In Krieg und Frieden: Audi Typ D 18/45 PS

Wer sich mit Vorkriegsautos in Europa beschäftigt, wird mit Krieg und Frieden in beinahe gleichem Umfang konfrontiert.

Überschlagen wir kurz: Da wären der 1. Weltkrieg (1914-18), die darauffolgenden Jahre der militärischen Konflikte in Osteuropa (Kämpfe deutscher Freikorps und polnischer Krieg gegen Russland 1919-21) und der Spanische Bürgerkrieg 1936-39.

Das sind zwölf Jahre – fast ein Drittel der Zeit bis zum Beginn des 2. Weltkriegs. Nimmt man diesen noch dazu, landet man bei 40 %. Angesichts dieses Befundes die Militär“karriere“ ziviler Automodelle auszublenden, wäre schlicht unhistorisch.

Mangels eigenständiger PKW-Konstruktionen für militärische Verwendungen findet man auf Kriegsfotos zuhauf serienmäßige Wagen in allen möglichen Situationen, ohne die das Bild unvollständig wäre – oft liefern sie sogar wertvolle Hinweise.

Illustrieren möchte ich das heute anhand von zwei Aufnahmen aus der Sammlung von Leser Klaas Dierks, die gegensätzlicher kaum sein könnten, aber Entscheidendes gemeinsam haben.

Wie Krieg und Frieden markieren sie zwei entgegengesetzte Pole, doch wie diese durch die Erdachse verbunden sind, besteht zwischen den beiden Aufnahmen ein unauflöslicher Zusammenhang.

Beginnen möchte ich mit dem Dokument, auf dem eine Situation denkbar harmonischen Miteinanders dokumentiert ist – eine Hochzeitsaufnahme:

Audi Typ D 18/45 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Diese majestätisch anmutende Karosse konnte man für festliche Zwecke einst in Chemnitz mieten, soviel ist bekannt.

Das Hochzeitspaar hatte sich nicht lumpen lassen und sich für ein Gefährt mit dem teuersten Aufbau entschieden – der Mehraufwand für eine solche Chauffeurlimousine im Vergleich zu einem gängigen Tourenwagen war kolossal.

Dabei flossen auch delikate Details wie die riesige, an der Seite gewölbte Frontscheibe in die Rechnung ein.

Ein beachtlicher Posten war freilich auch die Motorisierung, denn wie noch zu zeigen sein wird, verbarg sich unter der Motorhaube ein 4,7 Liter großer Vierzylinder, der 45 PS produzierte – für ein Fahrzeug der Gaslampenära ein beachtlicher Wert.

Dass die trommelförmigen Scheinwerfer noch gasbetrieben waren, erkennt man an den Abgaslöchern an der Oberseite. Dagegen sind die Positionsleuchten vor der Windschutzscheibe bereits elektrisch – und obendrein strömungsgünstig gestaltet.

Wie komme ich nun darauf, dass es sich hierbei um einen Audi der Zeit vor dem 1. Weltkrieg handelt und wie kann ich mich sogar beim Typ genau festlegen?

Nun, das erste Indiz für einen Audi jener Zeit liefert das leicht vorkragende Oberteil des Kühlers, wenngleich das dort angebrachte Markenemblem verdeckt ist.

Zur genauen Typansprache merken wir uns die Dimensionen der Reifen: 880 x 120. Außerdem prägen wir uns die vier Luftschlitze und den mittig darüber angebrachten kleinen Griff auf der Motorhaube ein.

Szenenwechsel aus friedlichen Gefilden mitten in den 1. Weltkrieg – ins nordfranzösische Valenciennes, um genau zu sein:

Audi Typ D 10/45 PS oder E 21/55 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Auf den ersten Blick haben die beiden Fotos und die darauf abgebildeten Autos wenig gemeinsam.

Doch Krieg und Frieden sind – ob es einem gefällt oder nicht – nicht nur zwei Ausprägungen menschlichen Daseins, sondern sie können auch Überschneidungen aufweisen wie jeder weiß, der noch den „Kalten Krieg“ erlebt hat, in dem die militärische Komponente auch im zivilen Alltag präsent war.

Heute profitieren wir von der auf den ersten Blick friedlichen Situation, die vor über 100 Jahren im von deutschen Truppen besetzten Teil Frankreichs festgehalten wurde. Nutzen wir die Gelegenheit und werfen einen genaueren Blick auf die Frontpartie des Wagens:

Ins Auge fallen folgende Gemeinsamkeiten:

Die Motorhaube mit wiederum vier Luftschlitzen und dem kleinen Griff zum Anheben derselben sowie die Form der Kühlermaske – nun mit einem ansatzweise sichtbaren Emblem an der Vorderseite, außerdem die Gestaltung des Kühlereinfüllstutzens.

Unterschiedlich sind die Scheinwerfer – was nichts bedeutet, da es sich um zugekaufte Anbauteile handelte – und die Ausführung der Räder – hier mit sportlich anmutenden Drahtspeichen.

