PS-Schau in Paris 1905: Ein Renault 20CV

Die frühen Modelle von Renault, die den einstigen Weltruhm der französischen Marke begründeten, sind in meinem Blog bislang noch etwas unterbelichtet.

Nachdem sich eine ganze Reihe Exemplare aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg in meinem Fotofundus eingefunden hat und ich auch eine zumindest annähernde Vorstellung habe, um welche Typen es sich handelt, soll sich das ändern.

Den Auftakt markiert ein Prachtexemplar, das wahrscheinlich im Pariser Stadtpark „Bois de Boulogne“ aufgenommen wurde – anlässlich einer Schau der Pferdestärken, die damals noch ausgesprochen extravaganten Charakter hatte.

Interessanterweise stand dabei nur für den Fotografen das Automobil im Mittelpunkt, während die Passagiere einem anderen edlen Geschöpf zugewandt waren:

Renault 20CV; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

In dieser technisch hervorragenden Aufnahme entfaltet sich die ganze Opulenz einer untergegangenen Welt, die uns längst fremdgeworden ist.

Eine Ausfahrt im offenen Wagen mit Chauffeur, ausstaffiert mit extravagantem Kopfschmuck, eine Begegnung mit einem Militär hoch zu Pferde, Eleganz allerorten – im einst feinen Stadtpark Bois de Boulogne schon lange undenkbar – und nicht nur dort.

Für einen Moment ist das Automobil hier noch „horseless carriage“ – eine Kutsche ohne Pferde. Die gesellschaftliche Funktion ist noch dieselbe: sehen und gesehen werden unter seinesgleichen. Der Fahrer hört diskret weg, während sich die Herrschaften unterhalten und wartet auf Anweisungen:

Gute Figur macht er hier, der junge Fahrer, der vor bald 120 Jahren ein Mensch aus der Zukunft war. Mit der schmucklosen Jacke und dem dezenten Schnauzer hätte er auch in den 1940er Jahren noch eine alternde Diva in ihrem Wagen herumkutschieren können.

Er war einer der gefragten Spezialisten, die überhaupt imstande waren, ein solches neuartiges und komplexes Gefährt zu beherrschen, wozu damals auch aufwendige Wartung und die Kompetenz zu Reparaturen unterwegs gehörte.

Aber was genau war das für ein Wagen, der ihm von vermögenden Besitzern anvertraut worden war, um die Damen sicher wieder nach Hause zu bringen? Nun, die nach drei Seiten abfallende Motorhaube und der dahinterliegende Kühler verraten, dass wir hier einen Renault vor uns haben.

Sicher, es gab auch einige andere Hersteller, die eine solche eigenwillige Frontpartie besaßen, die die Engländer „coal scuttle“ nennen – weil sie an eine umgedrehte Kohlenschaufel erinnert – Komnick aus dem fernen Ostpreussen etwa.

Doch die genaue Gestaltung von Haube und Kühler fand sich so nur bei Renault. Dummerweise besaßen alle Renaults ab 1900 bis zum 1. Weltkrieg eine solche Frontpartie. Wir müssen uns daher zum einen an stärker der Mode unterliegenden Details orientieren, beispielsweise den freistehenden Vorderschutzblechen, die noch keinen Spritzschutz zum Rahmen und zur Haube hin besaßen. Bis etwa 1906 war das bei Renault üblich.

Ab 1907 änderte sich auch das Erscheinungsbild des Kühlers, wenn man der Literatur (Renault – L’Empire de Billancourt, Jacques Borgé/NicolasViasnoff, 1977) trauen kann. So war die Seite des Kühlergehäuses dann geschlossen und verbarg den Blick auf die Kühlkanäle.

Die frühesten Exemplare von Renault, die mit einer solchen Frontpartie und gepresstem Stahlrahmen gebaut wurden, scheinen aus dem Jahr 1904 zu stammen. Damals wurde in dieser Größenklasse der Renault 20CV angeboten, der bis 1906 das Spitzenmodell von Renault blieb.

Mit seinem 4,4 Liter großen Vierzylindermotor bot dieser Wagen großzügige Leistung, auch bei Montage eines schweren Limousinenaufbaus. Hier haben wir natürlich die damals oft noch bevorzugte Tourenwagenausführung, auch als Double-Phaeton bezeichnet, die eine Art der Kommunikation mit der Außenwelt ermöglichte, die heute im Verkehr undenkbar ist:

Man nehme sich Zeit, um hier die Ausführung der Sitze zu studieren, das verspielte Dekor auf den Seitenpaneelen – hier ist die Welt des 19. Jh. noch lebendig. Die Kutschbaukunst war das Maß aller Dinge, was die gesamte Partie hinter dem Fahrerabteil angeht.

Dieses spannende Nebeneinander einer jahrhundertealten Kontinuität und der mechanischen Innovation des Maschinenzeitalters begann nur wenige Jahre später, etwa ab 1910, einem Erscheinungsbild zu weichen, bei dem nun eine Gestaltung aus einem Guss erfolgte, wenngleich traditionelle Aufbauten wie das Landaulet noch bis in 1930er Jahre ein Nischendasein führten.

So ist auf dieser Aufnahme, die wohl um 1905/06 entstand, etwas festgehalten, was nur wenig später schon wieder „von gestern“ sein sollte – sieht man einmal von der Damenmode ab, die bis 1914 nur wenig Veränderung erfuhr.

Es ist das Wunder der Fotografie, das es uns ermöglicht, nach so langer Zeit nochmals einen Blick in diese Welt zu werfen, als seien wir selbst auf der Szene präsent.

Dabei sind alle die Geschöpfe, die diese Aufnahme so wunderbar machen – man beachte beispielsweise das prächtige Profil des geschmückten Pferdes links hinter dem Chauffeur – längst von der Erde verschwunden. Nur der Renault hatte eine gewisse Chance, bis in unsere Tage zu überleben.

Diese Funktion als authentischer Bote einer untergegangenen Welt – das unter anderem macht den Rang solcher frühen und bis unsere Tage erhaltenen Fahrzeuge aus.

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Fund des Monats: „Falke“-Kleinwagen 6/8 PS

Wenn ein braver Kleinwagen mit zugekauftem Motor und ohne jedes Renommee es dennoch zum Fund des Monats bringen kann, muss es sich um eine veritable Rarität handeln. Genau das ist heute der Fall.

Das Foto, das ich heute präsentieren darf, sucht in der mir bekannten Literatur zu frühen deutschen Automobilen seinesgleichen – und zwar vergeblich, denn es gibt dort nur Prospektabbildungen davon, soviel ich weiß.

Bei der Gelegenheit stelle ich außerdem wieder eine „neue“ Marke vor, mit der wohl kaum jemand spontan viel verbindet – „Falke“ aus der gleichnamigen Fahrzeugfabrik in Mönchengladbach.

Erstmals begegnet ist mir der Hersteller auf zwei Originalreklamen, die ich irgendwann meiner Sammlung einverleiben konnte. Die erste zeigt einen beachtlichen Tourenwagen – damals auch als Doppel-Phaeton bezeichnet:

„Falke“-Reklame um 1907; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Der Wagen wurde offenbar mit einem 12-14 PS starken Vierzylindermotor ausgeliefert, wobei wir es hier noch nicht mit der Angabe von Steuer-PS und Motorleistung zu tun haben. Vielmehr bezeichnen die 12 PS die erzielbare Dauerleistung und die 14 PS die kurzzeitig verfügbare Spitzenleistung.

Wenn Sie nun in einem Standardwerk zu deutschen Automobilen der Frühzeit wie Halwart Schraders „Deutsche Autos 1885-1920“ unter Falke nachschauen, werden Sie diesen Typ dort (vermutlich) unter der Bezeichnung 6/12 PS finden.

Er wurde 1907 eingeführt und 1908 wieder eingestellt, da Falke dann die Produktion von Automobilen wieder beendete. In diesem kurzen Zeitraum war der Wagen mit hochwertigen Einbaumotoren von Fafnir bzw. Breuer verfügbar.

Bloß scheint sich die Produktion wirtschaftlich nicht gelohnt zu haben, da half auch der moderne Kardanantrieb nicht viel. Wieviele dieser Wagen überhaupt entstanden, ist unbekannt. Ungewiss ist auch, welche der beworbenen Karosserien gebaut wurden.

So zeigt eine zweite Reklame denselben Falke-Typ mit einem Landaulet-Aufbau, der in der äußerst dürftigen Literatur bislang nicht vertreten ist:

„Falke“-Reklame um 1907; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Man beachte den Preisaufschlag, der für das Landaulet (9.000 Mark) gegenüber dem Tourer (7.500 Mark) zu berappen war.

Auch diese Preisangaben fehlen in der Standard-Literatur. Das macht die beiden Reklamen bereits zu sehr interessanten Quellen, aber die eigentliche Überraschung kommt noch.

Lange fehlte mir der Anlass, die beiden obigen Zeitungsreklamen der 1889 von Albert Falke gegründeten Firma zu präsentieren. Wie so viele deutsche Hersteller kurz vor der Jahrhundertwende baute Falke anfänglich nur Lizenznachbauten oder Kopien moderner französischer Wagen von Marken wie Darracq, Decauville oder DeDion-Bouton.

Eine nähere Beschäftigung verdienen die einheimischen Hersteller aus meiner Sicht erst wieder, als sie zu eigenständigen Konstruktionen in der Lage waren.

Bei Falke war dies bereits 1899/1900 der Fall, als man den Typ B vorstellte, der den Motor vorne hatte und dessen Hinterachse bereits kardangetrieben war. Interessanterweise kehrte man später teilweise wieder zum Kettenantrieb zurück, und zwar bei diesem Fahrzeug:

Falke Kleinwagen 6/8 PS; Originalfoto aus Sammlung Uwe Harnack (Uelzen)

Dieses Foto sandte mir Uwe Harnack aus Uelzen zur Bestimmung zu. Nach seinen Angaben handelte es sich um den Wagen eines Dr. Wedemeyer, der eines der ersten Automobile in der niedersächsischen Stadt besaß.

Der Wagen gab mir anfänglich Rätsel auf, weshalb ich auf eine Methode verfiel, die mir schon des öfteren bei der Identifikation solcher unbekannten Fahrzeuge geholfen hat: Ich blätterte einfach alle Marken im altehrwürdigen „von Fersen“ durch („Autos in Deutschland 1885-1920“, Hans-Heinrich von Fersen, Motorbuch-Verlag Stuttgart, 1965).

Zwar basiert der fast gleichnamige Klassiker von Halwart Schrader darauf, aber in vielen Fällen ist die Darstellung von Nischenmarken bei von Fersen ausführlicher und auch die Bebilderung ist mitunter reichhaltiger.

Fündig wurde ich tatsächlich im Kapitel zu Falke, das bei von Fersen erstaunlich umfangreich ist – er muss noch auf Quellen Zugriff gehabt haben, die Schrader nicht mehr zugänglich waren, vielleicht haben ihn aber manche Marken auch nicht so interessiert.

Jedenfalls fand sich im „von Fersen“ die folgende Zeichnung, die mit sehr großer Wahrscheinlichkeit genau den Wagen zeigt, in dem einst Dr. Wedemeyer mit Fahrer in Uelzen unterwegs war:

Falke Kleinwagen 6/8 PS; Abbildung aus: „Autos in Deutschland 1885-1920“, von Hans-Heinrich v. Fersen, Motorbuch-Verlag Stuttgart, 1965

Hier stimmen nicht nur Größe und Proportionen vollkommen überein, sondern auch Details wie der Griff auf der Oberseite der Motorhaube, die Ausführung der Motorstirnwand und die Position des Kettenantriebs.

Auf dieser Zeichnung nicht zu sehen sind die ungewöhnlich weit auseinanderliegenden Luftschlitze in der Motorhaube, aber die findet man dafür bei den Falke-Wagen auf den beiden eingangs gezeigten Reklamen.

Man soll sich seiner Sache in solchen Fällen nie zu sicher sein – die Euphorie angesichts eines solchen Funds kann das Urteilsvermögen trüben – doch sehe ich hier wenig Anlass, an der Identifikation des Wagens auf dem Foto aus der Sammlung von Uwe Harnack als „Falke Kleinwagen 6/8 PS“ von ca. 1906 zu zweifeln.

Wie immer bin ich dankbar für Anmerkungen oder Korrekturen seitens sachkundiger Leser – natürlich auch für ergänzendes Bildmaterial, das ich in meine Markengalerien aufnehmen kann.

Zwar ist „Falke“ bislang noch nicht über den „Exoten“-Status hinausgekommen, doch auch andere deutsche Hersteller der zweiten und dritten Reihe fristeten dort anfänglich ihr Dasein, bis ich genügend Material für eigene Markengalerien zusammenhatte…

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Eine Karriere in Deutschland: Locomobile 1902-28

Heute habe ich das Vergnügen, die Historie einer US-Marke von den bescheidenen Anfängen bis zum beeindruckenden Schlussakkord nachzeichnen können – und das ausschließlich anhand von Dokumenten aus Deutschland.

Nebenbei erweitere ich dabei meine Marken-Schlagwolke um einen neuen Namen: Locomobile. Wegen der Ähnlichkeit zu „Lokomotive“ mutet die Bezeichnung vertraut an, doch etwas Greifbares verbinden wohl die wenigsten hierzulande damit.

Greifbar ist indessen eine Reklame aus meiner Sammlung, die uns fast an den Ursprung der Marke transportiert, die 1899 in Watertown im US-Bundesstaat Massachusetts entstand.

Dort hatten kurz zuvor die Gebrüder Stanley ein Dampfautomobil entwickelt, das rasch auf Investoreninteresse stieß. Eigentlich wollten die „Stanley Twins“ ihr Geschäft gar nicht verkaufen und riefen zur Abschreckung einen extrem hohen Preis auf.

Dummerweise wurde dieser von John B. Walker – dem Herausgeber des „Cosmopolitan Magazine“- akzeptiert. Auch das nächste Hindernis – Zahlung binnen 10 Tagen – nahm Walker gemeinsam mit einem vermögenden Kompagnon spielend.

So kam es, dass die in Bau befindlichen Stanley-Dampfwagen kurzerhand unter einer neuen Marke – Locomobile – auf den Markt kamen. Schon 1901 zog die Fertigung in eine größere Fabrik nach Bridgeport in Connecticut um .

Dort muss um 1902 der Dampfwagen entstanden sein, der hier beworben wird:

Locomobile-Reklame von ca. 1902; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Natürlich trägt der Deutschland-Importeur – die Firma Hamburger Achenbach – hier reichlich dick auf. Zumindest ein Attribut lässt sich jedoch uneingeschränkt bestätigen: Ein Dampfwagen nach Stanley-Patent läuft tatsächlich nahezu geräuschlos.

Zusammen mit den damals sehr verbreiteten Elektroautos konnten Dampfwagen noch eine Weile gegen die aufkommende Benzinkutschen konkurrieren, deren Betrieb mit einigen Erschwernissen verbunden war.

Doch die 13 (!) im Jahr 1902 von Locomobile angebotenen Dampfwagenmodelle, die angeblich auch in Deutschland lieferbar sein sollten, waren schon 1905 Geschichte. Ab dann beschränkte sich die Marke auf Autos mit dem zunehmend ausgereiften, leistungsfähigeren und reichweitenstärkeren Verbrennungsmotor.

Schon 1911 erschien der erste Sechszylinderwagen von Locomobile mit der damals noch gängigen T-Anordnung der Ventile. Dabei befanden sich Ein- und Auslassventile gegenüber statt nebeneinander wie bei konventionellen Seitenventilen.

Damit vermied man eine ungewollte Entzündung des Gemischs durch die Hitzeabstrahlung des Auslasstrakts, die bei den damaligen Kraftstoffen für Probleme sorgte. Die T-Anordnung erforderte freilich zwei Nockenwellen statt nur eine zur Ventilsteuerung.

Zwar war die Leistungsausbeute bauartbedingt geringer, doch die höhere Zuverlässigkeit glich dies und die höheren Kosten aus. Eine Reihe von Sporterfolgen der Marke Locomobile zwischen 1905 und 1910 unterstrich die Qualitäten des Konzepts.

Einen Locomobile-Sechszylinderwagen dieser Bauart noch aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg konnte ich 2015 anlässlich einer Ausfahrt von Vorkriegswagen am Niederrhein aus der Nähe erleben. Leider habe ich damals nur Detailaufnahmen gemacht.

Hier haben wir zunächst die eine Haubenseite mit den sechs Auspuffrohren:

Locomobile Model 48 von ca. 1912-17; Bildrechte: Michael Schlenger

Die außenliegende Auspuffanlage entspricht kaum dem Serienzustand, folgt aber dem Vorbild zeitgenössischer Sportmodelle und vermittelt einen Eindruck von den Dimensionen dieses Hubraumriesen.

