Studieren können Sie heute alles Mögliche – Fahrradwissenschaften beispielsweise. Nun, bei den meisten Dingen ist nicht das drin, was außen draufsteht. Echte Wissenschaften stehen für sich selbst: Mathematik, Biologie, Paläontologie oder auch Linguistik.
Man könnte auf die Idee kommen, auch Vorkriegs-Autowissenschaft zum akademischen Fach zu adeln – leider gibt es keine öffentlichen Mittel dafür.
Dennoch haben Sie bei mir die Gelegenheit, mehr oder weniger ernsthaft (meist weniger) sich das Wissen anzueignen, das niemand braucht, aber das man unbedingt haben muss. Weder sind Studiengebühren fällig, noch gibt es einen Numerus Clausus.
Sie müssen nur den Hang des Dozenten zu Abschweifungen hinnehmen. Belohnt wird Ihre Geduld im besten Fall durch Erkenntnisse, die über das öde Studium reiner Fakten hinausgehen. Oft genug ist das Studium der Automobilität von gestern zugleich ein Besuch in der Schule des Lebens.
Bleiben wir für heute in dem Bild und lassen Sie uns gemeinsam die Hochschule besuchen – sie kennt keine muffigen Hörsäle in mieser Nachkriegsarchitektur, es weht dort herrlich frische Luft seit tausenden von Jahren.
Auf fast 2800 Meter Höhe ist diese Schule angesiedelt und sie trägt den klangvollen Namen „Passo dello Stelvio“. Die deutsche Bezeichnung „Stilfser Joch“ vermeide ich, sie klingt mir zu sehr nach Anstrengung und Buckelei – auch wenn es genau dessen von jeher bedarf, um dort nach oben zu gelangen:

Ganz gleich, von welcher Seite man den Pass angeht – man befindet sich in Italien, denn dort oben verläuft die Grenze zwischen dem Valtellina in der Lombardei und Südtirol, welches seit 1920 zu Italien gehört.
Von daher darf man vermuten, dass sich auf der Passhöhe insbesondere italienische Automobile studieren lassen.
Diese Annahme brachte mich dazu, ein entsprechendes Studienprogramm vorzubereiten, wobei das Lernziel wie bei echter Wissenschaft nicht bereits feststand, sondern durch die Empirie und daran anknüpfende Überlegungen erreicht werden sollte.
Dass das Ganze auf „Lancia & Co“ hinauslaufen sollte, hatte ich nicht erwartet, doch so hat es sich ergeben. Bereits bei der Anfahrt von der Sütiroler Seite klang das Thema das erste Mal an:
Die hier zu sehende Immobilie ist für heute quasi das Hauptquartier unserer Hochschule, aber wie gesagt: wir wollen uns dem Freiluftstudium hingeben – denn nirgends lernt man so viel wie unter dem weiten blauem Himmel.
Selbiger ist im vorliegenden Fall zwar in einem Grauton gehalten, aber gleich dem Himmel zustreben sollten wir als Studienanfänger ohnehin keineswegs. Wir bleiben also auf dem Boden der Tatsachen und betrachten neugierig, was sich unserem Auge dort darbietet.
Hier kommen uns praktischerweise die ersten Studienobjekte bereits entgegen:
Gar nicht übel für den Anfang, nicht wahr? Zwar gibt uns das erste Vehikel – ein Tourer von Anfang der 1920er Jahre mit hufeisenförmigen Kühler – Rätsel auf, aber wir sind ja noch Erstsemester und müssen den Blick zunächst an einfacheren Phänomenen schulen.
Da Sie als Blogleser hoffentlich die nötige (sittliche) Reife für die Zulassung zu dergleichen Studien erlangt haben oder aus eigenen Quellen darüber verfügen, wird Ihnen schon der zweite Wagen bekannt vorkommen.
„Das muss ein Lancia der frühen 20er Jahre sein!“ Die klassische Kühlerform mit dem typischen Emblem spricht jedenfalls dafür. Ich stelle hier die These in den Raum und damit zur Diskussion, dass wir es mit einem Lancia „Trikappa“ zu tun haben.
Puh, auf einmal wird es anstrengend – man muss sich Handwerkszeug aneignen, es erproben, sich ein eigenes Bild machen und im Zweifelsfall ein vom Konsens abweichendes Votum abgeben können.
DAS ist Wissenschaft – das bloße Reproduzieren der herrschenden oder vorgegebenen Sicht ist es mitnichten. Auch beim Studium in der Freiluftuni hoch auf dem Passo dello Stelvio gilt also gerade nicht: „the science is settled„, sondern das glatte Gegenteil.
Daher bin ich gespannt, zu welchen Einschätzungen und Ergebnissen Sie noch kommen werden. Bevor wir uns das nächste Studienobjekt vornehmen, ist Entspannung angesagt.
Der Weg zu dieser Hochschule war weit und beschwerlich – jetzt genießen wir für einen Moment, dass wir es hierher geschafft haben, während es im Hintergrund geschäftig zugeht:
Rasch knüpft man die ersten Kontakte – alle sind in Hochstimmung und voller Begierde, hier etwas zu lernen, was einem in den Niederungen des Alltags nicht zugänglich ist.