Doch genau dort finden wir die entscheidende Information: „AUDI“ steht auf der Nabenkappe in leicht kursiver Schrift und das auch noch korrekt ausgerichtet!

Aus den genannten Übereinstimmungen ist abzuleiten, dass auch der geschlossene Hochzeitswagen auf dem ersten Foto ein solcher Audi war. Und aus dessen Reifenabmessungen (880×120) lässt sich der Typ erschließen: D 18/45 PS.

Das ebenfalls vor dem 1. Weltkrieg erhältliche kleine Audi-Modell C 14/35 PS besaß Reifen der Dimension 820 x 120, der stärkere Typ E 22/ PS hatte solche der Größe 880 x 125.

Damit lässt sich zumindest der Hochzeitswagen aus Chemnitz präzise als Audi Typ D 18/45 PS ansprechen – und sogar der prächtige Aufbau lässt sich identifizieren: Er wurde von Gläser aus Dresden zugeliefert.

Gut zu erkennen ist hier übrigens ein weiteres Detail: Der Zwischenraum zwischen Trittbrett und Rahmen bzw. dem darauf ruhenden Aufbau ist mit Kunstleder verschlossen – kurze Zeit später sollte diese „Schwellerpartie“ aus Blech gefertigt werden.

Ob das bei dem Audi-Tourer auf dem Weltkriegsfoto bereits der Fall war, ist nicht zu erkennen – der Karbidgasentwickler, der Werkzeugkasten und der junge Soldat auf dem Trittbrett verbergen die Partie vollständig.

Wie die Gesellschaft aus Chemnitz wollten auch diese Herren für’s Fotoalbum der Familie festgehalten werden – und in beiden Fällen wissen wir nichts über ihr weiteres Schicksal.

Ob in Krieg oder Frieden – nach über 100 Jahren ist ihnen gemeinsam, dass das große Rad der Zeit längst über sie hinweggegangen und kaum mehr von ihnen übriggeblieben ist als diese beiden Stücke belichteten Papiers.

Auch vom Audi Typ D 18/45 PS scheint kein Exemplar die Zeiten überdauert zu haben – das ist aber kein Wunder: es wurden von 1911-20 nur 53 (!) Stück davon gebaut.

Sie sehen: es geht mitunter ziemlich exklusiv zu in meinem Blog, doch dazu gehören nun einmal auch Krieg und Frieden.

© Michael Schlenger, 2022. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Unerwartete Besatzung: Ein 1938er Chevrolet in Paris

Bei der Beschäftigung mit Vorkriegsautomobilen kommt man an einem Kapitel nicht vorbei – ihrem Einsatz im Krieg.

In Europa entfiel über ein Viertel der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auf militärische Konflikte, zählt man die Auseinandersetzungen zwischen deutschen Freikorps und russischen Truppen nach dem 1. Weltkrieg und den Spanischen Bürgerkrieg kurz vor dem 2. Weltkrieg dazu.

Automobile wurden dabei in zunehmender Anzahl für alle möglichen Zwecke herangezogen – zur Aufklärung, zur Bergung Verwundeter, für Kurierdienste und natürlich zum Transport von Soldaten, Waffen und Versorgungsgütern.

Fotos entsprechender Einsätze sind vor allem im 2. Weltkrieg massenhaft entstanden – und keineswegs nur von speziellen Militärversionen, die anfangs noch die Ausnahme waren, sondern vor allem von beschlagnahmten Zivilfahrzeugen.

So katastrophal das Kriegsgeschehen für die involvierten Länder auch war und keine Beschönigung auf irgendeiner Seite verdient, so interessant sind die fotografischen Dokumente jener Zeit – zeigen sie doch häufig ganz Unerwartetes.

Noch im Rahmen des Üblichen bewegt sich diese Aufnahme, die vermutlich 1940 beim Übergang nachrückender deutscher Einheiten über einen Fluss in Frankreich entstand:

Übergang deutscher Truppen vermutlich über die Maas; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sehen wir eine von Pionieren errichtete Behelfsbrücke, die gerade von einer deutschen Fahrzeugkolonne überquert wird.

Das Frontgeschehen muss weiter vorne gelegen haben, da man hier relativ ungeschützt unterwegs ist – der Kradfahrer vor uns hat nicht einmal seinen Karabiner umgeschnallt und im Wagen davor scheint man auch eher auf eine „Besichtigungsfahrt“ eingerichtet zu sein.

Das zivile Kennzeichen des Cabriolets deutet auf die Frühphase des 2. Weltkriegs hin, als in großer Zahl Privat-PKW für die Wehrmacht beschlagnahmt wurden und in den Militäreinsatz gelangten, bevor man Zeit hatte, ihnen Armee-Nummernschilder zu verpassen.

Nur für den üblichen mattgrauen Anstrich hatte es noch gereicht. Bekanntlich hatte Frankreich nach dem deutschen Angriff auf Polen 1939 Deutschland zwar den Krieg erklärt, unternahm aber nichts, was dem militärisch schwachen Polen hätte helfen können.