Sehr gut gefiel mir damals der gut gebrauchte Zustand dieses Locomobile, der intensivem Fahreinsatz und weitgehendem Verzicht auf große Putzerei zu verdanken ist.

Locomobile Model 48 von ca. 1912-17; Bildrechte: Michael Schlenger

Dieser Ausschnitt zeigt nun die andere Motorenseite, auf der sich der Einlasstrakt befindet, welcher nicht nur durch die den Motorraum durchziehende Luft gekühlt wurde, sondern zusätzlich durch Wasserkanäle, die im Bereich der Einlassventile angebracht waren.

Hier erkennt man übrigens am rechten Rand den Ansatz zum Windlauf – der gewölbten Blechpartie, die für einen strömungsgünstigen Übergang von der Motorhaube zur Windschutzscheibe und dem übrigen Wagenaufbau sorgte.

Dieses Detail taucht bei Locomobile-Wagen erstmals 1911 auf und hält sich in dieser Form etwa bis Ende des 1. Weltkriegs. Natürlich gibt es auch eine Aufnahme der Kühlerpartie dieses eindrucksvollen Fahrzeugs:

Locomobile Model 48 von ca. 1912-17; Bildrechte: Michael Schlenger

Nur selten kann man so gleichmäßig patinierte Messingteile an einem frühen Automobil besichtigen.

Oft werden diese auf Hochglanz gewienert, was bei Neuzustand auch formidabel aussieht, doch nach intensivem Gebrauch spart man sich die Prozedur besser und der Wagen reift allmählich wie der Firnis eine alten Gemäldes

Gewiss ist das Geschmackssache (meine eigenen Fahrzeuge decken die gesamte Spanne ab), doch auf mich haben die Spuren bestimmungsgemäßen Gebrauchs einen großen Reiz:

Locomobile Model 48 von ca. 1912-17; Bildrechte: Michael Schlenger

Nach diesem farbenfrohen Ausflug geht es nun weiter in die 1920er Jahre und zurück zur vertrauten Schwarz-Weiß-Ästhetik. Doch zuvor will ich noch die wichtigsten Entwicklungen jener Zeit bei Locomobile Revue passieren lassen.

Die Marke blieb nach dem 1. Weltkrieg ihrem Image treu und baute weiterhin luxuriöse und ziemlich teure Wagen mit nicht mehr ganz taufrischer, aber unbedingt zuverlässiger Technik.

1922 wurde die Firma von William C. Durant übernommen. Der Gründer von General Motors hatte den Verbund schon 1910 verlassen müssen, kehrte aber von 1916-20 an die Konzernspitze zurück. Im anschließend neu geschaffenen Konglomerat von Durant war Locomobile das Kronjuwel.

Doch sollte es unter Durant kein gutes Ende mit der Marke nehmen. Ab Mitte der 1920er Jahre wurden dem altehrwürdigen, mittlerweile auf über 100 PS erstarkten Sechsyzlindertyp 48 moderne Achtzylinder zur Seite gestellt, die wesentlich günstiger waren.

Dem Image von Locomobile war dies nicht zuträglich, insbesondere nicht die Verwendung eines zugekauften 90-PS-Lycoming-Achtzylinders im Modell 8-80. Dennoch verkauften sich Locomobile-Wagen noch ein Jahr vor dem Ende der Marke auch in Deutschland:

Locomobile von 1928; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wenn man es weiß, ist es natürlich leicht, auf dieser verwackelten Aufnahme, die für einen symbolischen Preis bei eBay zu haben war, einen Locomobil-Wagen zu erkennen.

Aber wenn man das Foto eines solchen Autos am deutschen Markt erwirbt, der (wahrscheinlich) ein deutsches Kennzeichen trägt, ist Locomobile nicht gerade der erste Gedanke, zumal der Aufbau von einem heimischen Karosseriebauer stammen dürfte.

Doch lässt sich dieser Wagen als einer der letzten Vertreter der Marke Locomobile von 1928 ansprechen – bloß die Motorisierung muss offen bleiben. Neben dem klassischen Sechszylindermodell 48 mit über 100 PS kommen ein weiterer Sechszylindertyp mit gut 85 PS sowie zwei Achtyzlindermodelle mit 70 bzw. 90 PS in Betracht.

Damit konkurrierte Locombile am deutschen Markt mit Luxusmarken wie Horch, die als einzige hierzulande imstande war, in dieser Leistungsklasse größere Stückzahlen herzustellen. Doch geholfen hat es Locomobile nicht – 1929 war die Marke Geschichte.

Damit ging eine Karriere am deutschen Markt zuende, die sich mindestens bis in das Jahr 1902 zurückverfolgen ließ. Sollte jemand über weitere zeitgenössische Originalaufnahmen von Locomobile-Wagen in Europa verfügen, stelle ich diese gern ebenfalls vor.

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Kompetenz kompakt verpackt: Stoewer Typ G4

Mit dem Abstand von bald 120 Jahren ist es faszinierend zu sehen, in welchem Tempo sich kurz nach der Jahrhundertwende der Wandel des Automobils von einem noch skeptisch beäugten Spielzeug vermögender Sportsleute zu einem alltagstauglichen Fahrzeug vollzog.

Dies geschah wie bei praktisch allen Innovationen, die unseren heutigen Lebenstandard ausmachen, allein aus der Motivation mutiger Erfinder-Unternehmer – ganz ohne staatliche Planvorgaben, Fördergelder und sonstige Interventionen einer damals noch auf’s Nötigste beschränkten Bürokratie.

Ein anschauliches Beispiel dafür ist die rasante Entwicklung der Automobilproduktion der Gebrüder Stoewer aus Stettin. Auf das erste noch nach Vorbild französischer Voiturette-Wagen gebaute 1-Zylinder-Auto von 1899 folgte bereits 1903 ein selbstkonstruierter Vierzylinder und 1906 ein Sechszylinder, der zu den ersten in Deutschland gehörte.

Binnen weniger Jahre hatte sich Stoewer einen Namen als Hersteller moderner Qualitätswagen gemacht, die selbst im kaiserlichen Fuhrpark vertreten waren. Doch die Stückzahlen waren noch verschwindend gering.

Die Gebrüder Stoewer hatten unterdessen erkannt, dass es einen Markt für kompakte Automobile gab, die von der Qualität her den großen und extrem teuren Modellen entsprechen mussten, um Anklang bei Käufern zu finden:

Stoewer-Reklame für den Typ G4 6/12 PS; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Mit dem 1908 eingeführten Kleinwagentyp G4 gelang Stoewer der Durchbruch – hier vorweggenommen in einer Reklame zum Jahreswechsel.

Das Auto ist sehr stilisiert wiedergegeben, doch die Bezeichnung 6/12 PS bezieht sich eindeutig auf das noch 1907 entwickelte kompakte G-Modell mit 1,6 Litern Hubraum. Die fesche Dame am Steuer illustriert, dass dies ein Auto für Selbstfahrer sein sollte.

Anfänglich waren das zwar nur selten Frauen, aber auch das sollte sich ganz allmählich ändern – die Gebrüder Stoewer hatten auch diesbezüglich ein gutes Gespür für den Markt.

Fünf Jahre später wird ein Exemplar des Stoewer Typ G4 in der „Deutschen Jagdzeitschrift“ (Ausgabe März 1913) als unverwüstlicher „Jagdwagen“ gefeiert:

Stoewer-Reklame von März 1913 in der Deutschen Jagdzeitung; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Das Konzept, die Qualität der großen Stoewer-Wagen auf dieses Kompaktmodell zu übertragen, hatte sich offensichtlich bewährt. Auf den 1908 eingeführten Typ G war auch in unwegsamem Gelände unbedingter Verlass.

Dabei war der Stoewer G-Typ mit zuletzt 16 PS zum Zeitpunkt der Werbeanzeige bereits außer Produktion und mit der zerklüfteten Frontpartie auch optisch veraltet. Längst war eine windschnittige Gestaltung des Übergangs von der Motorhaube zur Frontscheibe Standard.

Sehr schön nachvollziehen lässt sich dieser Entwicklungssprung an diesem Stoewer:

Stoewer Typ G4 von Anfang 1910 (oder früheres Baujahr mit aktualisierter Karosserie; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier kann man förmlich den Fahrtwind über die Frontpartie und die Insassen hinweg ziehen sehen – dank der schräg nach oben weisenden Blechpartie zwischen der Motorhaube und der hier schräggstellten Windschutzscheibe.

Diese Gestaltung – sog. Torpedo – taucht bei Sportwagen erstmals 1907/08 auf und setzt sich ab 1910 rasch auch bei Serienwagen im deutschsprachigen Raum durch.

Daher würde man diesen Wagen auf den ersten Blick auf 1910-12 datieren, denn danach beginnt die Frontpartie in einem stetigen Winkel anzusteigen oder ganz gerade zu verlaufen. Doch an diesem Wagen weist etwas auf eine frühere Entstehung hin:

Den Kühler mit erhabenem „Stoewer“ Schriftzug findet man auf historischen Abbildungen eigentlich nur an Fahrzeugen vor 1910. Dazu passt jedoch die erwähnte windschnittige Karosseriegestaltung nicht.

Verweilen wir für einen Moment noch an der Vorderpartie: Kühler, Kotflügel, Radnaben und Rahmenausleger finden sich in allen Details exakt beim 1908 eingeführten Stoewer Typ G4 wieder. Dort ist auch der Zwischenraum zwischen Rahmen und Trittbrett noch unverkleidet.

Damit kann man den 1911 eingeführten Nachfolgetyp B1 ausschließen, der zwar dieselbe strömungsgünstige Haubenpartie aufweist, aber schon das ovale Stoewer-Emblem auf dem Kühler trägt, eine Schwellerverkleidung besitzt und merklich länger ist.

Auch die Details der Rahmengestaltung und der kurze Radstand des Stoewer auf unserem Foto entsprechen noch völlig den Verhältnissen beim Typ G4 von 1908-10:

Wie ist nun das Nebeneinander der Elemente des alten Typs G4 von 1908-10 und der modernen Karosserie der Nachfolgetypen zu erklären?

Nun, entweder verbaute Stoewer Anfang 1910 beim Typ G4 noch kurze Zeit die alten Kühler mit dem Stoewer-Schriftzug, montierte aber trotz des nahenden Produktionsendes bereits eine modernisierte „Torpedo“-Karosserie.

Oder jemand ließ seinen alten Stoewer Typ G4 nachträglich karosserieseitig an die neue Stromlinienmode anpassen, was damals keineswegs unüblich war.

Wie es sich tatsächlich verhielt, das können uns die Insassen dieses Wagens leider nicht mehr sagen:

Sie sind längst wie der Stoewer, in dem sie sich einst an einem wohl kühlenTag haben ablichten lassen, den Weg alles Irdischen gegangen.

Doch – und das ist das Wunderbare an der Beschäftigung mit historischen Automobilen – etwas aus ihrer Welt und vielleicht sogar genau von ihrem Auto ist erhalten geblieben. Dabei handelt es sich um den Kühler eines solchen Wagens, der die Zeiten überdauert hat.

Ich habe das Relikt an dem Tag, an dem das Stoewer-Museum von Manfried Bauer in Waldmichelbach (Odenwald) im Juli 2019 seine Pforten schloss, an einen Heizkörper gelehnt entdeckt und fotografiert, ohne zu wissen, dass er mir wiederbegegnen würde:

Stoewer-Kühler eines Typs G4; Bildrechte Michael Schlenger

Das Foto ist leider etwas unscharf, doch dafür gelang es mir, die Herstellerplakette des Kühlers einigermaßen lesbar abzulichten.

Sie verrät, dass Stoewer in Stettin seinerzeit den Kühler von einem Spezialisten in Ulm zuliefern ließ – den Neuen Industrie-Werken (NIW). Ad hoc konnte ich nichts zu diesem Hersteller in Erfahrung bringen, vielleicht weiß ein Leser mehr.

Mittlerweile ist dieser Kühler Bestandteil der Stoewer-Ausstellung im Museum für Technik und Kommunikation im heute polnischen Stettin.

Dorthin ist die Sammlung von Manfried Bauer inzwischen übertragen worden. Hierzulande war niemand mehr gewillt, ein überzeugendes museales Konzept zu dieser einst hochbedeutenden deutschen Marke auf die Beine zu stellen…

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Kam sogar bis Japan: NAW „Colibri“- Vierzylinder

Auch wenn der Fund des Monats Januar noch ein paar Tage warten muss, komme ich ihm mit dem heute präsentierten Wagen schon ziemlich nahe.

Gewiss, die Autos der einstigen Norddeutschen Automobilwerke (NAW) aus Hameln gelten unter Kennern nicht unbedingt als Exoten – speziell der ab 1913 gebaute Typ „Sperber“ war einst recht verbreitet und in meiner NAW-Galerie finden sich mehr als ein Dutzend Dokumente dieses Typs.

Markenenthusiasten sind natürlich auch mit NAWs Erstling vertraut – dem 1908 eingeführten Zweizylindermodell „Colibri“. Ein Originalfoto davon habe ich (hier) bereits ausführlich vorgestellt. Angeblich verkaufte er sich einst auch im Ausland gut.

Ein veritabler Exot ist aber der „Colibri“, der Sammlerkollege Klaas Dierks auf seinen Streifzügen durch die automobile Botanik der Vorkriegszeit ins Netz gegangen ist:

NAW „Colibri“ Typ 6/15 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Dies die erste mir bekannte historische Aufnahme, welche die ab 1910/11 (die Angaben variieren) gebaute Ausführung Colibri 6/15 PS mit 1,6 Liter-Vierzylindermotor zeigt.

Dass sich die genaue Typbezeichnung bei einem Modell wie diesem herleiten lässt, obwohl es in der Literatur und im Netz nur spärlich dokumentiert ist, hat viel mit Glück zu tun.

Werfen wir zunächst – ganz entgegen sonstiger Übung – einen Blick auf die Seitenpartie:

Glücklich schätzen können wir uns schon einmal deshalb, weil die Modellbezeichnung „Colibri“ hier gut sichtbar an der Flanke prangt. Diese außergewöhnliche Praxis findet sich beim Nachfolgetyp „Sperber“ ebenfalls (wenn auch nicht durchweg).

Recht eigenwillig ist zudem die nach innen gewölbte Ausführung der (wohl in Blech ausgeführten) Schwellerpartie zwischen Rahmen und Trittbrett. Hinter der dort annähernd mittig angebrachten Klappe befand sich vermutlich Werkzeug zur Behebung der damals noch häufigen Reifenschäden.

Charmant ist hier die „Befestigung“ des Reservereifens: dieser ruht einfach in der Vertiefung zwischen Trittbrett und Schwellerblech und ist mit einem Lederriemen lose angebunden. Das sieht schwer nach einer nachträglichen Improvisation aus.

Werfen wir nun einen Blick auf die Frontpartie, die in wünschenswerter Genauigkeit wiedergegeben ist:

Leider nur auf dem Originalabzug ist der Schriftzug „COLIBRI“ auf dem Oberteil des Kühlers zu erkennen. Ohne das Typenschild an der Flanke wäre das ein schwerer Fall, denn die Kühlerform weist keinerlei Eigenheiten auf.

Dennoch lassen sich auch hier Details festhalten, die letztlich die Ansprache als NAW „Colibri“ in der Vierzylinderausführung 6/18 PS bestätigen.

Da wäre zum einen das Seitenteil der Motorhaube, das im Unterschied zum Zweizylinder-Colibri ganz ohne Luftschlitze auskommt. Offenbar wurde hier die heiße Abluft nach unten weggeleitet, um ein glattflächigeres Erscheinungsbild zu ermöglichen.

Markant sind zum anderen die Blech“schürzen“ am vorderen Ende der Kotflügel, die verhindern sollten, dass Straßenschmutz auf die Oberseite der Bleche gelangt – ein schönes Beispiel dafür, dass auch rein funktionelle Details dem Auge schmeicheln können.

Ähnlich laufen übrigens auch die hinteren Kotflügel aus – in der Kombination war das nach meinem Eindruck eher selten.

Durch einen glücklichen Zufall findet sich nun in der Literatur (H. Schrader, Deutsche Autos 1885-1920, S. 269) eine Prospektabbildung von 1911 (aus Sammlung Reinhard Burkart), die einen NAW Colibri Vierzylinder mit genau diesen Details und aus fast identischer Perspektive zeigt.

Zwar fehlen dort Reservereifen, Hupe, Windschutzscheibe und Beleuchtung – doch so wurde der NAW offenbar in der Basisausführung ab Werk geliefert.