Die Aussicht ist in der Tat erhebend, man fühlt sich privilegiert und wagt einen ungewohnten Blick ins Weite – gut für die Augen und gut für’s Denken:
Im Vordergrund versammeln sich die ersten Studienobjekte, doch sie erscheinen uns noch nicht so interessant.
Viel lockender sind die Perspektiven in der Ferne. Doch die wollen erarbeitet sein. Dabei ist es gut zu wissen, dass man mit seiner Wissbegier und seinem Streben nicht allein ist.
Also schaut man sich um, mit wem sich die Studienzeit möglichst angenehm gestalten lässt.
Bitte entschuldigen Sie die kurze Ablenkung, aber ich fühle mich gerade an ein Erlebnis in meinem Grundstudium erinnert, das mich seinerzeit vorübergehend aus der Bahn warf, nachdem es unverhofft in meinen Studienalltag getreten war:
Sie sehen, wie leicht es ist, sich vom ernsthaften Studium ablenken zu lassen, das wir uns doch alle vorgenommen hatten.
Die Automobile aus der Kategorie „Lancia & Co“ führen hier vorübergehend eine bloß schattenhafte Existenz in unserer Wahrnehmung.
Doch nach kurzer Krise besinnen wir uns und finden zurück zu unserer sachorientierten Betrachtungsweise. Dabei hilft uns Novizen die geordnete Präsentation der Studieninhalte:
Man bemüht sich nun erstmals, einen klareren Blick und erste Erkenntnisse zu gewinnen. Doch das fällt schwer, die Dinge sind einfach noch zu abstrakt.
Also strengen wir uns an und nähern uns aufmerksam, vielleicht wollen sich ja dann erste Geistesblitze einstellen:
Na, was sagen Sie nun? – Wenn Sie bei dieser Gelegenheit ins Schwitzen kommen wie in einer Prüfung, die doch noch in weiter Ferne liegt, dann seien Sie beruhigt.
Ich scheitere ebenfalls an der sicheren Ansprache auch nur eines dieser Automobile.
Dergleichen Entäuschungen tragen zum Erwerb der Demut bei, die einem in allen Lebenslagen nützlich ist, denn das Scheitern auch bei besten Voraussetzungen zählt zu den Grunderfahrungen des Daseins.
Man darf nur nicht verzweifeln, sondern muss lernen, beharrlich zu bleiben und den eingeschlagenen Weg weiterzuverfolgen, solange er noch aussichtsreich erscheint.
Und wo könnte es aussichtsreicher zugehen in Sachen Vorkriegsautos auf alten Fotos als auf dem Passo dello Stelvio? Studienmaterial zur Schärfung des Blicks findet sich zuhauf.
Also lassen wir uns nicht beirren und unternehmen einen neuen Versuch:
Auch der Erstsemester mit Basiswissen wird hier nach einem Rundumblick Zuversicht schöpfen.
Zwar ist die Versuchsanordnung fast dieselbe wie beim ersten Mal. Doch nun finden wir mit einem Mal Zugang zum Studienobjekt – die Qualität des didaktischen Material entscheidet offenbar.
Plötzlich erleben wir, wie leicht die Anwendung bislang abstrakter Fähigkeiten fällt, wenn man einmal verstanden hat, worauf es ankommt.
Hier bekommen wir mit etwas Erfahrung gleich zwei eindeutige Ergebnisse unserer Bemühungen um Wissenserwerb serviert:
„Der niedrig auf der Straße liegende Wagen ganz rechts – das ist doch ebenfalls ein Lancia mit typischer Gestaltung der Kühlerpartie und des Markenemblems!„
Genau, bloß ist es diesmal nicht der ab 1922 gebaute Typ „Trikappa“, sondern der sensationelle „Lambda“, der bei Erscheinen 1923 das fortschrittlichste Auto der Welt war.
Der Wagen war schon oft Gegenstand in meinem Blog, weshalb ich bei dieser Gelegenheit auf weitere Details verzichte – diese sind leicht verfügbares Basiswissen.
Auch der hochbeinige Wagen daneben ist ein alter Bekannter: Die kurze und hoch bauende Motorhaube mit den ungewöhnlich niedrigen Luftschlitzen und dem oben leicht abgerundeten Kühlergehäuse sind typisch für den Fiat 501.
Die Meriten des ersten (ab 1919) massenhaft gebauten und international erfolgreichen Fiat sind ebenfalls x-mal Gegenstand meiner Blog-„Tutorien“ gewesen.
So, nach diesen ersten Erfolgserlebnissen in Sachen „Lancia & Co.“ sind wir jetzt reif für die nächste Herausforderung – dabei entscheidet sich, ob uns das Fach wirklich liegt.
Mmh, hier schleicht sich ein gewisses Unbehagen ein. Irgendwie will es nicht so recht gelingen, sich für diese Facetten des Fachs zu erwärmen.
Merkwürdig unzugänglich kommen einem die Studiengegenstände hier vor.