Auf eine Kriegserklärung an Russland verzichtete man gleich ganz, obwohl die Sowjetunion fast zeitgleich in Abstimmung mit dem Deutschen Reich in Polen einfiel.

Der französische Volksmund nannte diese merkwürdige Phase des Nichtstuns „drôle de guerre“ – auf deutscher Seite war vom „Sitzkrieg“ die Rede, da man an der Grenze zu Frankreich kaum etwas zu tun hatte – während die Wehrmacht Polen besiegte und besetzte.

Das war ebenso unerwartet wie der anschließende Sieg der Wehrmacht über Frankreich im Sommer 1940 binnen weniger Wochen. Offenbar hatte man sich in Frankreich über die formale Kriegserklärung hinaus keinerlei Strategie gegen Deutschland überlegt.

So gab sich eine auf dem Papier – speziell im Hinblick auf Kampfpanzer – haushoch überlegene französische Armee der deutschen Offensive geschlagen, die von nur wenigen veralteten, aber hocheffektiv geführten Panzern geführt wurde.

Dass dieser für alle Beteiligten unerwartet ausgehende „Blitzkrieg“ überwiegend noch mit Vehikeln des 1. Weltkriegs durchgeführt wurde, wird oft übersehen. Hier haben wir eine typische Aufnahme, die nachrückende deutsche Kolonnen an der Westfront zeigt:

Hanomag „Rekord“, aufgenommen ab 1940; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Hanomag „Rekord“ der hier Unteroffizieren und einem Gefreiten als fahrbarer Untersatz dient, stellte die Ausnahme dar – den Großteil der Transportleistung erbrachten neben der Eisenbahn Pferdegespanne, wie schon im 1. Weltkrieg.

Der Hanomag war ein reines Zivilmodell, das zwar für seine außergewöhnlich solide Bauweise und die Nehmerqualitäten seiner Mechanik bekannt war, aber für den Militäreinsatz war er wie die meisten eingezogenen Zivil-PKW nur bedingt geeignet.

Daneben wurden jedoch auch auf Zivilmodellen basierende Kübelwagen eingesetzt, die zumindest von der Bodenfreiheit und Bereifung her eher für den harten Kriegseinsatz in Betracht kamen.

Hier haben wir – ebenfalls aufgenommen während des deutschen Westfeldzugs 1940 – einen Adler 3GD Kübelwagen (links), während rechts ein ehemals ziviler Mercedes zu sehen ist:

Deutsche Kolonne im Mai 1940 bei Hautmont; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Mit solchen zusammengewürfelten Fahrzeugen gelang der Wehrmacht im Sommer 1940 der unerwartete Sieg über Frankreich – in erster Linie Ergebnis moderner Führungsprinzipien, die entgegen dem Klischee vom deutschen Galgengehorsam nicht auf minutiös zu befolgenden Befehlen basierte, sondern flexibel auf die Situation vor Ort reagierende dezentrale Entscheidungen zuließen – auf französischer Seite undenkbar.

So kam es, dass man nach der raschen Kapitulation in Frankreich im Sommer 1940 unerwünschte deutsche „Besucher“ zur Kenntnis zu nehmen hatte.

In Paris etwa dominierten nun nicht mehr glänzende Citroens, Peugeots und Renaults das Straßenbild – die wurden rasch von der Wehrmacht einkassiert – sondern düstere deutsche Militärfahrzeuge wie auf dieser an der Place de la Concorde entstandenen Aufnahme:

Wehrmachtsfahrzeuge in Paris ab 1940; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die kleine Limousine im Vordergrund ist übrigens ein Simca 6CV – ein französischer Lizenznachbau des Fiat 508.

Auch dieses Auto wurde offenbar von der Wehrmacht beschlagnahmt – im Originalfoto erkennt man das Kürzel „WH“ (=Wehrmacht Heer) auf einem provisorisch hinter der Frontscheibe angebrachten Papier.

Die Besetzung Frankreichs bedeutete für Taxifahrer in der Hauptstadt, dass sie es häufig mit einer unerwarteten „Besatzung“ zu tun hatten – deutschen Soldaten, die in ihrer Freizeit die Sehenswürdigkeiten von Paris im Automobil „erfahren“ wollten.

Hier haben wir drei Unteroffiziersanwärter (noch im Gefreitenrang) der Wehrmacht, die sich wohl von einem Kameraden vor dem Taxi ablichten ließen, mit dem sie unterwegs waren:

Chevrolet Modelljahr 1938; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die eindrucksvolle Sechsfenster-Limousine mit moderaten aerodynamischen Elementen ließ sich als Chevrolet des Modelljahrs 1938 identifizieren.

Die Typbezeichnung lautete „Master Six“ – denkbar ist auch ein „Master DeLuxe“-Modell, das an Stoßstangenhörnern zu erkennen war, die man hier aber nicht sehen kann. Verbaut wurde ein 85 PS leistender 6-Zylindermotor mit kopfgesteuerten Ventilen (ohv).