Das Glück bleibt uns über diesen Zufall hinaus treu. Auch wenn dieses NAW-Modell ansonsten beinahe unauffindbar ist – eine überzeugende Darstellung der Typenhistorie im Netz ist mir nicht bekannt – wird man bei einem Enthusiasten aus Frankreich (!) fündig.

So finden sich auf der Website von Jacques Leretrait folgende Aufnahme eines NAW Colibri, die einst in Japan entstand:

NAW Colibri Sport-Zweisitzer; Bildquelle: Jacques Leretrait

Selbst wenn man annimmt, dass die beiden jungen Damen in traditioneller Tracht eher kleingewachsen waren, wirkt dieser NAW Colibri recht groß. Zudem besitzt er einen Aufbau als Sport-Zweisitzer mit minimalistischen Kotflügeln, den man kaum beim gerade einmal 8 PS leistenden Colibri-Zweizylinder erwarten würde.

So oder so ist das ein außergewöhnliches Dokument, zeigt es doch, dass zumindest ein NAW Colibri 6/15 PS einst den weiten Weg aus Hameln in den Fernen Osten geschafft hat, wo es damals noch keine eigenständige Autoindustrie gab.

Auch in der Gegenwart hat jemand hier einen überlebenden NAW Colibri 6/15 PS sehr wirkungsvoll in Szene gesetzt – diesmal nicht in Japan, sondern daheim „im Kurpark“.

Wie immer freue ich mich über Anmerkungen, Korrekturen und Ergänzungen durch Markenkenner, damit meine Dokumentation von NAW vielleicht irgendwann dieser reizvollen Marke besser gerecht wird.

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Gab’s auch als Sportzweisitzer: Hansa Typ D 10/30 PS

Auch nach über 100 Jahren findet man bei der Beschäftigung mit frühen Automobilen immer noch „Neues“ – und das keineswegs nur bei Nischenmarken.

Heute darf ich so etwas anhand eines Wagentyps präsentieren, dem man in der einschlägigen Literatur – mehr noch in meinem Blog – recht häufig begegnet. Die Rede ist vom 1911 eingeführten Typ D 10/30 PS der norddeutschen Marke Hansa.

Der im friesischen Varel beheimatete, 1905 gegründete Hersteller hatte bis dato nur Modelle mit 16 bzw. 20 PS im Programm. Mit dem Typ D schlug Hansa ein neues Kapitel auf.

Mit dem 10/30 PS-Typ stieß Hansa in die Mittelklasse vor und bot dabei technisch Besonderes: Wie der kleine Sporttyp B 7/20 PS hatte sein Motor im Zylinderkopf hängende Ventile, was bessere Kraftstoffausnutzung und mehr Drehfreude verhieß.

Damit ließen sich nun merklich größere und schwerere Modelle antreiben und man sieht dem Typ D an, dass es sich um ein durchaus repräsentatives Automobil handelte. Hier haben wir ein Exemplar im Einsatz als Offizierswagen im 1. Weltkrieg:

Hansa Typ D 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sind alle charakteristischen Elemente versammelt: der „Schnabelkühler„, der analog zu Horch ab 1913/14 verbaut wurde, die markentypischen Griffmulden in de Oberseite der Motorhaube und die sechs schmalen, nach hinten versetzten Luftschlitze.

In dieser Erscheinungsform findet sich der Hansa Typ D 10/30 auf etlichen Fotos jener Zeit, hauptsächlich im Einsatz beim Militär, als erstmal in großem Stil Autos fotografiert wurden.

Auch wenn Automobile nicht unmittelbar an der Front eingesetzt wurden – es sei denn zu Aufklärungszwecken – war auch das Dasein ihrer Insassen vom Risiko überschattet, dass sie bald den Angehörigen als „für’s Vaterland gefallen“ gemeldet wurden.

Jede Fahrt konnte die letzte sein, da wollte man noch einmal Familie und Freunden so gegenübertreten, wie man in Erinnerung zu bleiben wünschte: hier als stolzer Fahrer eines Automobils!

Hansa Typ D 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Wir können den Status eines Fahrers vor über 100 Jahren heute kaum ermessen. Er meisterte eine Maschine, die den noch im Kutschenzeitalter großgewordenen Zeitgenossen wie ein Wunder vorkam – an Magie nur übertroffen vom noch jüngeren Flugzeug.

Die damaligen Chauffeure waren sich ihres außergewöhnlichen Status bewusst und treten auf Fotos wie diesem entsprechend selbstbewusst und würdig auf. Hier begegnen sie uns auf der Höhe des Lebens, das zugleich vom alltäglichen Tod bedroht war.

Nun hatte der Fahrer auf dem hier gezeigten Foto, das uns Leser Klaas Dierks zur Verfügung gestellt hat, noch einen weiteren Grund, stolz zu sein. So fuhr er keinen Tourenwagen wie andere Kameraden von der Kraftfahrtruppe, sondern offenbar einen raren Sport-Zweisitzer auf Basis des Hansa Typ D 10/30 PS.

Ein vergleichbares Foto werden Sie, liebe Leser, andernorts schwerlich finden (und falls doch, her damit!). Mir ist aus der Literatur nichts dergleichen bekannt, auch wenn sich ein ähnlicher Stil bei einem früheren Hansa des Typs A von 1912 findet:

Hansa Typ A 6/16 PS von 1912; Reproduktion der Nachkriegszeit aus Sammlung Michael Schlenger

Gerade einmal zwei Jahre liegen zwischen diesen beiden Sport-Zweisitzern und doch wirken sie wie aus zwei verschiedenen Welten.

Der Hauptunterschied liegt in der Kühler- und Haubenpartie und in dem technischen Entwicklungssprung vom 16 PS-Seitenventiler zum fast doppelt so starken ohv-Aggregat.

Waren Automobile in Deutschland vor dem 1. Weltkrieg meist Spielzeuge sehr Vermögender, bewiesen sie nach Kriegsausbruch erstmals ihr Leistungsvermögen unter denkbar ungünstigen Umständen.

Danach sollte (fast) nichts mehr so sein wie zuvor. Doch ein Hauch der malerischen alten Welt, die 1918 unwiederbringlich verloren war und einem radikal funktionellen Zeitgeist wich, ist auf dieser Aufnahme des Hansa Typ D 10/30 PS aus Kriegszeiten zu spüren:

Hier hat sich ein feiner Geist hinter der Kamera eine wunderbar verwunschene Szenerie als Hintergrund ausgesucht, deren romantischer Frieden der an der Front tobenden Furie des Kriegs kaum ferner sein könnte.

Die uralte Treppe hätte sich ein Maler kaum besser ausdenken können, man könnte glatt in ein Bild von Carl Spitzweg geraten sein, wäre da nicht die Haubenpartie des Hansa, die vollkommen derjeinigen des weiter oben gezeigten Tourenwagens entspricht.

Das Foto war vielleicht ein letzter Gruß aus der Welt von gestern. Was nach dieser Aufnahme aus Auto und Fahrer wurde, wissen wir nicht. Geblieben ist uns Nachgeborenen ein Idyll, das uns daran erinnert, wie fragil die Verhältnisse der Gegenwart sind und dass unsere Welt in 100 Jahren ebenso verloren sein wird.

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Ungleiche Brüder: Zwei MAF-Wagen von 1909/10

Eine ganze Weile ist es her, dass ich mich mit den markanten luftgekühlten MAF-Wagen aus dem beschaulichen Städtchen Markranstädt bei Leipzig beschäftigt habe.

Daher will ich dieser eigenwilligen Marke, die zwischen 1908 und 1920 recht erfolgreich war, heute mit gleich zwei Fotos Reverenz erweisen.

Das erste stammt aus meiner eigenen Sammlung:

MAF von 1908/09; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Zweisitzer – der einst in der kalten Jahreszeit an einem unbekannten Ort aufgenommen wurde – wirkt zwar interessant, aber der Aufnahmewinkel scheint nicht gerade der günstigste zu sein, was die Chancen auf Identifikation des Typs betrifft.

Doch genügt ein Blick auf die nach vorn hin kleiner werdenden, weit auseinanderliegenden, breiten Luftschlitze, um das Auto als frühen MAF ansprechen zu können.

Mir ist kein anderes Fahrzeug aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg bekannt, das dieses Detail aufweist. Was macht mich so sicher, dass dies ein MAF sein muss? Nun, gewiss nicht die Dokumentation dieser Marke in der (weitgehend) überholten, unvollständigen und fehlerhaften Standardliteratur zu deutschen Autos der Zeit bis 1920.

Das Kapitel zu MAF in Halwart Schraders Werk „Deutsche Autos 1885-1920“ strotzt vor Unstimmigkeiten – sowohl bei der Typbeschreibung als auch beim Bildmaterial. Doch im Netz findet man etliche Abbildungen noch existierender Autos und verstreute Informationen, die ein etwas klareres Bild zeichnen, zum Beispiel hier.

Ich gehöre normalerweise der skeptischen Fraktion an, was die Identifikation früher Automobile anhand solcher Aufnahmen angeht, doch im vorliegenden Fall besteht aus meiner Sicht kein Zweifel – das muss ein MAF von 1908/09 sein.

Für die Datierung vor 1910 spricht das Fehlen des damals bei deutschen Autos allgemein auftauchenden Windlaufs (auch Windkappe oder Torpedo) – eines strömungsgünstigen Übergangs zwischen Motorhaube und Frontscheibe.

Früher als 1908/09 kann der Wagen nicht entstanden sein, da Firmengründer Hugo Ruppe erst Ende 1907 aus dem väterlichen Betrieb A. Ruppe & Sohn in Apolda ausschied, um fortan selbst Automobile zu bauen.

Der Beweis, dass es sich um einen MAF handeln muss, lässt sich – so ungewöhnlich dies erscheint – anhand der Rahmenpartie führen:

Man präge sich hier die Details am Rahmen in dem vom Ersatzrad gebildeten Ausschnitt ein:

  • den mit vier Nieten befestigten Trittbretthalter (ein weiterer befindet sich vorne),
  • das direkt darüber liegende L-förmige Blech, an dem die Karosserie angeschraubt ist,
  • die runde Stange und der Seilzug, die links vom Ersatzrad schräg nach hinten verlaufen.

Auch der Verlauf der unteren Rahmenkante ist markant. Allen vorgenannten Details begegnen wir sogleich in wünschenswerter Klarheit wieder. Ermöglicht hat dies Leser und Sammlerkollege Steffen Rothe aus Berlin mit einer hervorragenden Aufnahme.

Davon betrachten wir zunächst folgenden Ausschnitt:

MAF Zweisitzer von 1910; Ausschnitt aus Originalfoto aus Sammlung Steffen Rothe (Berlin)

Wer aufgepasst hat, findet hier alle erwähnten Details in atemberaubender Genauigkeit wiedergegeben – auf einem winzigen Ausschnitt eines 110 Jahre alten Fotos.

Zugegeben, dieser Ansatz zur Identifikation des Wagens auf der ersten Aufnahme ist außergewöhnlich, und die Gelegenheit dazu dürfte sich nur selten ergeben. Doch hier besteht kein Zweifel – die technischen Gegebenheiten stimmen vollkommen überein.

Wie aber sieht der Wagen auf dem Foto von Steffen Rothe ansonsten aus? War nicht im Titel von ungleichen Brüdern die Rede? In der Tat haben wir es mit einem Brüderpaar zu tun, das etwas auseinanderliegt, also keinen Zwillingen.

Dabei liegt der Hauptunterschied in einem einzigen Bauteil – dem oben erwähnten Windlauf, der 1910 auch bei MAF-Wagen Einzug hielt:

MAF Zweisitzer von 1910; Originalfoto aus Sammlung Steffen Rothe (Berlin)

Überzeugt? Hier sieht man dieselbe Haubenpartie mit den sechs breiten, nach vorne niedriger werdenden Luftschlitzen und den über die Haubenlinie ragenden Kühleraufsatz.

Vor allem aber erkennt man den für frühe MAF-Wagen typischen Rundkühler – der eine Attrappe war, denn die hier verbauten Vierzylinder-Motoren waren luftgekühlt!

Wer immer noch Zweifel hegt, dem kann geholfen werden. Die überragende Qualität des Fotos, das uns Steffen Rothe zur Verfügung gestellt hat, erlaubt es, auf der Nabenkappe den Markenschriftzug „MAF“ zu lesen:

MAF Zweisitzer von 1910; Ausschnitt aus Originalfoto aus Sammlung Steffen Rothe (Berlin)

Sehr gut zu studieren sind hier außerdem die farblich von der übrigen Haube abgesetzten Luftschlitze – solche Details sind nur auf allerbesten Aufnahmen zu sehen.

Der Vollständigkeit sei auf den Rundkühler verwiesen, der nur bis 1911 verbaut wurde und danach einem ovalen wich. Nicht ungewöhnlich ist hier das Fehlen der Frontscheinwerfer – diese empfindlichen Anbauteile wurden damals von besorgten Besitzern meist nur für Nachtfahrten montiert, die eher selten waren.

Auf folgende Reklame von 1910 findet man übrigens unten dasselbe Modell mit montierten Scheinwerfern:

MAF Originalreklame von 1910; Sammlung Michael Schlenger

Die beiden Wagen dokumentieren vorbildlich den Übergang zum erwähnten Windlauf im Jahr 1910, der bei dem sportlich wirkenden Zweisitzer naheliegender ist als bei dem repräsentativen Tourer darüber.

Übrigens unterstreicht die Angabe 8-10 PS bei dem Zweisitzer das oben angeprangerte Durcheinander bzw. Defizit bei den überlieferten Typenbezeichnungen. Ein MAF mit 10 PS findet sich nur in „Ahnen unserer Autos“ (Gränz/Kirchberg, 1975) Erwähnung, als Baujahr wird 1909-1911 angegeben.

Dies passt wie auch die Karosserie zur Diagnose, dass sich 1909/10 ein Wandel bei MAF vollzog, den die vorgestellten beiden Fotos zweier ungleicher Brüder illustrieren.

Damit wäre ich für heute fast „durch“. Doch auch wenn die Nacht schon fortgeschritten ist, will ich am Ende noch auf die Möglichkeit zweier weiterer ungleicher Brüder hinweisen.

Was meinen Sie, liebe Leser, wie könnten hier die Verwandschaftsverhältnisse gewesen sein?

MAF Zweisitzer von 1910; Ausschnitt aus Originalfoto aus Sammlung Steffen Rothe (Berlin)

Ich schätze, dass Fahrer und Beifahrer Vater und Sohn gewesen sein könnten – das mache ich an der Nase fest. Könnte der gut aussehende junge Herr ganz rechts ebenfalls zur Familie gehört haben? Oder war er vielleicht der Schwager, der mit dem dann Schwester des Beifahrers verheiratet war?

Dieses Rätsel scheint mir schwerer zu lösen als das der beiden ungleichen Brüder aus dem Hause MAF – aber nicht weniger reizvoll…

Wer jetzt immer noch lieber mehr über diese frühen MAF-Wagen erfahren will, kommt hier auf seine Kosten und zwar in Form überlebender Wagen genau des heute gezeigten Typs (über die Verkommenheit des heutigen Umfelds muss man hinwegsehen).

Video hochgeladen von Hachemuehle; Onlinequelle: YouTube.com

© Michael Schlenger, 2021. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Dahinter steckt ein kluger Kopf: Minerva von 1907/08

Leser der Frankfurter Allgemeinen Zeitung denken jetzt sicher an den Werbespruch: „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“ – nun ja, das war einmal.

Als Abonnent des Traditionsblatts habe ich das vom Werteverständnis bürgerlich-konservative und in wirtschaftlicher Hinsicht liberale Profil selbst viele Jahre geschätzt. Morgens auf dem Weg zur Arbeit „Politik und Finanzen“, abends dann „Feuilleton“ und „Reiseteil“, gern auch „Technik & Motor“ – damit hatte jeder Tag perfekte Struktur.

Das ist freilich längst Vergangenheit, nachdem die Herausgeber das Profil der FAZ von rechts auf links gedreht haben und den Nachwuchs bei FR und TAZ rekrutieren. Das Netz bietet zum Glück auch hier Alternativen zum unkritischen Einerlei.

Online findet der in Sachen Automobil Konservative ebenfalls jede Menge Material, für das gilt: „Dahinter steckt ein kluger Kopf“. Gerade bei der Entstehung der ganz frühen Wagen war das Wirken begabter Individualisten entscheidend, nicht anonyme Entwickler-Kollektive.

So war das auch bei der belgischen Marke Minerva, um die es heute wieder einmal geht. Sylvain de Jong war der kluge Kopf dahinter und die antike römische Göttin der Weisheit – Minerva – lieferte den passenden Firmennamen dazu.