Könnte es sein, dass wir uns für eine Richtung entschieden haben, die sich uns nur mit großer Anstrengung erschließt, aber keine Leidenschaft zu wecken vermag?
Geben wir der Sache noch eine Chance, zumal man es sich nicht mit der reizvollen Kommilitonin mit den dunklen Locken aus derselben Fachrichtung verderben will, die einen in letzter Zeit begleitet, auch wenn noch nichts Ernsthaftes zur Debatte stand:
Verflixt, es will sich einfach keine Begeisterung und kein spontaner Zugang zu dieser Materie einstellen. Die Sache ist zu unstrukturiert, es mangelt hier an der Klarheit und Logik, nach der es einen verlangt.
Es hilft alles nichts – man muss in einem solchen Fall eine andere Richtung einschlagen. Kein gänzlich neues Fach, das nicht, aber eine Variante, in der man sich zuhause fühlt und in der einem die Resultate bei guter Vorbereitung förmlich zufliegen.
Eine kurze Umorientierung und siehe da: Hier findet man schon leichter Anschluss, auch wenn einem nicht gleich alles auf dem Silbertablettt serviert wird:
Wie man sieht, stellt sich jetzt einiges anders dar: Unser „Studentenwohnheim“, das wir außer für etwaige Parties geflissentlich ignorieren, ist erweitert worden und die vor einem stehenden Herausforderungen zeichnen sich in denkbar großer Klarheit ab.
Nun gilt es vor allem, englischsprachige Literatur durchzuackern, aber nicht nur, denn auch einige Beiträge aus dem guten alten Europa sind zur Kenntnis zu nehmen.
Diese Mischung aus klassischer Tradition und überseeischer Moderne gefällt uns – beide Seiten haben etwas für sich und aus dem intensiven Neben- und Miteinander ergeben sich erfrischend neue Sichtweisen und Impulse.
Schauen wir auch hier näher hin, denn es gibt bei diesem Kulturaustausch ohne Berührungsängste Erstaunliches zu lernen:
Die beiden US-Großserienmodelle um 1935 im Vordergrund bzw. an dritter Stelle wären Gegenstände für solide Seminararbeiten – die betrachten wir als abgehakt.
Interessanter und für den wirklich wissbegierigen Studenten anspruchsvoll sind der kompakte Wagen ganz rechts – den überlasse ich mutigen Freiwilligen – und die kolossale Sechsfenster-Limousine im Hintergrund.
Für letztere melde ich mich als Diplom-Aspirant, denn dafür bedarf es fortgeschrittener Qualitäten, die ich nach 10 Jahren Bloggerei und mehreren tausend einschlägigen Fotos zumindest in Teilbereichen beanspruche:
Machen wir es im Fall des Wagens mit dem schrägstehenden Dreieckskühler kurz. Also präsentiere ich zwecks „Peer-Review“ meine These:
Lancia „Astura„, Serie 3 ab 1933, Tipo 233L mit extralangem Radstand.
Diese spektakuläre Reiselimousine war mit ihrem gut 80 PS leistenden V8-Motor zur komfortablen und schnellen Überwindung großer Distanzen geeignet. Solche Wagen fuhren reiche Unternehmer aus Oberitalien, die mehr als nur eine Begleiterin nebst Gepäck hatten.
Damit ging es entweder über die Autostrada dei Laghi – die erste Autobahn der Welt – von Mailand an die oberitalienischen Seen oder (wie hier der Fall) auf große Tour durch die Alpen.
Eine ungefähre Vorstellung von der stilistischen Klasse dieser Wagen vermittelt folgender Bildausschnitt, welcher eine ähnliche (allerdings kürzere) noch existierende Limousine auf Basis des Lancia „Astura“ mit weitgehend übereinstimmender Frontpartie zeigt:
Ich kann hier durchaus falsch liegen und bin aufgeschlossen für das bessere Argument, wie es gute Praxis in echter Wissenschaft ist (korrigiere: sein sollte).
Damit wäre ich am Ende meines heutigen Studienreise auf den Passo dello Stelvio.
Wer immer noch nicht müde ist und unterwegs besonders gut aufgepasst hat, mag sich jetzt mit diesem merkwürdigen Gefährt auseinandersetzen, welches uns heute als Randerscheinung des Hochschulbetriebs begegnet ist:
Ich als italienerprobter Reiseleiter und selbstbewusster Blog-Wart habe eine klare Vorstellung davon, um was es sich hier handelt.
Was aber sagen Sie, liebe Absolventen der Hochschule des Daseins und des akribischen Selbststudiums zu diesem Kandidaten, welcher sich einst ebenfalls auf dem Passo dello Stelvio zur Outdoor-Party unter dem Motto „Lancia & Co“ einfand?
Nachtrag: Leser Michael Müller macht zurecht darauf aufmerksam, dass es einst auch ein legendäres Bergrennen am Stelvio gab, damals noch auf Schotterpisten.
„Wiederentdeckt“ wurde die grandiose Strecke im Rahmen einer Folge der britischen Heizer-Serie „Top Gear“, leider ohne Vorkriegsautos, aber dies eine Mal ist das egal…:
Michael Schlenger, 2025. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.