Von den fast 500.000 Exemplaren dieses Chevrolet landeten auch einige in Europa – hier eines, das wohl als Taxi in Paris eingesetzt wurde. Den Fahrer mit Schirmmütze sehen wir übrigens neben der Motorhaube – von der Kamera abgewandt und eine Zigarette rauchend.

Mit einer solchen unerwarteten Besatzung seines Chevrolet musste sich der französische Fahrer wohl oder übel arrangieren, wollte er seine Verdienstquelle behalten. Wer eine Familie zu ernähren hatte, konnte sich den Luxus nicht leisten, sich in einen meist sinnlosen „Widerstand“ gegen eine überlegene Macht zu begeben.

Im Unterschied zu anderen von Deutschland im 2. Weltkrieg besetzten Gebieten kam Frankreich einigermaßen glimpflich davon.

Speziell Paris blieb dank des klugen Taktierens der deutschen Stadtkommandantur im August 1944 angesichts des Näherrückens der Alliierten ungeschoren, nicht zuletzt indem man die oft über Gebühr glorifizierte „Resistance“ in Schach hielt.

So muss man angesichts der unerwarteten deutschen Besatzung dieses Chevrolet ausnahmsweise kein reflexhaft schlechtes Gewissen haben…

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Auf dem Weg ins Ungewisse: Zwei Benz-Wagen von 1912

Vor einigen Jahren fand ich in einem Trödelladen in Neapel eine kleine Porzellanfigur aus den 1920er Jahren. Sie zeigte eine junge Frau mit dem typischen Bubikopf-Haarschnitt jener Zeit – ihre Augen waren mit einer goldenen Binde verdeckt.

Ich fragte den Verkäufer, was das bedeute. „Che il futuro e incerto“ – „Dass die Zukunft ungewiss ist.“ waren seine Worte. Das Figürchen kam daraufhin in mein Reisegepäck.

Das Thema der Ungewissheit beschäftigt mich jedes Jahr, wenn der Wind die letzten Blätter von den Bäumen fegt und die Natur für einige Monate in tiefen Schlaf verfällt.

Gestern noch schickte die Novembersonne einen wärmenden Gruß, doch oben am Himmel zogen die Kraniche in Formation von Nordosten kommend über die Wetterau – sie wissen instinktiv, wann die Zeit dazu gekommen ist.

Doch was mag uns die Zukunft bringen – oder auch bloß: Wie wird der Winter werden? Das ist ungewiss.

Auffallend viele Zeitgenossen beschäftigen sich zum ersten Mal seit dem Ende des Kriegs mit dem Szenario einer fatalen Stromknappheit, während in Deutschland ein grundlastfähiges Kraftwerk nach dem anderen vom Netz genommen wird.

„Wir schütten unsere Brunnen zu, ohne neue gegraben zu haben“, so formulierte es kürzlich ein Kraftwerkstechniker, der einst von den Schergen des totalitären „DDR“-Regimes auf’s Übelste drangsaliert wurde.

Scheinbare Selbstverständlichkeiten wie „Der Strom kommt aus der Steckdose“ könnten sich bei uns schon bald als Irrtum erweisen. Deutschland ist zunehmend von Stromimporten abhängig und verfügt ab Ende 2022 über keinerlei Reservekapazität mehr.

Eine verantwortungslose Politik, die keine Rücksicht auf die existenziellen Belange der Bevölkerung nimmt – nichts Neues in der deutschen Geschichte. Vor über 100 Jahren schaute auch dieser Mann angesichts des nahenden Winters dem Ungewissen entgegen:

Benz Chauffeurlimousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Im März 1916 wurde diese Aufnahme als Postkarte verschickt, doch wir dürfen davon ausgehen, dass das Foto noch vor Kriegsausbruch entstand.

Das darauf abgebildete Auto lässt sich als Benz von etwa 1912 ansprechen. Der recht kompakte Kühler spricht für eines der kleinen Modelle, die damals neben Mittelklassetypen und Hubraumriesen angeboten wurden.

Doch schon dieses Fahrzeug stellte einen unerhörten Luxus dar. Es handelt sich nämlich um eine Chauffeur-Limousine, die über ein seitlich offenes Fahrerabteil und einen dahinterliegenden geschlossenen Passagierraum verfügte.

Wer auch immer diesen Benz besaß, konnte sich also nicht nur irgendein Automobil leisten, sondern auch einen eigenen Fahrer. Diesen sehen wir auf dieser prächtigen Aufnahme und wir kennen sogar seinen Namen. Toni Reiter hieß er und er stammte aus München:

Wer nun meint, dass sich so einen doppelreihigen Mantel mit Pelzkragen doch gewiss nur der Besitzer des Benz leisten konnte, der irrt. Denn die Schirmmütze weist den ernst in die Ferne schauenden Mann als Angehörigen der Chauffeurs-Profession aus.