Nach dem Einstieg in die Produktion von Fahrrädern (1898) und Motorrädern (1899) stellte De Jong schon 1900 das erste Auto vor. Der Serienbau begann jedoch erst einige Versuchstypen später im Jahr 1904. Bereits 1906 hatte sich die Firma unter De Jong in die Oberklasse des europäischen Automobilbaus hochgearbeitet.

Ein schönes Beispiel für einen solchen frühen Minerva habe ich hier vorgestellt. Der Wagen, den ich heute präsentieren kann, scheint direkt daran anzuknüpfen – er entstand sehr wahrscheinlich 1907/08:

Minerva von 1907/08; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Den Abmessungen nach zu urteilen, handelt es sich mindestens um den großen Vierzylindertyp 24CV (1908: 28 CV) mit über vier Liter Hubraum. Daneben gab es ein Sechszylindermodell 40 CV, dessen Aggregat über sechs Liter maß.

Die zeitliche Einordnung ist anhand einiger Details der Frontpartie möglich. So taucht erstmal 1906 an den Minerva-Wagen die charakteristische Einbuchtung in der Haube auf, die bis in die 1930er markentypisch bleiben sollte.

Das findet sich zwar ähnlich auch bei Wagen von Lorraine-Dietrich, doch dort verläuft die obere Einfassung des Kühlernetzes nicht waagerecht, sondern folgt der Kontur der Kühlerfront (siehe hier).

Die runde Plakette mit dem Porträt der Göttin Minerva taucht auf Abbildungen erst 1907 auf, bis dahin zierte nur der Markenname das Kühleroberteil. Auch wenn die Plakette hier lediglich schemenhaft zu erkennen ist, können wir so eine Datierung ab 1907 annehmen:

Da die schwingenartige Ausführung der Kotflügel ohne Verbindung mit dem Trittbrett schon 1909 verschwunden war (auch bei anderen Herstellern), spricht aus meiner Sicht alles für eine Entstehung dieses Wagens 1907/08.

Übrigens gilt auch für diesen Ausschnitt „Dahinter steckt ein kluger Kopf“. Denn außer dem Fahrer, der gerade um die Frontpartie herumzugehen scheint, sehen wir hinter dem Minerva eine weitere Person, die ich als den Besitzer des Wagens ansprechen würde.

Dieser muss schon ein kluger Kopf gewesen sein, weil er andernfalls das nötige Kleingeld für dieses damals ungeheuer teure Fahrzeug kaum hätte aufbringen können. Ein solcher Minerva repräsentierte damals nämlich den Gegenwert eines Hauses.

Weitere kluge Köpfe darf man auf dem Rücksitz des Wagens vermuten. Denn die Damen in der Schicht, in der man sich so etwas leisten konnte, waren keine Heimchen am Herd, sondern gebildete und souveräne Frauen, die den komplexen Konventionen der „besseren Gesellschaft“ genügen mussten.

Sie waren Managerinnen eines umfangreichen Hausstands mit Bediensteten und übten oft auf subtile Weise erhebliche Macht aus, was die Geschicke der Familie oder auch eines etwaigen Unternehmens in deren Besitz angeht.

Vermutlich steckten diese Damen an Bildung, Eloquenz und gesellschaftlichem Einfluss manche heutige Quotenfrau in die Tasche – in Anbetracht der damaligen Hutmode darf man hier wohl sagen: „Darunter steckt ein kluger Kopf“:

„Darunter“, „dahinter“, „darüber“ – das beschäftigt uns auf diesem Ausschnitt gleich nochmals.

Denn unter dem Trittbrett auf Höhe der Reservereifen sind zwei Herrenschuhe und Hosenbeine zu sehen. Wo aber ist der (kluge?) Kopf darüber zu sehen?

Nun er scheint aus unserem Blickwinkel auf den Minerva „dahinter“ verborgen zu sein – schade, auch ihn hätten wir gern kennengelernt. So müssen wir uns mit den gesteppten Lederpolstern begnügen, die den Blick versperren.

Dennoch hat uns der Zufall – oder war es Absicht? – hinter dem Minerva ein weitere Sehenswürdigkeit beschert: ein Motorrad, das ich anhand der Form des Tanks auf 1909/10 datieren würde.

Damit kehren wir wieder zu dem klugen Kopf hinter Minerva zurück – besagtem Sylvain de Jong, der mit der Entscheidung für die Motorisierung seiner Fahrräder den entscheidenden Schritt hin in Richtung Automobil getan hatte.

Seine letzte Großtat – im wahrsten Sinne des Wortes – war der Entwicklungsauftrag für einen „Super-Minerva“ im Jahr 1928. De Jong starb im selben Jahr und erlebte nicht mehr das Debüt dieses Luxusautomobils, das mit einem 6,6 Liter großen Achtzylindermotor (125 PS Leistung) nochmals zu den besten Europas gehören sollte.

Doch das ist eine andere Geschichte, die ich gelegentlich anhand eines zeitgenössischen Originalfotos erzählen will…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Schöne Bescherung: Oma Käthe im Opel von 1908/09

Nach ein paar Tagen Funkstille, die einem verschärften Arbeitspensum geschuldet waren, geht es nun weiter mit meinen Streifzügen durch die Wunderwelt des Vorkriegsautomobils.

Um meine regelmäßigen Leser (und mich) für entgangenen Genuss zu entschädigen, habe ich mich pünktlich zu Weihnachten für etwas entschieden, das zweifellos eine schöne Bescherung für die ganze Familie darstellt:

Opel Tourenwagen von 1908/09; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer einst dieses Automobil besaß, hatte sich damit bereits vor Weihnachten eine schöne Bescherung gegönnt und wusste genau, was er da für ein Prachtstück sein eigen nannte.

Entsprechend wirkungsvoll wurde das Fahrzeug inszeniert – ganz offensichtlich von Könnerhand. Privataufnahmen so früher Wagen aus derartiger Perspektive sind nur schwer zu finden – schon das stellt für uns eine schöne Bescherung dar.

„Eine schöne Bescherung“ – das trifft auf das Foto allerdings auch in anderer Hinsicht zu, diesmal als Seufzer gemeint. Denn der Originalabzug befindet sich in sehr schlechtem Zustand, an sehr vielen Stellen hat sich die Oberfläche abgelöst.

Die Situation erschien mir aber zu reizvoll, um sie dem Vergessen anheimzugeben und so begann ich in langwieriger Arbeit die digitalisierte Aufnahme zu retuschieren. Das bescherte mir besinnliche Stunden des Auffüllens von Fehlstellen.

Nur im Bereich der Vorderachse habe ich bewusst einen Teil der Schäden beibehalten, die sich genau in dieser Form über den ganzen Wagen und die Insassen hinwegzogen:

Der Aufwand hat sich gelohnt, finde ich, denn wo findet man ein solches Dokument, bei dem sogar die Herstellerplakette auf der Schottwand hinter der Motorhaube lesbar ist?

Markenkenner hätten wohl auch so erkannt, dass wir hier einen frühen Opel vor uns haben. Die Form des Kühlers mit dem charakteristisch gestalteten Einfüllstutzen ist jedenfalls ein starkes Indiz für ein Fabrikat aus Rüsselsheim aus der Zeit deutlich vor dem 1. Weltkrieg.

Der „OPEL“-Schriftzug auf besagter Plakette bestätigt diese Annahme, sodass man sich im nächsten Schritt der Identifikation des Typs zuwenden kann. Doch bei Sichtung der in Frage kommenden Modelle gilt einmal mehr: „Das ist ja eine schöne Bescherung“.

Denn die Firma Opel, deren damaligen Rang man nicht ermessen kann, wenn man das ernüchternde heutige Erscheinungsbild der Marke zugrundelegt, bot schon vor 1910 eine große Vielfalt an Motorisierungen, die vom legendären „Doktorwagen“ mit 8 PS über etliche Mittelklassemodelle bis hin zu veritablen Luxustypen mit bis zu 60 PS reichten.

Äußerlich waren diese unterschiedlichen Opel-Wagen meist nur an den Proportionen unterscheidbar. Im vorliegenden Fall kommt wohl ein Mittelklassemodell in Frage.

Genauer lässt sich dagegen das Baujahr eingrenzen, wobei Vergleiche mit datierten Abbildungen helfen, wie sie die treffliche „Opel Fahrzeug-Chronik, Band 1“ (Barthels/Manthey, Verlag Podszun, 2012) sehr zahlreich enthält.

Demnach tauchen bei Opel direkt ins Trittbrett übergehende Vorderkotflügel erstmals 1908 auf. Da ab 1910 bei den meisten deutschen Fabrikaten, so auch bei Opel, die Partie zwischen Motorhaube und Schottwand von einem strömungsgünstigen Blech – Windlauf, Windkappe oder Torpedo genannt – kaschiert wurde, spricht viel für 1908/09 als Baujahr.

Das ist ein schönes Ergebnis nach all den Mühen, die mir dieses Foto beschert hat. Wer sich dafür interessiert, wie ein Opel aus genau dieser Zeit mit praktisch identischem Aufbau aussieht, der wird auf der Website von Tobias Wenzel (Wiesbaden) fündig:

Opel 10/18 PS von 1908; bearbeitete Version des Originalfotos von Tobias Wenzel (Bildquelle)

Von wenigen Details abgesehen entspricht dieser überlebende Opel 10/18 PS von 1908 exakt dem Fahrzeug auf meinem historischen Originalfoto.

Wer genau hinschaut, wird bemerken, dass der Motor des Opel 10/18 PS offenbar weniger Platz in Anspruch nahm als das Aggregat des eingangs gezeigten Wagens. So ragt dort die Motorhaube bis zur Oberkante der Schottwand, außerdem ist unter dem Kühler ein verziertes Blech angebracht, das beim Opel 10/18 PS fehlt.

Ich neige daher dazu, „meinen“ Opel eher in der Leistungsklasse oberhalb von 20 PS anzusiedeln; in Frage käme beispielsweise der Typ 18/30 PS. Genau wird man das aber wohl nicht mehr sagen können.

Genau bekannt ist dafür ein weiteres Detail dieses großzügigen Tourenwagens, nämlich der Name einer Insassin: „Oma Käthe“ steht von alter Hand auf der Rückseite des Originalabzugs und vermutlich war sie mit einem Kreuz auf dem Foto markiert.

Die großflächigen Zerstörungen haben leider etwaige Hinweise darauf getilgt, wer nun „Oma Käthe“ war. In Frage kommt neben der Beifahrerin auch das Mädchen auf dem Rücksitz, dessen Gesicht sich leider nur noch teilweise wiederherstellen ließ:

Rund 110 Jahre dürften mittlerweile vergangen sein, seitdem diese schöne Aufnahme an einem unbekannten Ort entstand.

Von den Insassen ist das vielleicht das letzte Zeugnis, das es ins 21. Jahrhundert geschafft hat. Der Opel ist sicher ebenfalls längst den Weg alles Irdischen gegangen.

Wenn Sie, liebe Leser, nun an Weihnachten Fotos mit der Familie machen – wenn auch vermutlich ohne Auto – dann bedenken Sie dabei, dass es passieren kann, dass jemand dereinst im Jahr 2130 die Situation und die Gesichter studiert.

Ob dann noch jemand ausruft – „Das ist ja eine schöne Bescherung!“ – das bleibt der Qualität des Fotos und dem Gang der Geschichte überlassen…

Und nun wünsche ich allen treuen Lesern und Besuchern meines Blogs „Fröhliche Weihnachten“!

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Kleyers Kleinster: Adler 5/13 PS von 1912

Für den Kalauer im Titel meines heutigen Blog-Eintrags habe ich mir einige historische Freiheiten genommen:

Zwar war der Gründer der Firma Heinrich Kleyer aus Frankfurt/Main, die sich ab 1881 mit Fahrrädern am Markt etabliert hatte, einst die treibende Kraft hinter der Entstehung der Automarke Adler – doch für die Konstruktion der Adler-Wagen ab 1900 zeichnete er selbst nicht verantwortlich – dafür griff man auf erfahrene Ingenieure zurück.

Zudem war der Name Kleyer bereits mit der Gründung der Adlerwerke AG 1895 eigentlich Vergangenheit – nur der Zusatz „vormals Heinrich Kleyer“ erinnerte noch eine Weile im Firmennamen an ihn – wie in dieser Reklame von 1913:

Reklame für den Adler 5/13 PS-Modell; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Die Anzeige erschien 1913 in der Zeitschrift „Jugend“ – die übrigens Ende des 19. Jh. erstmals den Kunststil ins Rampenlicht gerückt hatte, der nach ihr im deutschsprachigen Raum als „Jugendstil“ bezeichnet wurde.

Richtig ist auf jeden Fall, dass diese Reklame für das seinerzeit kleinste Adler-Modell warb – den Typ 5/13 PS mit 1,3 Liter-Vierzylinder. Im Wesentlichen handelte es sich um eine leistungsgesteigerte Ausführung des seit 1910 gebauten Typs 5/11 PS.

Etwas moderner fielen die Aufbauten aus, bei denen die Linie der Motorhaube harmonisch in die dahinterliegende Blechpartie überging, die zur Windschutzscheibe hin anstieg – als Windlauf, Windkappe oder auch Torpedo bezeichnet.

Zudem besaß der Adler 5/13 PS serienmäßig filigrane Drahtspeichenräder, anhand derer man ihn vom Vorgängertyp 5/11 PS, aber auch vom etwas stärkeren Modell 7/15 bzw. 7/17 PS unterscheiden kann, die beide mit klobigeren Holzspeichenräder daherkamen.

Ein weiteres Detail des Adler 5/13 PS zeichnete sich dadurch aus, dass man es von außen nicht sah – dazu später mehr. Hier erst einmal ein Foto, das höchstwahrscheinlich einen Typ 5/13 PS zeigt, wie er ab 1912 angeboten wurde:

Adler Typ 5/13 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Adler-Wagen der Zeit vor dem 1. Weltkrieg ähneln sich zwar in der Formgebung stark und unterschieden sich äußerlich praktisch nur in den Proportionen.

Doch hier haben wir den glücklichen Fall, dass man anhand der Größe der Insassen und der Fenster im Hintergrund ermessen kann, dass man es mit einem sehr kompakten Modell zu tun hat. Die Drahtspeichenräder bestätigen dann die Vermutung, dass dieses Auto tatsächlich „Kleyers Kleinster“ war – dessen Radstand ganze 2,40 m betrug.

An der Ansprache als Adler kann ohnehin kein Zweifel bestehen, der typische Kühler mit rasterförmigem Netz, der kursive Adler-Schriftzug und die Kühlerfigur sagen alles:

Die mit Karbidgas betriebenen Scheinwerfer unterstützen die Annahme, dass dieses Foto noch vor Beginn des 1. Weltkriegs entstanden ist – der Adler war damals also bestenfalls zwei Jahre alt.

Das Erscheinungsbild der Insassen wäre allerdings sowohl mit einer frühen Datierung als auch mit einer Entstehung in die Zeit kurz nach 1918 vereinbar.

Zwar brachten die 1920er Jahre vor allem bei den Damen einen radikalen Wandel in der Mode mit sich, aber die weiblichen Passagiere könnte man wie die Herren in der Vor- und in der (frühen) Nachkriegszeit verorten:

Dieser Ausschnitt bietet sich nun dazu an, auf das Detail zurückzukommen, das den Adler Typ 5/13 vom Vorgänger 5/11 PS unterscheidet, weil es nicht sichtbar ist.

Was könnte das sein? Nun, schauen wir, was sich in Griffweite des Fahrers befindet: Neben dem Lenkrad natürlich wäre das der Gummiball zur Bedienung der Hupe. Aber fehlt hier nicht noch etwas anderes?

Tatsächlich: Man sieht keinen Handbrems- und Schalthebel – die doch bei so frühen Automobilen fast immer rechts außen an der Karosserie angebracht waren. Ein Blick in die Literatur bestätigt, dass ausgerechnet „Kleyers Kleinster“ mit innenliegenden Brems- und Schalthebeln ausgestattet war.

Bleibt die Preisfrage: Besaß dieser Adler 5/13 PS aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg bereits Brems- und Schalthebel in Wagenmitte – oder waren diese rechts an der Innenseite der Karosserie angebracht?

Die letztgenannte Variante erscheint mir wenig wahrscheinlich – weiß es ein Kenner früher Adler-Modelle dieses Typs genau?

Festzuhalten bleibt so oder so, dass auch „Kleyers Kleinster“ ein interessantes und markentypisch vollwertiges Automobil in bester Verarbeitung war – kein Wunder dass man einst ziemlich stolz darauf war.

