die Impulse dafür erhielt ich freilich nicht in der Schule, auf hessischen Gymnasien gab man sich damals eher „progressiv“, sondern im heimischen Bücherschrank. Darauf hingewiesen hat mich indessen niemand, ich habe die Schinken selbst entdeckt.

Das ist lange her, aber nicht zu lange. So kommt mir heute, nach weit über 40 Jahren, die Lektüre von damals wieder in den Sinn, und zwar die der Ilias, welche von der zehnjährigen Belagerung der Stadt Troja durch die Griechen erzählt.

Die Story ist schon im Hinblick auf den banalen Anlass brilliant – den Raub der schönen Helena durch den Trojaner Paris. Sieht man einmal von herbeikonstruierten Kriegen wie dem in Vietnam (und Nachfolgern) ab, sind die Auslöser oft irgendwelche Nichtigkeiten, lokale Grenzstreitigkeiten, Einzelereignisse wie Attentate usw.

Das Kriegführen war für die alten Griechen eine alltägliche Sache, man brauchte nur einen formalen Anlass dazu – wobei man problemlos die Verbündeten und Gegner wechseln konnte – ein zynisches Spiel, das wirtschaftlicher Blüte nicht im Weg stand.

Doch bevor ich ganz vom Kurs abkomme wie einst Odysseus auf seiner Irrfahrt nach dem Sieg über Troja, will ich einen neuzeitlichen Wiedergänger der tragischen Helden ins Visier nehmen, deren Aufstieg und Untergang die alten Griechen treffsicher beschrieben haben.

Einer davon, den viele auch mit klassischer Bildung nicht mehr parat haben, ist auf diesem Foto zu sehen, welches ich kürzlich für den üblichen Fünfer (plus Porto) erworben habe:

Ajax von 1925/26; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese Limousine mit Zulassung in den USA bereitete mir zunächst einige Schwierigkeiten. Ich fand recht ähnliche Wagen einiger amerikanischer Hersteller, die um die Mitte der 1920er Jahre gebaut wurden. Doch keiner wollte 100%ig passen.

Ein heißer Kandidat war der Nash Six von 1925/26, doch die vier Radbolzen an dem Wagen auf meinem Foto sprachen dagegen. Nach einer Weile des Suchens erbarmte sich Fortuna, meine Begleiterin seit vielen Jahren, und ließ mich beim Nash „Light Six“ von 1926 innehalten.

Der wies ebenfalls nur vier Radbolzen auf wie das damals nur US-Billigheimer von Chevrolet & Co. besaßen. Ich ging der Sache nach und fand mich plötzlich im Trojanischen Krieg wieder!

Charles Nash, der Besitzer der gleichnamigen Firma und nebenbei eine Figur, die den American Dream verkörperte wie kaum ein anderer Autobauer, hatte 1924 gerade das Werk der gescheiterten Marke Mitchell erworben und wollte dort ein neues Auto der Preisklasse unter 1000 Dollar bauen, wie es Nash bis dato noch nicht anbot.

Nash hatte große Erwartungen für den neu entwickelten Wagen und meinte, ihm einen Namen geben zu müssen, der „heroisch“ klang. Leider scheint es um seine klassische Bildung bzw. die seiner Berater nicht zum Besten gestanden zu haben.

Die Wahl fiel jedenfalls auf „Ajax“, womit man auf den griechischen Heros anspielte, der im Trojanischen Krieg eine Rolle spielte. Vermutlich hatte man die Ilias nur oberflächlich konsumiert, sonst hätte man diesen Namen gemieden.

Zugegeben: Über 40 Jahre nach der letzten Lektüre wusste ich auch nicht mehr genau, was es mit Ajax bei Homer auf sich hatte, aber ich hatte noch eine Ahnung, dass es eine tragische Figur war – keine Kunst, da dies auf alle Protagonisten zutraf, mit zwei Ausnahmen: dem Griechen Odysseus und dem Trojaner Aeneas.

Vermutlich bekommt man noch das Geschehen um den Griechen Achill, seinen Freund Patroklos und den Trojaner Hektor zusammen, der letzteren tötete. Auch erinnert man sich an den Zorn des Achill (der eigentliche Titel der Ilias), der daraufhin Hektor im Zweikampf besiegte und ihn dreimal mit seinem Streitwagen um die Mauern der Stadt schleifte.

Achill wiederum wurde später seine Ferse zum Verhängnis, sein einziger verwundbarer Körperteil (Siegfried lässt grüßen). Bei der Bergung seines Leichnams spielten Odysseus, Menealos (Helenas Ehemann) und Ajax eine Rolle.

Anschließend entbrannte ein Hahnenkampf unter den Machos um die Frage, wer dabei den größten Anteil hatte. Um es kurz zu machen: Ajax fand sich ungerecht behandelt (wir kennen das: die Ehre und so…) und wurde von den Göttern mit Wahnsinn geschlagen.

Rasend brachte er eine Herde wehrloser Schafe um, die er für seine Gegner hielt. Als er wieder zur Sinnen kam, tötete er sich aus Scham selbst.

So, und jetzt frage ich Sie: Würden Sie einer neuen Automarke mit dem Namen Ajax eine glänzende Zukunft bescheinigen? Vermutlich nicht, wenn Sie sich an die Ilias und nicht nur nur die Fernsehwerbung für einen gleichnamigen Allzweckreiniger erinnern.

Tja, die Götter sind gerecht und bestrafen Hybris mit Vernichtung, so wussten schon die alten Griechen. Die Nash-Tochtermarke Ajax erzielte zwar anno 1925 einen Achtungserfolg in der Presse, aber 25.000 abgesetzte Wagen waren für US-Verhältnisse ein Desaster.

Ja, sie haben richtig gelesen. Allein unter der Marke Nash, die keineswegs zu den ganz Großen gehörte, wurden im Jahr 1925 rund 85.000 Wagen verkauft. Das war damals ein Vielfaches der gesamten deutschen Autoproduktion.

Charles Nash machte – wie einst die Götter im Olymp – kurzen Prozess mit Ajax. Die Marke wurde im Lauf des Jahres 1926 beerdigt. Allerdings lebten – und das ist der wesentliche Unterschied zu dem tragischen griechischen Helden – die Ajax-Wagen als Nash „Light Six“ fort. Dazu wurden sie schlicht mit Nash-Emblemen auf Kühler und Nabenkappen versehen.

Mit seinem kleinen Sechszylinder (40 PS Leistung) überlebte der „Ajax“ von einst im Programm von Nash immerhin bis 1927, Nachfolger wurde der Standard Six (45 PS).

Ich kann nicht ausschließen, dass mein Foto statt eines Ajax von 1925/26 bereits einen auf Nash umgelabeltes Exemplar ab 1926 zeigt – das Kühleremblem ist kaum eindeutig erkennbar.

Doch für die Erinnerung an den griechischen Helden und sein zur Demut mahnendes banales Ende ist die Aufnahme gut genug. Hybris ist ein zeitloses Thema, es halten sich immer wieder Leute für große Helden und können mit Erniedrigung nur schwer umgehen.

Die Strafe dafür mag heute bisweilen länger auf sich warten lassen als im Fall des Ajax…

Michael Schlenger, 2024. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.