Wer genau hinsieht, erkennt in der gläsernen Trennwand zwischen Fahrer- und Passagierabteil eine runde Öffnung, durch die der Chauffeur seine Anweisungen von den Herrschaften empfing.

Mit dieser zwar dienenden, doch eine außergewöhnliche Qualifikation erfordernden Funktion ging ein weit höherer Status einher, als ihn der Großteil der in der Landwirtschaft, in Handwerksbetrieben oder Fabriken arbeitenden Bevölkerung besaß.

Toni Reiter gibt sich hier entsprechend selbstbewusst und er macht gute Figur dabei. Er ist der eher seltene Typ Mann, dem ein schneidiger Schnauzbart gut steht und dem man auch auf der Bühne oder im Stummfilm eine charakterstarke Rolle zutraut.

Was mag ihm durch den Kopf gegangen sein, als diese Aufnahme entstand? Wir wissen es nicht – bloß, dass er einer ungewissen Zukunft entgegensah. Bei Ausbruch des 1. Weltkriegs dürfte er als Kraftfahrer eingezogen worden sein – dann hätte er Glück gehabt.

Vielleicht fand er sich dann in einer Situation wie dieser wieder, die einen ganz ähnlichen Benz von ca. 1912 zeigt, hier jedoch eindeutig im militärischen Einsatz:

Benz Chauffeur-Limousine im 1. Weltkrieg; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Benz entspricht von Format und Ausführung weitgehend dem Wagen, den Toni Reiter einst chauffierte.

Jedoch war das ein Wagen, der zweifellos in Frontnähe unterwegs war – die vier auf dem Trittbrett angebrachten Karabiner sprechen eine eindeutige Sprache.

Auch die Männer neben dem Wagen – einige Mannschaftsdienstgrade, zwei Unteroffiziere und ein Offizier – wirken nicht so, als seien sie auf dem Weg zu einem harmlosen Weiterbildungskurs zum Thema „Gender Diversity“ oder was auch immer bei der trotz 35 Mrd.-Budget einsatzunfähigen Bundeswehr heutzutage en vogue ist.

Am Steuer des Benz sehen wir hier wieder einen schnauzbärtigen Fahrer – das könnte beinahe Toni Reiters „alter ego“ sein – jedenfalls ein Berufskamerad.

Von diesen sieben Männern waren bei Kriegsende statistisch betrachtet vermutlich zwei bis drei tot oder verstümmelt – wobei diese Quote bei deutschen Frontoffizieren besonders hoch ausfiel, die für gewöhnlich von vorne führten und sich den gleichen Gefahren aussetzten wie ihre Untergebenen.

Gewiss war ihnen zum Zeitpunkt der Aufnahme nur, dass ihr Weg sie einer ungewissen Zukunft entgegenführte, die nichts Gutes verhieß:

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In Treue fest bis ans Ende: Ein NSU 8/24 PS

Heute unternehme ich eine Reise zurück ins Jahr 1918 – kurz bevor der 1. Weltkrieg sein Ende fand. Ein treuer alter Kamerad wartet dort auf mich, der in Treue fest auf seinem Posten ausharrt, obwohl er bereits einige Jahre harten Dienst geleistet hat.

Dieser verlässliche Begleiter durch dick und dünn hatte 1913 oder 1914 – ganz genau weiß ich es nicht – eine vielversprechende zivile Karriere begonnen, die dann mit Kriegsausbruch ein jähes Ende fand.

Doch im Unterschied zu zahllosen Gefährten, die früher oder später ihr Ende auf dem Schlachtfeld fanden, kam er ohne größere Blessuren durch. Vielleicht hatte er das Glück, dass er hinter den Linien als Kurier diente, gut gehalten hat er sich jedenfalls:

NSU 8/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Diesen Abzug sandte mir kürzlich Sammlerkollege Matthias Schmidt aus Dresden zu, nachdem ich einen Blog-Eintrag zu einem auf den ersten Blick recht ähnlichen Phänomen-Wagen verfasst hatte.

Tatsächlich könnte man den Wagen von der Kühlerform her für einen Phänomen halten. Das Markenemblem ist hier grau überlackiert und nicht ansatzweise erkennbar – vielleicht fehlt es sogar ganz.

Der Wagen erinnerte ich sogleich an ein ganz ähnliches Fahrzeug auf einen meiner Fotos, bei dem das Emblem zwar ebenfalls überlackiert worden war, aber der Grundform nach noch einigermaßen erkennbar war (zumindest auf dem Originalabzug):

NSU 6/18 PS oder 8/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese ebenfalls im 1. Weltkrieg entstandene Aufnahme zeigt einen NSU Tourenwagen der ab 1911/12 gebauten Typen 6/18 PS bzw. 8/24 PS. Die beiden Motorisierungsversionen waren äußerlich kaum voneinander unterscheidbar, sieht man von den etwas unterschiedlichen Dimensionen ab.

Beide Modelle hatten ihre Zuverlässigkeit unter Kriegsbedingungen rasch unter Beweis gestellt und wurden ab 1914 fast nur noch für den Bedarf des Militärs produziert.