Für mich zeigt sich hier wieder einmal, wie ein auf den ersten Blick unscheinbares (und im Original schlecht erhaltenes) privates Autofoto bei näherer Betrachtung einiges Interessantes preisgibt – ganz abgesehen davon, dass historische Aufnahmen dieses Typs sehr selten sind, weshalb jedes Puzzlestück zählt – und sei es auch das kleinste…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Fund des Monats: Ein „RAF“ von 1908

Im Fund des Monats November kommt alles zusammen, was die Welt des Vorkriegsautomobils so faszinierend macht: mutiges Unternehmertum, Konstrukteurs-Können, leidenschaftlicher Fahreinsatz und nicht zuletzt gelebte Sammler-Solidarität.

Ganz nebenbei lebt dabei ein Kapitel des alten Europa auf, das mit dem Ende des 1. Weltkriegs unwiederbringlich Geschichte war. Wo beginnen?

Zur Auswahl steht neben Reichenberg in Böhmen – so unglaublich es klingt – Australien! Tatsächlich nahm mein heutiger Fundbericht den Anfang auf dem Kontinent „down under“, den weit mehr mit Europa verbindet, als die ungeheure Entfernung vermuten lässt.

So war es ein australischer Sammlerkollege, der mir das Foto zusandte, das heute im Mittelpunkt steht – sein Name ist Jason Palmer. Er ist nicht nur selbst Besitzer europäischer Vorkriegswagen, sondern auch ein hervorragender Kenner früher Marken aus dem deutschsprachigen Raum.

Einige Male schon habe ich von ihm Fotos aus seiner Sammlung zur genauen Bestimmung der abgebildeten Automobile erhalten – doch diesmal wusste er bereits, was er da an Land gezogen hatte, nämlich einen RAF aus der Zeit vor 1910!

RAF 24/30 PS von 1908; Originalfoto aus Sammlung Jason Palmer (Australien)

Hand auf’s Herz: wer hätte das hierzulande erkannt? Genau das ist es, was Australien so interessant für Liebhaber exotischer Vorkriegsmarken macht – dort gibt es eine sehr lebendige Veteranenszene, die vieles hegt und pflegt, was in Europa längst in Vergessenheit geraten ist oder als verschollen galt.

RAF – da war doch was? Nun, vergessen Sie am besten alles, was Sie damit assoziieren. Begleiten Sie mich stattdessen auf eine Reise nach Böhmen, das vor dem Krieg bei aller Beschaulichkeit auch ein bedeutendes mitteleuropäisches Industriezentrum war.

Dort – in Reichenberg, um genau zu sein – gründeten 1907 einige betuchte Herren kurzerhand eine Automobilfabrik und begannen schon ein Jahr später mit der Produktion. Dabei verschwendete man keine Zeit, sondern stieg gleich in der gehobenen Klasse ein: der erste Typ war ein 30 PS starker Vierzylinder mit bester Ausstattung.

Beim Markennamen griff man zum Naheliegenden: Reichenberger Automobil-Fabrik, kurz RAF – zwar nicht raffiniert, aber markant, vermutlich war die Entscheidung mangels Marketingdirektoren und -agenturen schnell getroffen.

RAF, das war nicht nur auf dem Kühlergehäuse zu lesen, sondern auch auf den Nabenkappen – soweit fällt die Identifizierung noch leicht:

Aber wie soll man diesen RAF zeitlich einordnen und was könnte das für ein Typ gewesen sein? In der Standardliteratur zu frühen deutschen Automobilen ist kaum etwas dazu zu finden, vor allem keine Vergleichsfotos.

Zum Glück gibt es aber eine ganz wunderbare Publikation zu diversen Herstellern aus der Industrieregion beiderseits der Neiße, auf die mich Thomas Ulrich (Berlin) hingewiesen hat: „Pioniere des Automobils an der Neiße“, Zittauer Geschichtsblätter Nr. 48.

Im dortigen Kapitel über RAF (ab S. 414) findet sich eine Prospektabbildung von 1908, die einen nahezu identischen Tourenwagen zeigt, der insbesondere dieselbe auffallend gestaltete Schottwand besitzt wie der Wagen auf dem Foto von Jason Palmer.

Hierbei handelt es sich um die möglicherweise früheste strömungsgünstige Ausführung dieser Partie an einem Serienwagen. Während man sie bei sportlichen Automobilen im deutschsprachigen Raum ab 1908 gehäuft findet, stellt diese Frühform der „Windkappe“, die später den gesamten Übergang von Motorhaube zur Frontscheibe ganz abdeckte, eine ziemliche Rarität dar, meine ich.

Umso wertvoller war die Datierung des RAF in besagter Markengeschichte mit genau diesem Detail auf das Jahr 1908. So ließ sich nämlich auch die Motorisierung dieses Wagens mit für jene Zeit ungewöhnlicher Sicherheit bestimmen.

Höchstwahrscheinlich haben wir es mit dem bereits erwähnten Erstling der Marke zu tun – dem 24/30 PS-Typ, dem 1908 offenbar nur ein deutlich kleineres Modell mit 10 Steuer-PS zur Seite stand.

Auf welchem Niveau die RAF-Wagen von Anfang konstruiert und gefertigt wurde, unterstreicht die Tatsache, dass sie noch im Jahr ihres Erscheinens – also 1908 – auch an bedeutenden Sportveranstaltungen teilnahmen.

An dieser Stelle kommt ein weiteres Stück Literatur ins Spiel, das trotz oder gerade wegen seines Alters eine Quelle erster Güte darstellt, und zwar die originale Bilddokumentation der Prinz-Heinrich-Fahrt 1908:

Broschüre der Continental Caoutchouc- und Gutta Percha-Compagnie zur Prinz-Heinrich-Fahrt 1908; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Die von Prinz Heinrich von Preussen initiierte Fernfahrt über 2.215 km von Frankfurt über Trier, Köln, Hannover, Bremen, Hamburg, Flensburg, Kiel, Lübeck und Stettin nach Berlin war damals eine vielbeachte Zuverlässigkeitsprüfung, bei der das möglichst pannenfreie Ankommen bereits eine Auszeichnung darstellte.

RAF trat dort mit mehreren Wagen an, die wohl weitgehend serienmäßig geblieben waren, jedenfalls stimmen sie beide äußerlich weitgehend mit dem Fahrzeug auf Jason Palmers Foto überein.

Hier haben wir den ersten RAF, der von Alfred Ginzkey gesteuert wurde:

Ausschnitt von Seite 93 der Broschüre der Continental Caoutchouc- und Gutta Percha-Compagnie zur Prinz-Heinrich-Fahrt 1908; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Ginzkey stammte aus Maffersdorf in Böhmen und gehörte zu den Kapitalgebern der jungen Firma. Der Unternehmer sitzt hier selbst am Steuer, so gehört sich das – also nicht ein angestellter Geschäftsführer, der kein persönliches Risiko trägt.

Zu den Gesellschaftern gehörte wohl auch Oskar Klinger aus Reichenberg, jedenfalls hatte er einen Sitz im Präsidium der Firma. Auch er ließ sich nicht lumpen und nahm die Strapazen der Prinz-Heinrich-Fahrt 1908 in Kauf.

Hier sehen wir ihn bei einem Zwischenstopp in einem vermutlich identischen RAF Wagen des Typs 24/30 PS:

Ausschnitt von Seite 95 der Broschüre der Continental Caoutchouc- und Gutta Percha-Compagnie zur Prinz-Heinrich-Fahrt 1908; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Die von der Presse begleitete Sportveranstaltung lieferte weitgehend unabhängig vom Abschneiden der Wagen den teilnehmenden Marken enorme Publicity.

Kein Wunder, dass RAF schon bald Vertretungen in ganz Europa unterhielt und zu den anerkannten Herstellern der Oberklasse zählte. Wohl aus wirtschaftlichen Gründen entschlossen sich die Gesellschafter der Firma 1913 zum Verkauf an den ebenfalls in Böhmen ansässigen Konkurrenten Laurin & Klement – ein Hersteller, der noch einer Würdigung bedarf.

Wohl haben einige wenige RAF-Wagen mehr oder minder original die Zeiten überdauert, aber die Marke ist nur noch Spezialisten bekannt.

Ein Grund mehr, diese Episode aus dem faszinierenden Kapitel der frühen Automobilgeschichte im deutschsprachigen Raum anhand rarer Originaldokumente nachzuerzählen – mit etwas Nachhilfe aus Australien!

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Besuch von den Royals! Ein Benz um 1908

Zu den Traumata, die sich durch die deutsche Nachkriegsgeschichte ziehen, gehört nicht nur, dass man gleich zweimal ungehobelten Amis im Krieg unterlegen ist, sondern auch, dass man dabei des Adels verlustig wurde.

Wenn es daher heute um billige Unterhaltung auf Kosten Dritter geht, hat man in deutschen Landen – die Österreicher seien dabei kurzerhand „angeschlossen“ – nur die Wahl zwischen abgehalfterten Prominenten im Dschungelcamp oder einem gutmütigen britischen Prinzen, der einer etwas zu ehrgeizigen Schauspielerin erlegen ist.

Der offenbar viele schmerzende Mangel an Royals „Made in Germany“ lässt sich allerdings kompensieren, wenn man sich in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg zurückbegibt, als Deutschland zwar bereits ein halbwegs demokratisch verfasster Staat war, in dem aber die Abkömmlinge deutscher Adelsgeschlechter omnipräsent waren.

Man kommt an ihnen auch dann nicht vorbei, wenn man sich nur für die Automobile jener Zeit interessiert. Tatsächlich fand sich unter den Blaublütigen mancher, durch dessen Adern eher Benzin strömte – vor allem Prinz Heinrich von Preußen ist hier zu nennen.

Von echten Sportsmännern wie ihm (und einigen anderen) abgesehen, begegnet man adligen Automobilisten eher als Passagier der jungen Motorkutsche, so auch hier:

Benz Tourenwagen um 1908; Originale Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme entstand einst anlässlich eines Inspektionsbesuchs beim Heer auf einem unbekannten Truppenübungsplatz. Der sandige Boden spricht für Norddeutschland, das Fehlen eines Nummernschilds für „hohen Besuch“!

Das Dasein als Wehrpflichtiger war seinerzeit kein Zuckerschlecken. Dennoch muss der Militärdienst für das Deutsche Reich viele mit Stolz erfüllt haben, sonst wäre ein Foto wie dieses nicht 1912 als Postkarte versendet worden – in diesem Fall nach Swinemünde.

Schauen wir uns die Herrschaften und ihren Wagen näher an:

Unter meinen Leser finden sich zum Glück welche, die sich sehr gut mit der Prominenz jener Zeit auskennen – an sie daher die Frage: Könnte der junge Mann auf der Rückbank, den wir im Profil sehen, Kronprinz Friedrich Wilhelm von Preußen sein?

Sein Nachbar mit Pickelhaube und hellem Cape sollte sich ebenfalls identifizieren lassen – eventuell ist es der Landesherr der Provinz, in dem die Aufnahme entstand.

Unverzeihlich – zumindest nach offiziellem Protokoll – ist, dass der Fahrer hier ebenfalls in die Kamera schaut, als ob es bei dieser Aufnahme um ihn ginge! Sein Kamerad neben ihm macht es besser, er schaut stoisch nach vorn.

Wir lassen uns ebenfalls von dem hohen Besuch nicht mehr als nötig ablenken und wenden uns kurzerhand dem Automobil zu, das deutlich vor 1910 entstanden sein muss:

Auch wenn die Kühlerplakette nicht lesbar ist, spricht alles für einen Benz. Die Luftschlitze in der Oberseite der Haube tauchen bei der Marke erstmals 1906 auf und finden sich damals bei Benz-Wagen mit Motorisierungen von etwa 50 PS aufwärts.

Nach 1909 begegnet man diesem Detail nach meiner Wahrnehmung nicht mehr, sodass wir den Wagen auf „um 1908“ datieren können – genauer wird das wohl nicht möglich sein.

Die bis zu 70 PS reichenden Leistungen dieser Benz-Wagen waren kolossal – weniger, was die Höchstgeschwindigkeit anging (die nachrangig war), als im Hinblick auf die Steigfähigkeit und die Möglichkeit, fast schaltfrei fahren zu können.

Da Aufnahmen aus solcher Perspektive in der Literatur oder auch im öffentlich zugänglichen Fotoarchiv vom Mercedes-Benz die Ausnahme sind, wird eine genaue Ansprache von Modell und Baujahr kaum möglich sein.

In diesem Fall sind es auch eher die Insassen, die eine genauere Inspektion nahelegen – diesbezüglich hoffe ich auf erhellende Zuschriften von sachkundigen Lesern

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Puzzle mit Fehlstellen: Adler-Kleinwagen 1906-1909

Es ist eine Weile her, dass ich den Adler-Freunden unter den monatlich über 3.000 Besuchern meines Blogs etwas zu ihrer Lieblingsmarke aus meinem Fundus an historischen Fotos und Reklamen bieten konnte.

Nun ist es wieder so weit und als Entschädigung für’s Warten tauche ich diesmal tief in die Frühgeschichte der einst hochgeschätzten Marke aus Frankfurt am Main ein.

Da die Adler-PKW-Typen bis etwa 1920 nur unzureichend dokumentiert sind, besteht dabei die Gefahr, etwas zu übersehen, was mir nicht bekannt ist, oder falsche Schlüsse aus dem mir Vorliegenden zu ziehen.

Stellen Sie sich vor, Sie haben ein altes Haus geeerbt, auf dessen Speicher sich vieles aus der langen Zeit seiner Nutzung erhalten hat. Wenn Sie abends Zeit haben, streifen Sie dort mit einer Taschenlampe umher, öffnen staubbedeckte Truhen, leuchten in mit Spinnweben überzogene Ecken hinein, durchsuchen neugierig die Schubladen alter Kommoden, die seit Jahrzehnten unberührt umherstehen.

Nach und nach finden Sie dabei verstreute und teils verblichene Teile eines alten Puzzles, und je mehr sie davon entdecken, desto klarer tritt das ursprüngliche Motiv zutage. Doch während vieles zusammenpasst, fehlt auch ganz offensichtlich einiges und manches Stück will sich gar nicht in das Bild einfügen.

Genau so verhält es sich mit den Fotos und Dokumenten, die ich bisher zu den Adler-Kleinwagen zusammentragen konnte, die zwischen 1906 und 1910 anzusiedeln sind. Das Bild, das sich daraus ergibt, ist zwangsläufig unvollständig und in Teilen auch widersprüchlich, doch ist die Sache gerade deshalb so spannend.

Das erste Puzzlestück transportiert uns ins Jahr 1906, als bei Adler nach einiger Zeit der Abstinenz auf diesem Sektor ein neues Kleinwagenmodell entwickelt wurde:

Reklame von 1906/07 für den Adler Kleinwagen 4/8 PS; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Hier wird das neue 4/8 PS-Kleinauto von Adler mit 2-Zylinder-Motor angepriesen. Die (meist älteren) Literaturangaben zu seiner Entstehung gehen zwar etwas auseinander. Nach aktuellem Kenntnistand kam es aber bereits 1906 auf den Markt.

Obige Reklame für das Modell erwähnt am unteren Ende auch eine Grand Prix-Auszeichnung, die man 1906 in Mailand gewonnen hat.

Interessant ist, dass die Reklame im Zusammenhang mit dem 4/8 PS-Modell gleich drei Karosserievarianten erwähnt – neben Zwei- und Viersitzern auch einen Lieferwagenaufbau. In der älteren Literatur ist nur vom Zweisitzer die Rede.

Das ist beispielsweise im Adler-Standardwerk von Werner Oswald der Fall, doch ist in selbigem auch ein historisches Foto eines Adler 4/8 PS-Viersitzers abgebildet.

Die dort wiedergegebene Aufnahme ist sehr hilfreich, da sie die Karosseriegröße in Relation zu den Insassen veranschaulicht. Eine ganz ähnliche Situation haben wir hier:

Adler 4/8 oder 5/8 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Zwar ist das Bild von mäßiger Qualität, doch die Proportionen „passen“ und von der Frontpartie ist genug zu sehen, um diesen Wagen ebenfalls als Adler-Kleinwagen ab 1906 ansprechen zu können.

Dass dieses unscheinbare Puzzlestück tatsächlich ins Bild dieses frühen Typs passt, zeigt gleich das nächste erhaltene Dokument, nun in hervorragender Bildqualität und aus sehr reizvoller Perspektive:

Adler 4/8 oder 5/8 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der eingehende Vergleich des Aufbaus zeigt, dass die beiden Wagen „aus demselben Stall“ stammen – mit dem Vorteil, dass man bei der zweiten Aufnahme die Adler-typische Ausführung der Motorhaube studieren kann.

Die wohl 10 Luftschlitze in der Haube passen gut zu den Gegebenheiten auf den wenigen anderen verfügbaren Bildern des Adler 4/8 PS.