Dieses Exemplar war der preußischen Armee unterstellt, wie das Wappen auf der Seite des Wagens erkennen lässt, in dem mit sich selbst zufrieden ein Unteroffizier am Lenkrad sitzt:

Auf diesem Ausschnitt ist übrigens mit etwas gutem Willen der NSU-Schriftzug auf der Nabenkappe des Vorderrads zu entziffern. Nachdem Phänomen als Hersteller wegfällt, bleibt die Frage, ob sich der genaue Typ ermitteln lässt.

Nun, hier wirkt der Wagen recht groß, was für den 30 cm längeren NSU 8/24 PS und gegen das Modell 6/18 PS spricht. Die Frage ist jedoch, ob der Eindruck besonderer Größe bloß dadurch entsteht, dass der Fahrer womöglich eher kleingewachsen war.

Stutzig machen mich nämlich die gasbetriebenen Positionsleuchten beiderseits der Frontscheibe. Der Typ 8/24 PS war laut Literatur (Klaus Arth: NSU Automobile, Verlag Delius-Klasing) mit elektrischen Positionsleuchten ausgestattet – ob serienmäßig oder nur optional, ist der Formulierung nicht ganz eindeutig zu entnehmen.

Betrachten wir zwecks weiterer Überlegungen das Maß des jungen Kraftfahrers – des eigentlichen Herrn dieses NSU – der hier die typische Ledermontur und auf die Zugehörigkeit zur Kraftfahrertruppe hinweisende Kragenembleme in Autoform trägt:

Der junge Bursche, der uns ein wenig melancholisch anschaut, wirkt hier doch recht groß, nicht wahr?

Nun, nehmen wir einmal Maß, um diesen Eindruck zu überprüfen. Dazu eignet sich aus dieser Perspektive das Reifenformat, das 750 x 85 beim NSU 6/18 PS und 810 x 100 beim Typ 8/24 PS betrug. Der Außendurchmesser der Reifen betrug als 75 bzw. 81 cm.

Mit dem Lineal lässt sich näherungsweise ermitteln, dass der Fahrer etwas mehr als doppelt so groß war, wie es dem Reifendurchmesser entsprach. Dann wäre er lediglich etwas mehr als 1,50 Meter groß gewesen, hätte er neben einem NSU 6/18 PS gestanden – sehr unwahrscheinlich.

Unterstellt man den Typ 8/24 PS, landet man bei etwa 1,65 Meter – für Männer in vielen Regionen des damaligen Deutschlands ein normaler Wert. Nur diese Überlegung rechtfertigt aus meiner Sicht die Ansprache des Wagens als NSU Typ 8/24 PS.

Das parallel verfügbare, nochmals größere Modell 10/30 PS würde ich ausschließen, zumal es weit seltener blieb und noch eher elektrische Positionslichter erwarten ließe.

Viel mehr lässt sich aus meiner Sicht nicht zu dem wackeren NSU sagen, der über die Jahre des Kriegs „in Treue fest“ zu seinen zweibeinigen Kameraden gehalten hat. Tatsächlich ist dieses Attribut sogar auf seinem Kennzeichen festgehalten, das mit „Fest.“ beginnt.

Die tatsächliche Bedeutung ist indessen einem handschriftlichen Vermerk zu entnehmen, der verblasst in der linken unteren Ecke des Abzugs oberhalb der Jahreszahl zu sehen ist:

Ich meine dort „Festung St…“ zu lesen – kann jemand den ganzen Namen entziffern? An diesem bislang noch unbekannten Ort harrten die beiden Soldaten und ihr NSU „in Treue fest“ vielleicht bis zum nahenden Ende des Kriegs aus.

In den Gewölben im Hintergrund, die mit Bretterwänden notdürftig gegen feindliche Aufklärer oder Granatsplitter gesichert waren, könnten weitere Fahrzeuge gestanden haben, dort hätte dann auch der NSU seine Unterkunft gehabt.

Auch wenn es im vorliegenden Fall nicht perfekt gelungen ist, will ich zum Schluss zumindest den eindringlichsten Ausschnitt dieser Aufnahme mit etwas Farbe näher zu uns ins 21. Jahrhundert bringen:

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Ein Kind von Traurigkeit: Protos G-Typ

Wer in meinem Blog schon eine Weile mitliest, weiß: Mir sind die historischen Fotos von Vorkriegsautos die liebsten, die Automobile im Gebrauchtzustand und zusammen mit den Menschen zeigen, die sie einst besaßen, bewunderten oder umgaben.

Von wenigen Ausnahmen abgesehen ist für mich nichts fader als ein gerade fertiggestelltes Automobil, das ein mehr oder minder begabter Werksfotograf in belangloser Umgebung zu Dokumentationszwecken ablichtete.

Doch darauf bezieht sich der Titel meines heutigen Blog-Eintrags „Ein Kind von Traurigkeit“ nicht direkt. Tatsächlich können selbst professionelle Fabrikaufnahmen großartige Dokumente vergangenen Lebens sein wie dieses hier:

Protos Typ G1 oder G2; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Fotografie entstand einst (vermutlich) in der sogenannten Fertigmacherei – der Abteilung, in der die letzten Arbeiten an neuen Automobilen erledigt wurden, bevor sie auf den Weg zum Käufer gingen.

Wie die Gestaltung der Kühlerpartie verrät, haben wir es mit Wagen der Berliner Marke Protos zu tun, die auf etwa 1912 zu datieren sind. Protos stellte damals in diesem kompakten Format die Vierzylindertypen G1 und G2 mit 18 bzw. 21 PS her.

Dass es sich um eher frühe Exemplaren dieser bis 1914 gebauten Modelle handelt, mache ich am steilen Anstieg des Windlaufs zwischen Motorhaube und Frontscheibe sowie an den noch recht filigranen Vorderkotflügeln fest.

Gegen eine Entstehung bereits im ersten Baujahr des Typs G1 bzw. G2 (1910) sprechen meines Erachtens die elektrischen Positionsleuchten im Windlauf, sie tauchen erst später auf. Das Foto habe ich übrigens bereits vor einigen Jahren ausführlich besprochen (hier).

Heute möchte ich eine Aufnahme vorstellen, die einen ganz ähnlichen Protos zeigt, der jedoch noch keine elektrischen Positionsleuchten, sondern gasbetriebene besaß. Dabei spielt der Wagen jedoch nur eine Nebenrolle, weit interessanter ist die Gesamtsituation:

Protos Typ G um 1911; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme ist zwar gestochen scharf, doch bleibt für mich ein wenig rätselhaft, was darauf festgehalten ist – und genau das macht sie so faszinierend.

Der halb ins Bild hineinragende Protos G-Typ ist so raffiniert integriert, wie ich das bei einem derartig frühen Foto kaum je gesehen habe. Die exaltiert gestalteten Gaslampen an der Front sowie beiderseits des Windlaufs deuten eher auf ein sehr frühes Exemplar von 1910/11 hin als ein späteres.

Auszuschließen ist freilich nicht, dass die Beleuchtungsausstattung Kundenwünsche widerspiegelte, zumal dabei auf zugelieferte Teile zurückgegriffen wurde. Ab Werk wurden die Wagen vor dem 1. Weltkrieg bisweilen noch ganz ohne Scheinwerfer ausgeliefert.

Spannender ist indessen die Frage, wann und bei welcher Gelegenheit die Aufnahme entstand. Die Rotkreuzfahne an dem Wagen spricht für eine militärische Verwendung des Autos, wahrscheinlich als Arztwagen.

Leser Klaas Dierks (nebenbei in militärischer Hinsicht bewandert, speziell, was den 1. Weltkrieg angeht), vermutet, dass wir hier eine Manöversituation im Raum Berlin/Brandenburg um 1911 vor uns haben, bei der Teilnehmer zivilen Besuch empfangen konnten.

Es scheint so, dass man illustrieren wollte, dass Verwundete mit mehr als nur improvisierter Versorgung rechnen konnten und dass dafür auch private Automobile (insbesondere von Mitgliedern des Kaiserlichen Automobil-Clubs) eingesetzt würden.

Die tatsächlichen Verhältnisse an der Front, die vom massenhaften Einsatz von Maschinenwaffen und Artillerie geprägt war, konnte man den Leuten nicht zumuten.

Die beiden Soldaten waren Unteroffiziere (vermutlich eines Garde-Regiments mit Standort im Raum Berlin). Die umgehängten Ferngläser deuten daraufhin, dass diese Männer im Manöver Beobachtungsaufgaben wahrnahmen:

Was mich an diesem Foto berührt – und ich kann mir vorstellen, dass es Ihnen, werte Leser, ebenso geht – ist das kleine Mädchen, das zwischen den beiden ernst dreinschauenden Soldaten zu sehen ist.

Natürlich sieht man selten auf dermaßen frühen Fotografien bewegte Gesichter – je nach Lichtverhältnissen galt es einige Sekunden stillzuhalten und nur wenigen Menschen ist es gegeben, über eine solche Zeitspanne spontan und gut aufgelegt zu wirken.

Doch meinen Sie nicht auch, dass dieses Mädchen ein „Kind von Traurigkeit“ repräsentiert, so als schaue sie in die Zukunft und sehe nicht als das blanke Grauen?

Zum Zeitpunkt der Aufnahme mag sie gerade die Grundschule besucht haben und vielleicht waren die Soldaten sogar Verwandte von ihr, welche die Familie anlässlich einer Übung mit dem eigenen Automobil besucht hatte.

Gut zwanzig Jahre später mag sie im Zweiten Weltkrieg als junge Frau eine der Rotkreuz-Schwestern gewesen sein, die dann das Elend der Verwundeten nach Kräften zu lindern suchten. Tat sie an diesem Tag vielleicht einen Blick in ihre eigene Zukunft?