Wie auf eingangs gezeigter Reklame vermerkt, besaß dieser einen Zweizylindermotor, damals in der Kleinwagenklasse nicht unüblich. Bemerkenswert ist aber die Anordnung der Zylinder in V-Form und der Verzicht auf eine aktive Steuerung des Einlassventils. Dieses wurde vielmehr durch den Unterdruck des abwärts laufenden Kolbens in der Ansaugphase automatisch geöffnet – 1906 eigentlich schon veraltet.

Kein Wunder, dass man schon nach einem Jahr (1907) – das 4/8 PS-Modell durch den gleichstarken 5/8-Typ ersetzte, der nun einen etwas größeren Zweizylinder-Reihenmotor zeitgemäßer Bauart aufwies.

Äußerlich scheinen sich die aufeinanderfolgenden Typen wenig unterschieden zu haben. Einhellig nennen die Quellen einen von 2,20 m auf 2,50 gestiegenen Radstand sowie Holzspeichen statt solcher aus „Flachstahl“.

Leider lassen sich diese Unterschiede auf den mir vorliegenden Bildern nicht nachvollziehen, doch eines fällt auf: Es gab ein zeitgleiches Adler-Modell dieser Größenklasse, dessen Motorhaube mehr als die erwähnten zehn Luftschlitze besessen haben muss:

Adler 5/8 PS bzw. 5/9 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Könnte es sich dabei um die Weiterentwicklung des 5/8 PS Modells gehandelt haben, den Adler 5/9 PS, dessen höhere Leistung auch einen größeren Kühlungsbedarf bedeutet hätte?

Bezüglich des Adler 5/9 PS herrscht in der Literatur ebenfalls Uneinigkeit. Manche Quellen springen vom 4/8 PS gleich auf den 5/9 PS, der aber eine 1908 eingeführte Evolutionsstufe des 5/8 PS-Modells war.

Werner Oswalds Adler-Buch datiert den 5/9 PS erst auf 1910, was unplausibel ist. Mit 2 Zylindern und weniger als 10 PS war damals kein Staat mehr zu machen und Adler hatte in der Kleinwagenklasse ab 1908/09 bereits einen 6/12 PS-Typ im Programm.

Einen solchen konnte übrigens auch das obige Foto zeigen – jedenfalls würde die größere Zahl der Luftschlitze dazu passen.

Jedenfalls endete die Ära der heute vorgestellten Kleinautos von Adler wohl 1909, was auch zum Erscheinungsbild der Wagen auf den erhaltenen Fotos passt – sie besitzen nämlich allesamt noch keinen „Windlauf“, wie er sich ab 1910 bei Adler durchweg findet.

Dass die kleinen Adler-Wagen jener Zeit in Einzelfällen ihre kurze Blütezeit überdauerten, das belegt das folgende Foto von Frank-Alexander Krämer aus Landau in der Pfalz:

Adler 5/9 PS in Landau (Pfalz); Originalabzug aus Sammlung Frank-Alexander Krämer

Dieses Foto stellt in mehrfacher Hinsicht einen Glücksfall dar. Nicht nur ist es schön zu sehen, dass einer dieser frühen Adler-Kleinwagen bis in die 1950er Jahre überlebt hat und eventuell noch heute existiert.

Man hat hier auch die bei so alten Fahrzeugen seltene Situation, dass dank des Markenschriftzugs am Hersteller kein Zweifel besteht und gleichzeitig aufgrund der günstigen Aufnahmeperspektive die Zahl der Luftschlitze gut bestimmbar ist (10-11).

Damit ergänzt dieses Puzzlestück perfekt die bisher gezeigten Dokumente von Adler Kleinwagen aus der Zeit vor 1910. Doch war eingangs auch von Puzzlestücken die Rede, die nicht zu den übrigen passen wollen, obwohl sie aus derselben Zeit stammen.

Genau so etwas habe ich mir für den Schluss aufgehoben:

Adler-Reklame von 1908; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Reklame ist ganz klar auf das Jahr 1908 zu datieren. Nicht nur wird darin auf eine Auszeichnung aus dem Februar desselben Jahres verwiesen, sondern auch das 6/12-PS-Vierzylindermodell erwähnt, das 1909 als 6/14 PS firmierte.

Zu diesem Zeitpunkt sollte der kleinste verfügbare Adler-PKW eigentlich das Modell 4/8 PS oder dessen Nachfolger 5/8 PS gewesen sein. Doch hier wird mit einem Mal ein weiteres kleines Zweizylindermodell erwähnt, der Typ 4/7 PS!

Wie passt das zu den anderen Puzzlestücken? Nun, das konnte mir Jörg Zborowska vom Adler Motor Veteranen Club erklären. Demnach entschied sich Adler 1908, wieder einen schwächeren Wagen als Einstiegsmodell anzubieten, besagten 4/7 PS Typ, der in der Literatur keine Erwähnung findet.

Fazit: Die Puzzleteile, aus denen hier irgendwann die Welt der frühen Adler-Modelle wiederauferstehen soll, sind weder vollständig, noch passen sie alle lückenlos zusammen. Doch mit weiteren Dokumenten und dem Wissen der Adler-Experten sollte sich das Bild nach und nach komplettieren lassen.

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Arrivierter Typ: Ein Minerva von 1906/07

Einst pflegte man zu sagen, dass jemand „arriviert“ sei, wenn er es in Wirtschaft und Gesellschaft zu einer herausgehobenen Position gebracht hatte. Das war dem Französischen „être arrivé“ entlehnt, was schlicht „angekommen sein“ bedeutet.

Sprachlich geht es damit schon einmal in die richtige Richtung, denn heute haben wir es mit einem „arrivierten Typ“ aus Belgien zu tun – wobei sich das nicht nur auf das Auto bezieht, sondern auch auf den Besitzer mit Melone im Fond:

Minerva Typ 22 CV bzw. 24 CV von 1906 bzw. 1907; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses schöne Foto schlummerte eine ganze Weile in meinem Fundus. Es war bis dato eines von hunderten, bei denen das abgebildete Automobil der Identifikation harrt.

Von Zeit zu Zeit gehe ich diese Aufnahmen durch in der Hoffnung, dass irgendwo „der Groschen fällt“. Nebenbei ein Bonmot, das jemand aus Deutschland, der heute Anfang 20 ist, schon nicht mehr kennt. Er hat statt der harten, von der Bundesbank verteidigten Mark zeitlebens nur die hemmungslos inflationierte Kunstwährung Euro erlebt.

So ändern sich die Zeiten. Umbrüche – wie heute nicht nur zum Besseren – kennzeichneten auch die Epoche, in der das Automobil den Kinderschuhen entwuchs und ein alltagstaugliches Fortbewegungsmittel für „arrivierte Leute“ wurde.

Doch in welche Zeit transportiert uns eigentlich diese Aufnahme zurück und was für ein Fahrzeug ist darauf zu sehen? Nun, die erste Frage ist noch recht leicht anhand einiger Details der Frontpartie zu beantworten:

Die großen, mit Karbidgas betriebenen Messingscheinwerfer sind schon einmal ein klarer Hinweis auf ein Fahrzeug aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg. Damals war elektrische Beleuchtung an Automobilen noch selten und meist nur als Extra erhältlich.

Für eine Entstehung vor 1910 spricht tendenziell das Fehlen einer „Windkappe“ – eines strömungsgünstig gestaltenen Blechs, das von der Motorhaube zur Windschutzscheibe überleitet – mitunter auch als „Windlauf“ oder „Torpedo“ bezeichnet.

Speziell Fahrzeuge aus dem französischen Sprachraum kamen zwar oft noch bis zum 1. Weltkrieg ohne dieses dem Rennsport entlehnte Karosseriedetail aus, doch verrät ein Element, dass wir sogar noch weiter die Vergangenheit zurückgehen müssen.

So finden sich die schräg wie Flügel ausgestellten und noch nicht nahtlos ans Trittbrett anschließenden Vorderschutzbleche nur etwa bis 1908.

Beim Studium des Vorderwagens fallen weitere Details ins Auge. Zu nennen ist vor allem die beiderseitige Einbuchtung des Oberteils der Motorhaube, in der sich die geschwungene Silhouette des Kühlergehäuses fortsetzt.

So etwas findet man zwar an einer Reihe von Wagen jener Zeit, doch als wahrscheinlichster Kandidat kommt Minerva aus Belgien in Frage. Denn in der Literatur (Kupélian/Sirtaine: Le Grand Livre de l’Automobile Belge“) findet sich im Kapitel über Minerva eine Abbildung, die ein nahezu identisches Fahrzeug aus fast derselben Perspektive zeigt (S. 73).

Der einzige Unterschied besteht darin, dass sich dort keine Kisten auf dem Trittbrett befinden, sodass der Blick auf den noch unverkleideten Rahmen geht. Alles übrige wie die Gestaltung der Luftschlitze, Position des Haubenhalters, Kotflügelform, Lage und Ausführung von Schalt-/Bremshebel und sogar der komplette Aufbau stimmen überein.

Das ist ein ausgesprochener Glücksfall, denn besagtes Foto aus der Literatur zeigt einen Minerva des Typs 22CV, der 1906 eingeführt wurde. Damit war die noch junge Marke – das erste Automobil von Minerva war erst 1900 vorgestellt worden – endgültig unter den bedeutenden europäischen Herstellern „arriviert“.

1906 war zugleich das Jahr, in dem Minerva-Wagen erstmals an der charakteristischen Einbuchtung in der Haube erkennbar waren. Sie blieb bis in die 1930er Jahre ein Markenzeichen neben der Kühlerplakette mit der römischen Göttin Minerva.

Äußerlich praktisch unverändert wurde das Modell auch 1907 angeboten – lediglich der Motor war von 3,6 auf 4,1 Liter vergrößert worden und besaß nun die Bezeichnung 24 CV.

Der zuletzt gezeigte Bildausschnitt lässt übrigens ein interessantes – gewiss nicht serienmäßiges – Detail erkennen: eine Leitung, die sich an der Wagenflanke entlang über den hinteren Türgriff zum Heck schlängelt.

Offenbar handelt es sich um eine Gasleitung, die zusätzliche Lampen am Heck versorgte. So etwas war meines Wissens seinerzeit noch unüblich und die Verlegung der Gasleitung verrät, dass diese nachträglich improvisiert wurde.

Das lässt darauf schließen, dass man den Begriff „Alltagswagen“ sehr wörtlich nahm – dieser Minerva wurde wohl öfters auch bei Dunkelheit und schlechter Sicht bewegt. Dafür hielt man die damals üblichen Petroleumleuchten am Heck für unzureichend.

Was mag das nun für ein Mann gewesen sein, der diesen Minerva mit Chauffeur offenbar intensiv nutzte?

Leider verrät der Originalabzug nichts darüber. Doch der Hintergrund mit einer Art Verladestation für Fässer unbekannten Inhalts dürfte nicht zufällig gewählt sein. Vermutlich entstand das Foto auf dem Gelände einer Fabrik, deren Inhaber der uns freundlich anschauende Passagier im Heck des Minerva gewesen sein dürfte.

Trotz seines doppelreihigen Mantels befand er sich gegenüber dem Chauffeur bei Fahrt mit niedergelegtem Verdeck in der kühlen Jahreszeit in keiner komfortablen Position.

Das mit Lederriemen fixierte Gestänge spricht dagegen, dass man das Verdeck für diese Aufnahme vorübergehend geöffnet hatte. Denkbar ist, dass der Wagenbesitzer es sich während der Fahrt neben dem Chauffeur gemütlich machte, der durch die Windschutzscheibe besser geschützt war und außerdem die Abwärme von Motor und Getriebe genießen konnte.

Dass der Fahrer hier dennoch mit riesigem Pelzkragen, Fellhandschuhen und Pelzdecke über den Beinen posiert, dürfte der Eitelkeit geschuldet sein – solche Details waren wie die Schirmmütze Insignien der damals für ihr Können geschätzten Chauffeure.

Dass sich Wagenbesitzer mit dem Fahrer ablichten ließen und diese bei der Gelegenheit oft noch eine weitere Aufnahme allein nur mit „ihrem“ Wagen spendiert bekamen, war durchaus üblich und verrät viel von der Wertschätzung, die die Chauffeure genossen.

Über 110 Jahre dürfte es nun her sein, dass dieses schöne Dokument eines frühen Firmenwagens entstand – und darf mit Recht sagen, dass der Besitzer damit ebenso arriviert war wie die Marke Minerva, die noch eine große Zukunft vor sich hatte.

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Keineswegs ein seltener Vogel: NAW „Sperber“

Wer das Glück hat wie ich, auf dem Land zu leben – in den letzten Monaten der Corona-Krise ein besonderes Privileg – dem ist der Anblick des Sperbers sicher wohlvertraut.

Zugegeben, ich bin kein besonderer Vogelkenner und kann den Sperber mitunter vom Habicht schwer unterscheiden, doch eines weiß ich: er ist hierzulande keineswegs selten – und das war auch vor über 100 Jahren nicht wesentlich anders.

Damals wurden Teile Deutschlands sogar von Sperbern auf vier Rädern bevölkert – dieser Anblick ist allerdings ein seltener geworden:

NAW „Sperber“ von 1911/12; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der „Sperber“ von NAW – den 1907 gegründeten Norddeutschen Automobilwerken aus Hameln – macht einem die Identifikation aus dieser Perspektive leicht.

Nicht nur, dass er eine sehr charakteristische Kühlerform aufweist, der Name „SPERBER“ ist dort auch praktischerweise gleich eingeprägt.

Das ab 1911 gebaute Vierzylindemodell war mit demselben Chassis in (angeblich) zwei Motorisierungen verfügbar, deren Leistung bei unverändertem Hubraum wohl laufend gesteigert wurde, wie das vor dem 1. Weltkrieg oft der Fall war.

Anders sind die unterschiedlichen Bezeichnungen in der Literatur und auf Reklamen nicht zu erklären – so findet man die Motorisierungen 6/14 PS, 6/15 PS, 6/16 PS und 6/18 PS in Verbindung mit der Kühlerform auf dem eingangs gezeigten Foto.

1913 gab es einen Nachfolger mit neu entwickeltem Motor (6/20 PS), der sich durch eine neue Kühlergestaltung auszeichnete. Von diesem Modell ist mir bislang kein aussagefähiges Foto begegnet, aber vielleicht ändert sich das ja irgendwann einmal.

So zeigt auch der jüngste Neuzugang in der kleinen NAW-Fotogalerie meines Blogs wiederum einen „Sperber“ in der ersten Ausführung von 1911/12:

NAW „Sperber“ von 1911/12; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Diese hervorragende – sicher professionelle – Aufnahme verdanke ich Klaas Dierks, der mit Matthias Schmidt und Marcus Bengsch bislang die meisten Originaldokumente aus dem Kreis meiner Leser beigesteuert hat.

Wie ich selbst wenden meine Sammlerkollegen erhebliche Beträge für die Beschaffung von Fotos und Prospektmaterial aus der Vorkriegszeit auf – und stellen diese kostenlos einer stetig wachsenden Zahl an Enthusiasten zur Verfügung, die diesen Blog als einzigartiges Schaufenster in die Welt des Vorkriegsautomobils schätzen.

Zurück zum NAW „Sperber“ (von dem vermutlich noch zahllose weitere Fotos unproduktiv in privaten Archiven schlummern). Können wir überhaupt sicher sein, dass der abgebildete Wagen ein „Sperber“ und nicht ein Exemplar des kleineren Vorgängers „Colibri“ ist?

Schließlich ist die Typenbezeichnung hier nicht sonderlich gut lesbar:

Nun, bereits beim „Colibri“ verbaute NAW Kühler mit eingeprägter Modellbezeichnung, er besaß aber noch nicht den charakteristischen Abwärtsschwung des Oberteils. Dieser ist eindeutig kennzeichnend für den „Sperber“ der Jahre 1911/12.

Übrigens offenbart dieser Ausschnitt ein weiteres sonst kaum zu sehendes Detail. So erkennt man beim Blick unter den Kotflügel unterhalb des Rahmens zwei Reihen von Schlitzen in der Verkleidung des Unterbaus von Motor und Getriebe.

Wenn nicht alles täuscht, konnte die vom Kühler erhitzte Luft im Motorraum durch diese Schlitze nach außen entweichen – die sonst gängigen seitlichen Schlitze in der Motorhaube findet man beim NAW „Sperber“ generell nicht.

Das setzt freilich voraus, dass die Luft im Motorraum durch entsprechende Bleche nach unten gelenkt wurde – vielleicht kann ein Kenner dieses Typs mehr dazu sagen.

Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, liefert uns die Plakette an der Wagenflanke die Bestätigung, dass wir hier tatsächlich einen „Sperber“ auf vier Rädern vor uns haben:

Exakt eine solche Plakette schmückt im Original die Sammlung von Claus Wulff aus Berlin, der seine hervorragende Kollektion an Kühleremblemen auch im Netz zeigt. Hier sieht man die besagte „Sperber“-Plakette in voller Pracht.

Auf obigem Ausschnitt ist aber noch mehr zu sehen: Hier lassen sich schön die einzelnen funktionellen Elemente erkennen, die noch nicht zu einem durchgestalteten Ganzen verschmolzen waren, wie das ab den 1930er Jahren zunehmend der Fall sein sollte.

So ist die Unterseite der Karosserie noch klar vom darunterliegenden Rahmen abgesetzt, an dem wiederum zwei senkrechte Winkel das Trittbrett halten. Der Raum zwischen Rahmen und Trittbrett ist entweder mit einem Blech oder einem Leder geschlossen.

Mittig auf dem Trittbrett – zwischen den Türen – thront der Karbidgasentwickler, der den Brennstoff für die Scheinwerfer lieferte. Er scheint nicht lackiert zu sein, sondern aus poliertem Messing angefertigt, wie die Spiegelungen in der Oberfläche verraten.

Im Hinterkotflügel ist eine Aussparung angebracht, durch die das Vorderende der Blattfeder der Hinterachse ragt. Später würde man dieses Element mit einem Kasten mit Wartungsklappe kaschieren, bevor man die Rahmenpartie ganz hinter einem durchgehenden Schwellerblech verschwinden ließ.

Für mich liegt der Reiz der frühen Automobile in der nie wieder erreichten gestalterischen Klarheit, die wie bei einer Maschine noch alle funktionellen Zusammenhänge auf Anhieb erkennen lässt – von der Motorhaube einmal abgesehen, die aber letztlich ebenfalls funktionellen Zwecken dient wie dem Schutz des Wagens vor Verschmutzung durch austretendes Öl am oft noch ungekapselten Ventiltrieb.

Der aufmerksame Betrachter wird auf der Hausfassade im Hintergrund die Aufschrift „ZIGARRENFABRIK“ bemerkt haben, und wir dürfen annehmen, dass der ungesund aussehende und missgelaunte Herr am Steuer des NAW „Sperber“ der Direktor oder Besitzer ebendieser Fabrik war.

Die drei Buben im Matrosenanzug scheinen altersmäßig eng beieinander zu liegen, vielleicht waren zwei davon Zwillinge. Ihre Mutter trägt ein hochgeschlossenes Kleid, wie es bis zum 1. Weltkrieg üblich war – die Aufnahme dürfte kaum später entstanden sein.

Die freundlich dreinschauende junge Frau am Heck des „Sperber“ könnte die Haushälterin oder auch das Kindermädchen gewesen sein – dass sie mit auf’s Bild durfte, spricht dafür, wie sehr man sie schätzte und vielleicht als Teil der Familie ansah.

Über 100 Jahre ist diese Situation auf jeden Fall her und keine der Personen auf dem Foto dürfte länger als bis zum Ende des 20. Jahrhunderts gelebt haben – wenn die Buben nicht ohnehin rund 25-30 Jahre später im 2. Weltkrieg umkamen.

Leider wissen wir sonst nichts über diese Familie, die sich einst mit dem NAW „Sperber“ vor der eigenen Fabrik ablichten ließ. Geblieben ist aber vielleicht der Wagen, denn einige Exemplare dieses einst keineswegs raren Vogels haben die Zeiten überdauert…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Sagenhafte Autos aus Aachen: Ein Fafnir um 1912

Die altehrwürdige Stadt Aachen im Grenzland zu Belgien und den Niederlanden ist vor allem für ihren Dom bekannt, der eine fast 1.000 jährige Baugeschichte hat – von der Karolingerzeit (8. Jh.) bis ins Barock (18. Jh.).

Auch an die römischen Wurzeln der einstigen Königsresidenz wird man im Stadtbild und im Untergrund erinnert. Meine persönlicher Bezug zu Aachen basiert auf einer einstigen Wochenendbeziehung, die mir als Student mein treuer 1200 Volkswagen ermöglichte.

Das ist über ein Vierteljahrhundert her – und wenn man Erinnerungen über so lange Zeiträume mit sich herumträgt, merkt man auf einmal, dass man nicht mehr ganz jung ist.

Doch konnte ich zu Aachen in letzter Zeit eine ganz neue Beziehung knüpfen – und die hat mit der einstigen Automobilproduktion der dort angesiedelten AACHENER STAHLWARENFABRIK zu tun, die ab Ende des 19. Jh Einbaumotoren herstellte.

Unter der Markenbezeichnung „Fafnir“ – ich komme am Ende darauf zurück – fertigte man Aggregate für die unterschiedlichsten Fahrzeuge, die nicht nur bei heimischen Herstellern, sondern auch international ausgezeichneten Absatz fanden.

Ein Nischengeschäft blieb der um 1908 begonnene Automobilbau. Unter dem Markennamen Fafnir entstanden bis Ausbruch des 1. Weltkriegs vorwiegend Wagen der unteren Mittelklasse mit 1,5 bis 2,0 Litern Hubraum und weniger als 20 PS.

Nach ersten Anfangserfolgen wurde das Unternehmen im Jahr 1912 in FAFNIR-WERKE AG umfirmiert. Aus dieser Zeit stammt die folgende selbstbewusste Reklame:

Fafnir-Reklame um 1912; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Die in der Werbung erwähnte „langjährige Erfahrung“ bezog den Motorenbau ein, in dem die Aachener Firma eine eindrucksvolle Historie vorzuweisen hatte. Interessant, dass man in der Bildunterschrift darauf hinwies, dass hier ein Fafnir in England zu sehen ist.

Damit unterstrich man geschickt die internationale Wettbewerbsfähigkeit zu einem Zeitpunkt, als die deutsche Automobilindustrie ihre einstige Führungsrolle (Ende des 19. Jh.) längst an Frankreich, Belgien und England abgegeben hatte.

Der abgebildete Wagen mit recht steil ansteigendem Windlauf – dem Luftleitblech zwischen Motorhaube und Frontscheibe – und Holzspeichenrädern könnte ein Fafnir Typ 274 6/14 PS oder ein Typ 284 8/16 PS gewesen sein.

Daneben gab es einen größeren Typ 384 10/25 PS, dessen Radstand von rund 3 Metern deutlich über dem der kompakteren Modelle lag.

Wohl eines der kleineren Fafnir-Modelle ab 1912 sehen wir auf folgender Aufnahme:

Fafnir Typ 466 6/16 PS um 1913; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Ansprache als Fafnir gelang letztlich anhand des Schriftzugs auf dem Kühler, der mich anfänglich in Richtung der Marke Hansa hatte recherchieren lassen.

Doch die Kühlerform wollte nicht so recht passen, sodass ich schließlich bei Fafnir fündig wurde. Das Vorhandensein von Drahtspeichenrädern spricht für den ab 1913 gebauten Nachfolger des erwähnten Typs 6/14 PS – den Fafnir Typ 466 6/16 PS.

Jedenfalls ergibt sich das aus der dünnen Literatur – hier „Heinrich von Fersen: Autos in Deutschland 1885-1920“, S. 188-189. Natürlich sind die dortigen Angaben mit Vorsicht zu genießen, wie das bei allen älteren Standardwerken zu deutschen Automobilen der Fall ist.

Bemerkenswert ist auf dieser technisch guten Aufnahme das Nebeneinander moderner elektrischer Frontscheinwerfer und – zumindest der Form nach – Gaspositionslichtern:

Vermutlich ist diese Aufnahme nach dem 1. Weltkrieg entstanden, als viele Vorkriegsmodelle entweder mit moderner Elektrik weitergebaut wurden oder eine solche nachgerüstet wurde. Ideen von Lesern zu diesem Befund sind wie immer willkommen.

Leider gibt der Originalabzug keinen Hinweis auf den Entstehungszeitpunkt der Aufnahme. Die Rückseite enthält lediglich den handschriftlichen Vermerk „Zur Erinnerung an H. Bayer“.

Dergleichen Details sind mir wichtig, weil sie solche alten Automobilfotos mit Leben füllenso kennen wir wenigstens den Namen eines der Insassen.

Wer dieser vier gut aufgelegten Herren besagter H. Bayer war, wird wohl der einstige Besitzer dieses Fotos mit ins Grab genommen haben:

Man darf aufgrund der Kleidung – keine Hemden mit Vatermörderkragen – und dem völligen Fehlen von Bärten davon ausgehen, dass dieses schöne Dokument irgendwann in den 1920er Jahren entstand.

Wann genau? Nun, im Winter natürlich, so genau lässt sich das anhand der Schneeketten an den Hinterrädern schon sagen. Es muss ein milder Tag gewesen sein, wenn man die leichten Outfits der beiden vergnügten Männer im Heck zugrundelegt.

Doch wird man die Schneeketten nicht zum Spaß montiert haben – vielleicht hatte man eine Fahrt in noch winterliche Höhen vor oder hinter sich. So oder so war diese Generation aus einem anderen Holz geschnitzt als unsereiner.

Damit komme ich zum Schluss zurück auf einen Helden, der sich noch ganz anderen Härten aussetzte – die Rede ist von Siegfried aus der altgermanischen Sagenwelt. Im Nibelungenlied tötet Siegfried den Drachen Fafnir und badet anschließend in dessen Blut, um unverwundbar zu werden. Dabei spielt ein Lindenblatt eine wichtige Rolle…

Vor bald 100 Jahren – 1924 – entstand unter Regie von Fritz Lang der Stummfilm „Die Nibelungen“. In Teil 1 wird man Zeuge, wie Siegfried den wohl ersten animierten Drachen der Filmgeschichte zur Strecke bringt.

Auch wenn man den traurig dreinblickenden Drachen Fafnir bemitleiden und das „heroische“ Gebaren Siegfrieds heute belächeln mag, ist diese Szene ein Meilenstein der Filmgeschichte:

Videoquelle Youtube; hochgeladen von: Larchive

Weitere Meilensteine aus dem Hause Fafnir will ich nach und nach vorstellen – es handelt sich allerdings um sagenhafte Raritäten, denen man sich respektvoll nähern sollte…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Glänzende Erscheinung: Ein Horch Phaeton um 1912

Die in meinem letzten Blog-Eintrag zur sächsischen Luxusmarke Horch angekündigte Fortsetzung der Chronologie in die 1930er Jahre hinein muss noch etwas warten.

Mir ist in Sachen Horch etwas „dazwischen gekommen“, was gänzlich unvorhersehbar war, aber zugleich so prächtig, dass ich es meiner Leserschaft nicht länger vorenthalten will.

Es hat eine Weile gebraucht, bis sich das Auto, um das es heute geht, als Horch aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg erwies. Nochmals einige Recherchen waren erforderlich, um den Wagen eingermaßen genau einsortieren zu können.

Doch genug der Vorrede – hier haben wir das großartige Automobil, das uns heute beschäftigen wird:

Horch Tourenwagen um 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Anfänglich dachte ich, dass es sich um ein französisches oder belgisches Fahrzeug handeln könnte – die gotische Backsteinarchitektur sprach nicht dagegen und der auch auf dem Originalabzug kaum lesbare Schriftzug auf dem Kühler schien dazu zu passen.

Ausgerechnet aus den Vereinigten Staaten, deren Bewohner gern pauschal als an Europa desinteressiert und überwiegend primitiv präsentiert werden – nebenbei ein über 100 Jahre altes Vorurteil und Ausweis abendländischer Arroganz – erreichte mich via Facebook der Hinweis eines Enthusiasten, dass es sich um einen Horch vor 1914 handele.

Eingehende Vergleiche mit Bilddokumenten in der Literatur (Kirchberg/Pönisch: Horch – Typen, Technik, Modelle, Verlag Delius-Klasing) bestätigten dieses Votum, obwohl der Schriftzug auf dem Kühler es einem wahrlich nicht leicht macht:

Doch Details wie der Kühlwassereinfüllstutzen, die Nabenkappe, die nach hinten länger werdenden seitlichen Luftaustritte, selbst die Nieten in der Motorhaube und das Messingprofil, das Haube und den zur Frontscheibe ansteigenden Windlauf („Torpedo“) trennt, passen perfekt zu zeitgenössischen Horch-Bildern um 1912.

Gegen eine jüngere Datierung spricht, dass bei Horch ab 1913 der Flachkühler einem markanten Schnabelkühler wich – während frühere Modelle (bis 1910) noch keinen so harmonischen Übergang zwischen Haube und Frontscheibe aufweisen.

Die Literatur führt für jene Zeit in dieser Größenklasse vor allem drei Motorisierungen an: 10/30 PS, 12/34 PS und 17/45 PS – allesamt seitlich gesteuerte Vierzylinder.

Was genau unter der Haube dieses Horch-Phaeton schlummerte, wird sich wohl nicht mehr klären lassen. Dennoch handelte es sich zweifellos um eine glänzende Erscheinung, und sei es nur, was die Lederpolsterung und die Lackierung angeht.

Die von der Motorhaube bis zum Heckkotflügel durchlaufende Zierleiste ist übrigens ein weiteres Indiz für einen Horch um 1912, legt man die wenigen zeitgenössischen Vergleichsfotos zugrunde.

Wer sich fragt, was es mit den Element in der Mitte des Trittbretts und den beiden oberhalb des Rahmens angebrachten ovalen Riemen auf sich hat, dem kann geholfen werden: Das sind die Ersatzradhalterung und die zugehörigen Befestigungsbänder.

Bei montiertem Ersatzrad war auf der Fahrerseite kein Ausstieg möglich, weshalb der Chauffeur damals den Wagen über die linksgelegene Beifahrertür verlassen musste.

Der Fahrer hatte auch sonst einiges zu tun: rechts von ihm waren Schalthebel und Hupe zu bedienen, für Nachtfahrten musste der Karbidgasentwickler auf dem Trittbrett funktionsfähig sein, als „Standlicht“ bei geparktem Fahrzeug mussten die beiden Petroleumlampen dienen.

Der einzige Komfort für den Chauffeur bestand hier in einem Schaffell, das über die Vordersitze geworfen zu scheint hin. Die rückwärtigen Passagiere hatten vielleicht eine separate Wärmequelle in Form eines Öfchens im Fußraum zur Verfügung.

So sah absoluter Luxus vor rund 110 Jahren aus – für den Gegenwert eines Eigenheims bekam man eine so „windige Angelegenheit“, mit der man ein Prestige und ein Privileg genoss wie es heute vielleicht der Besitz eines Privatflugzeugs vermittelt.

Gleichzeitig ermöglichten diese Luxusgefährte die Erprobung und Bewährung einer Technologie, die im 21. Jahrhundert quasi für jedermann erschwinglich ist – wenn auch – zweifellos nicht in Form einer so glänzenden Erscheinung

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

1912: Große Torpedo-Offensive von Opel

Zugegeben: Der Titel meines heutigen Blog-Eintrags klingt recht martialisch – doch wie immer fasst er das Wesentliche zusammen, das ich vor dem geduldigen Leser ausbreite.

Geduld verlangt zunächst die Klärung des Begriffs „Torpedo“ im Zusammenhang mit Automobilen. Wer sich ein wenig Latein aus der Schulzeit bewahrt hat oder selbst ein Interesse an der römischen Antike entwickelt hat, kennt den „Torpedo“ möglicherweise aus einer ganz anderen Sphäre.

Als „Torpedo“ bezeichneten die Römer nämlich den Zitterrochen, der betäubende elektrische Schläge auszusenden vermag. Allgemeiner stand das Wort für Betäubung oder Lähmung.

Daran knüpfte man im 19. Jahrhundert an und bezeichnete als Torpedo Sprengwaffen, mit denen sich Schiffe außer Gefecht setzen ließen. Anfänglich zählten dazu auch Minen, doch später beschränkte sich der Gebrauch auf fischförmig gestaltete Unterwasserwaffen mit Eigenantrieb.

Die strömungsgünstige Form des Torpedos lieferte schließlich die Inspiration für die Bezeichnung der ab 1910 im Serienbau eingeführte „Windkappe“ oder „Windlauf“, die das erste aerodynamische Karosserielement darstellte.

Anfänglich war der Windlauf noch nicht organisch mit der davorliegenden Motorhabe verschmolzen, sondern wirkte häufig wie angesetzt oder übergestülpt wie hier:

Opel mit Torpedoaufsatz um 1911; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses schlecht erhaltene Foto (das ich bereits besprochen habe) veranschaulicht anhand eines Opel-Tourenwagen, wie sich die Torpedokarosserie binnen kürzester Zeit zu einer vollkommen harmonischen Angelegenheit entwickelte.

Denn während auf obiger Aufnahme noch eine „Stufe“ zwischen Motorhaube und Windkappe zu erkennen ist und beide Elemente in der Seitenansicht keine gemeinsame Linie bilden, sah das bei Opel schon ein Jahr später – 1912 – ganz anders aus:

Opel ab 1912 mit Torpedokarosserie; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Dieses Prachtstück ist auf einem historischen Foto festgehalten, das uns einmal mehr Leser Klaas Dierks großzügig zur Verfügung gestellt hat.

Bei der Gelegenheit sei daran erinnert, dass mein Blog nicht nur von meinem eigenen Fundus „lebt“, sondern auch von den Beiträgen Gleichgesinnter, die verstanden haben, dass es keinen Zweck hat, solche „Schätze“ ängstlich zu horten.

Doch zurück zu dem wunderbar harmonisch gestalteten Wagen auf dem Foto von Klaas Dierks. Die schräggestellten Luftschlitze, die die gesamte Länge der Motorhaube einnehmen, sind ein Indiz für einen mittleren bis schweren Opel.

Die fast gleichmäßig ansteigende Linie von Motorhaube und Torpedo in Verbindung mit den schrägstehenden Haubenschlitzen ist ein Kennzeichen der Modellfamilie von Opel ab 1912, die anlässlich des 50. Jubiläums der Marke kräftig ausgebaut wurde.

Bei dieser „Großoffensive“ bot Opel solche modernen Torpedokarosserien in folgenden Motorisierungen an: 10/24 PS, 13/30 PS, 18/40 PS, 24/50 PS, 34/65 PS und 40/100 PS. Die Hubräume reichten dabei von 2,6 Litern bis zu sagenhaften 10,2 Litern – durchweg mit vier Zylindern, wohlgemerkt.

Was ich bislang nicht herausfinden konnte ist, inwieweit bei Opel die Zahl der Luftschlitze – hier mindestens achtnähere Rückschlüsse auf die Motorisierung zulässt:

Generell lässt sich zwar sagen, das mit steigender Leistung auch der Kühlluftdurchsatz zunimmt, was sich tendenziell in der Zahl der Haubenschlitze niederschlagen sollte. Doch im vorliegenden Fall besteht diesbezüglich vielleicht nur ein loser Zusammenhang.

Zwar wies Opels bei der Torpedo-Offensive 1912 eingeführter Hubraumgigant 40/100 PS auf zeitgenössischen Prospektaufnahmen ebenfalls acht Luftschlitze auf.

Doch sicher sein kann man sich in solchen Fällen kaum, da unterschiedliche Motorisierungen auf identischem Chassis verfügbar waren und die Zahl der Luftschlitze wohl nur lose mit der Maximalleistung korrelierte.

So muss offenbleiben, was sich unter der Haube dieses herrlichen Opel-Tourenwagens verbarg, der auf jeden Fall auf die Zeit ab 1912 zu datieren ist. Eventuell lässt sich aber etwas zur Aufnahmesituation sagen:

Während der Fahrer ein ziviler Chauffeur zu sein scheint, dürfte es sich bei seinem Beifahrer um einen Soldaten gehandelt haben.

Da der Opel noch nicht die typischen Aufschriften trägt, die ab Beginn des 1. Weltkriegs die Zugehörigkeit von PKW zu einzelnen Armeeverbänden erkennen ließ, muss dieses Foto vor Kriegsausbruch entstanden sein – oder nach Kriegsende.

Auf ein Detail auf dem zuletzt gezeigten Ausschnitt möchte noch hinweisen: Der abgerundete Abschluss der hinteren Tür findet sich auf den mir vorliegenden Abbildungen von Opel-Wagen jener Zeit so nicht.

Von daher würde mich alle weiterführenden Hinweise zum genauen Typ und womöglich zu Lieferanten des Aufbaus sehr freuen. Dann ließe sich wenigstens dieser Vertreter von Opels großer Torpedo-Offensive 1912 genauer ansprechen…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Ein echter Doktorwagen: NSU-Zweisitzer

Man kann die Bedeutung des Automobils für unsere Zivilisation und unseren Wohlstand kaum überschätzen – weshalb Wachsamkeit angebracht ist, was ideologisch motivierte Versuche angeht, unter Vorwänden die automobile Bewegungsfreiheit einzuschränken.

Wohl niemand hat etwas gegen maßvolle und wirksame Schritte zur Verringerung tatsächlicher Umweltbelastungen, aber wie immer in der Politik ist eine Güterabwägung vorzunehmen, da auch Lebensinteressen der Bürger zu berücksichtigen sind.

Schon in der Frühzeit des Automobils gab es Versuche von Verbotsfetischisten, der neu gewonnenen Mobilität das Wasser abzugraben. Man denke nur an den Red Flag Act in England, der selbstfahrende Fahrzeuge bis 1896 zu Fußgängertempo verdammte.

Hätten sich diese reaktionären Kräfte durchgesetzt, wäre es zu einer der nützlichsten Anwendungen des Automobils nie gekommen – dem Doktorwagen!

Bei dem Stichwort denken sicher viele an den legendären Opel „Doktorwagen“ – hier ein Exemplar von 1908, das 2016 bei den Classic Days auf Schloss Dyck zu sehen war:

Opel „Doktorwagen“ von 1908; Bildrechte: Michael Schlenger

Natürlich war der „Doktorwagen“ kein exklusives Angebot von Opel – vielmehr wurden damit kurz nach Beginn des 20. Jahrhunderts generell offene Zweisitzer bezeichnet, die sich unter anderem für den Bedarf von Landärzten und Veterinären eigneten.

Die Konstruktion als Zweisitzer mit Faltverdeck war dabei keine besondere Anforderung der Herren Doktoren, sondern schlicht die billigste verfügbare Variante eines Automobils.

Auch wenn Ärzte vor über 100 Jahren in der Einkommenshierarchie höher angesiedelt waren als heute, war auch für sie die Anschaffung eines Autos eine kolossale Investition – daher musste die Einstiegsversion genügen, die genug Platz für den Doktor und seinen Arztkoffer bot.

Das Ergebnis sah dann typischerweise so aus:

NSU 5/10 oder 6/12 oder 8/15 PS vor 1910; Foto aus: „Bielstein in alten Bildern“, hrsg. vom Heimatverein Bielstein, 1980

Dieses schöne Foto verdanke ich Walter Ruland, der von mir wissen wollte, ob der Wagen tatsächlich ein NSU von 1912/13 sei. So ist es jedenfalls in einer 40 Jahre alten Publikation des Heimatvereins Bielstein (Bergisches Land) überliefert.

Nun, die Jahreszahl stimmt definitiv nicht, das Auto muss mangels „Windlauf“ zwischen Motorhaube und Windschutzscheibe vor 1910 entstanden sein. Doch die Ansprache als NSU ist korrekt.

Bei der Einordnung hilft folgende Reklame, die einen NSU von 1910 zeigt, der bereits die neuartige, zuvor im Rennsport erprobte „Windkappe“ zeigt, die den Luftwiderstand verringerte.

NSU-Reklame aus Braunbeck’s Sportlexikon von 1910: Original aus Sammlung Michael Schlenger

Von besagter Windkappe (international damals auch als Torpedo bezeichnet) abgesehen stimmt die Frontpartie vollkommen mit der des Wagens in der Publikation des Heimatvereins Bielstein von 1980 überein.

Die markante Ausführung des Kühlers entspricht mit Ausnahme des ovalem Emblems derjenigen der belgischen Pipe-Wagen, für deren Produktion NSU 1905 eine Lizenz erworben hatte.

Besagtes Emblem ist auf folgendem Ausschnitt zu erahnen. Studieren lässt sich außerdem die von Pipe übernommene getreppte Gestaltung des Oberteils des Kühlergehäueses:

Reizvoll ist die weit vorn angebrachte Hupe, die über ein sehr langes, rechts an der Motrhaube vorbeiführendes Rohr vom Armaturenbrett aus bedient worden sein muss.

Als NSU-Motorwagen (Lizenz Pipe) bot man ab 1906 vor allem um einen für die damalige Zeit ziemlich leistungsfähigen 15/24 PS-Typ an. Doch parallel dazu entwickelte NSU unter Leitung von Walter Schuricht einen kompakteren Vierzylinder mit 1,3 Litern Hubraum – den Typ 510 PS.

Dieser war anfänglich nur als offener Zweisitzer verfügbar und möglicherweise war der NSU auf dem oben gezeigten Foto ein solcher NSU 5/10 PS-Typ. Daneben wurde ein 1,5 Liter Modell angeboten, das ab 1907 bereits 12 PS leistete, 1908 folgte ein 8/15 PS-Typ.

Alle drei waren als Zweisitzer erhältlich, wobei der Radstand von 2 Metern beim 6/10 PS bis 2,64 Meter beim 8/15 PS reichte.

Ich würde im Fall des NSU-Zweisitzers auf obigem Foto auf einen Radstand von 2 Metern tippen, womit nur die Typen 6/10 PS bis 6/12 PS von 1906 bis 1908 in Betracht kommen.

Was die Aufnahme des NSU-Zweisitzers aus der Publikation des Bielsteiner Heimatvereins so wertvoll macht, ist die Tatsache, dass der Besitzer des Wagens namentlich bekannt ist – sein Name war Dr. Eckard:

Damit haben wir es bei dem NSU-Zweisitzer mit einem echten Doktorwagen zu tun, auch wenn man in Neckarsulm diese Bezeichnung offiziell nicht verwendet zu haben scheint.

Wir wissen nicht, wievielen Menschen Dr. Eckard mit seinem treuen NSU-Zweisitzer einst Hilfe geleistet hat – oft genug zu nachtschlafener Zeit oder bei Wind und Wetter, wie es nun einmal von Hausärzten erwartet wird und denen wir dafür zu Dank verpflichtet sind.

Bei der Gelegenheit sei auch an die Arbeit der Veterinäre erinnert, die durch das Automobil ganz ähnliche Möglichkeiten der raschen Hilfe erhielten. Nur wenig später kamen Milchlieferanten dazu – die Feuerwehr und die Post nicht zu vergessen.

Und wieviele weitere Mitmenschen stiften uns täglich Nutzen durch das Automobil, all die fleißigen Spediteure und Handwerker, deren Kastenwagen auf der Autobahn gern verflucht werden, aber ohne die unsere Gesellschaft ebenso wenig funktionieren würde wie ohne die Schichtarbeiter, die sich des nachts mit dem Auto zuverlässig zur Tätigkeiten einfinden, ohne die wir weder sauberes Wasser noch Strom oder Nahrung hätten.

So gesehen steht der heute vorgestellte NSU-Doktorwagen für weit über 100 Jahre Gewinn an Wohlfahrt, Sicherheit und Lebensqualität – Dinge, die wir nicht dem Staat, sondern einer aus rein privaten Motiven entwickelten Technologie verdanken…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Fund des Monats: Ein Stoewer Typ C5 von 1919

Als Fund des Monats März kann ich heute ein Modell von Stoewer aus Stettin präsentieren, das es eigentlich gar nicht hätte geben sollen – jedenfalls nicht zum Zeitpunkt seiner Entstehung kurz nach dem 1. Weltkrieg.

Den Krieg über konzentrierte sich die Produktion bei Stoewer auf Lastwagen für das Militär. Bemerkenswert ist, dass man daneben Argus-Flugmotoren in Lizenz baute – ein Hinweis auf die hervorragende Fertigungsqualität des bis 1914 auch international hochgeschätzten Unternehmens.

Noch im Winter 1918/19 wurde bei Stoewer neue PKW-Modelle konstruiert und erprobt – die während der 1920er Jahre als D-Typen einige Verbreitung erlangen sollten.

Vom Basistyp dieser Modellfamilie – Stoewer D3 – konnte ich mittlerweile ein Dutzend Exemplare anhand historischer Fotos präsentieren, die sich natürlich auch in meiner Stoewer-Galerie wiederfinden.

Zur Einstimmung zunächst ein bisher unveröffentlichtes Foto eines dieser D3-Typen mit 8/24 PS-Motorisierung:

Stoewer Typ D3 8/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses reizvolle Dokument entstand im August 1929 auf der „Fahrt von Mühlhausen nach Gera“, wie auf dem Abzug umseitig von alter Hand vermerkt ist.

Man erkennt hier den an der Vorderkante leicht geneigten Spitzkühler, der allen Stoewer D-Typen ihr charakteristisches „Gesicht“ gab – natürlich je nach Motorisierung in unterschiedlicher Größe.

Die gedrungenen Proportionen und der recht kurze Radstand dieses Wagens sprechen dafür, dass wir hier das Basismodell D3 8/24 PS vor uns haben. Der noch kleinere Typ D2 6/18 PS kam über das Planungsstadium nicht hinaus.

Damit nähern wir uns dem eigentlichen „Fund des Monats“. Denn 1919 stellte sich heraus, dass die D-Typen wegen Materialengpässen noch nicht in Produktion gehen konnten.

So verfiel man bei Stoewer darauf, vorübergehend ein eigentlich zur Ablösung vorgesehenes älteres Modell mit der Kühlerpartie der neuen D-Typen weiterzubauen. Dabei griff man im Kern auf die Konstruktion des Typs C1 von 1913 zurück, von dem noch 1915 eine im Detail verbesserte Ausführung C5 vorgestellt worden war.

Dabei handelte es sich um einen 6/18 PS-Typ, dessen Nachfolger nach dem Krieg eigentlich der nie realisierte D2 6/18 PS werden sollte. Rund 200 Fahrzeuge dieser „Notlösung“ wurden 1919 mit dem neuen Spitzkühler gebaut und ich finde das Ergebnis ausgesprochen attraktiv:

Stoewer Typ C5 6/18 PS von 1919; Originalfoto mit freundlicher Genehmigung von Knut Nicolaus

Diese seltene Aufnahme hat mir Knut Nicolaus zur Verfügung gestellt, dem an dieser Stelle herzlich gedankt sei.

Ich war anfänglich geneigt, den abgebildeten Wagen ebenfalls als Typ D3 anzusprechen, doch erschien mir der Radstand zu kurz und auch der ungewöhnliche Aufbau als Sportzweisitzer gab mir zu denken.

Dass es sich hier tatsächlich um einen der raren Stoewer C5 von 1919 handelt, der die Nahtstelle zwischen der alten Baureihe C und der neuen D-Typenfamilie markiert, erfuhr ich von Stoewer-Spezialist Manfried Bauer, dessen einzigartige Sammlung aus Produkten der einst so bedeutenden Firma heute das Technische Museum Stettin ziert.

Ein Vorläufer dieses schnittigen Wagens in Form eines Stoewer C1 von 1913/14 ist übrigens im Standardwerk „Stoewer Automobile“ von Hans Mai (Verlag Preuß, Darmstadt) auf Seite 55 abgebildet – dort natürlich noch ohne Spitzkühler und geteilte Frontscheibe – beides Merkmale vieler deutscher Wagen kurz nach dem 1. Weltkrieg.

Die trommelförmigen Gasscheinwerfer des Stoewer C5 auf dem Foto von Knut Nicolaus sind ein Hinweis darauf, dass auf noch vorhandene Materialbestände zurückgegriffen wurde, da nach dem 1. Weltkrieg elektrische Scheinwerfer rasch Standard wurden:

Das Kennzeichen des Wagens beginnt mit römisch „I“ gefolgt vom Buchstaben „K“, was verrät, dass dieser Stoewer zum Zeitpunkt der Aufnahme in der preußischen Provinz Schlesien zugelassen war.

Wie so oft wüsste man gern, was später aus dem attraktiven Zweisitzer wurde. Auch mit „nur“ 18 PS war er 1919 ein Luxusgegenstand aus Sicht der Masse der Bevölkerung, die vom Krieg ausgezehrt, von der völkerrechtswidrigen britischen Seeblockade ausgehungert und maßlosen Reparationslasten ausgesetzt war.

Das Beispiel des eingangs gezeigten Stoewer D3 auf dem Foto von 1929 zeigt, wie lange ein solches Automobil ein geschätztes Prestigeobjekt bleiben konnte, auch wenn es technisch längst veraltet war. Spätestens in den 1930er Jahren begann dann die erste große Verschrottungsrunde, der unzählige solcher Wagen zum Opfer fielen.

In dieser Zeit wird wohl auch der seltene C5 von 1919 sein Ende gefunden haben. Lediglich sein markanter Spitzkühler mit dem ovalen Stoewer-Emblem mag vom Besitzer als Erinnerung aufbewahrt worden sein und ziert vielleicht noch heute eine private Sammlung…

© Michael Schlenger, 2020. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.