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Hier stimmt doch etwas nicht: Ein 1937er „DeSoto“

„Hier stimmt doch etwas nicht“ – das ist der Wahlspruch aller Skeptiker, die dem schönen Schein und selbst dem geschriebenen Wort nicht trauen.

Mit kritischem Blick und eigenem Urteil liegt man oft genug richtig – nicht nur bei den Biografien deutscher Politiker, unter denen sich immer mehr Berufslose, Studienversager, Promotionsvortäuscher und Kompetenzsimulanten zu tummeln scheinen.

Dass etwas mit dem scheinbaren Format nicht stimmt, trifft auch auf manches historische Vehikel zu, welches sich bei näherer Betrachtung als Mogelpackung erweist.

Auf folgendem Foto deutet auf den ersten Blick alles auf eine Herkunft aus dem Kölner Fordwerk hin – doch hinter der Fassade des fröhlichen Rheinländers verbirgt sich ein schlichter Charakter:

Ford „Taunus“ auf VW Kübelwagen-Chassis; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

„Hier stimmt doch etwas nicht“ – sagt der kritische Betrachter, der sich von der zeitgemäß wirkenden Oberfläche mit internationalem Touch nicht blenden lässt.

Dieser vermeintliche Ford-Buckeltaunus rollte nämlich einst auf der Ruine eines Wehrmachts-Kübelwagens. Jemand hatte das Chassis, welches sonst niemand mehr wollte, nach 1945 mit einem zeitgemäß wirkenden Aufbau versehen.

In diesem Fall von „Mehr Schein als Sein“ verweist die nachträglich angesetzte Ansaughutze am Hinterteil auf einen Heckmotor und die volkswagentypischen Felgen bestätigen die Resteverwertung aus Heeresbestand.

Anerkennung verdient freilich die Kreativität, mit der diese an sich unmögliche Kombination kurz nach Kriegsende zum Leben erweckt wurde und einen dankbaren Abnehmer fand.

Einige Jahre früher anzusiedeln ist eine andere Aufnahme, die ich erst kürzlich für sehr kleines Geld erwarb, da hiermit wohl die wenigsten Sammler etwas anfangen können:

DeSoto Exportversion von 1937; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ich bin mir sicher, dass auch abgebrühte Vorkriegs-Enthusiasten keine Vorstellung davon haben, was für ein Wagen hier abgelichtet ist. Insofern ist der skeptische Blick des Sanitätsunteroffiziers der deutschen Luftwaffe neben dem Auto geradezu symptomatisch.

Sicher werden die meisten noch auf ein US-Modell tippen, das den deutschen Streitkräften im Zuge des Westfeldzugs ab 1940 in die Hände gefallen war und welches dem eigenen Kraftfahrzeugpark einverleibt wurde.

Bestätigt wird dies ja auch durch den Schriftzug der amerikanischen Marke „DeSoto“, der sich gleich zweimal am Vorderwagen findet – einmal vertikal zwischen den beiden Hälften des Kühlergrills und einmal horizontal auf den seitlichen Luftschlitzen.

„Hier stimmt doch etwas nicht“, stellt man jedoch alsbald fest, wenn man nach einem entsprechenden Wagen dieser Marke aus dem Chrysler-Konzern sucht.

Keiner der im Netz oder in der Literatur abgebildeten DeSoto-Typen der 1930er Jahre scheint einen solchen, sich über die volle Höhe des Vorderwagens erstreckenden und oben abgerundeten Kühler aufzuweisen.

Der Skeptiker und Selberdenker wird jedoch irgendwann für seine Zweifel belohnt, nämlich dann, wenn er die eigentliche Substanz dessen erfasst, was ihm als Blendwerk vorkommt.

Im vorliegenden Fall haben wir es nämlich mit einer speziellen Exportversion für Europa zu tun, die im Modelljahr 1937 vom Chrysler-Konzern unter der gehobenen Marke DeSoto hergestellt wurde, hinter der sich aber im wesentlichen ein braver Plymouth verbarg.

Dieser DeSoto SP „Six“ verfügte über den seitengesteuerten 3,3 Liter-Motor des Plymouth P3 bzw. P4, welcher rund 80 PS leistete. Interessant an dem Modell sind neuartige Sicherheitselemente für die Passgiere sowie das erstmalig verbaute Ganzstahldach.

Was mag unser Luftwaffensoldat einst von diesem Beutefahrzeug gehalten haben? Sein Blick ist jedenfalls skeptisch:

„Tolles Auto, das ich jetzt für den Staffelführer in Schuss halten darf. Aber hier stimmt doch etwas nicht – wie können die dekadenten Amerikaner bloß soviele hervorragende Wagen bauen und auch noch haufenweise für den Export nach Europa übrighaben?“

Tatsächlich entstanden 1937 „nur“ rund 75.000 DeSotos, aber die Schwesterfirma Plymouth brachte es im selben Jahr auf eine halbe Million PKW. Die seinerzeit einzigartige Leistungsfähigkeit der US-Industrie sollte wenige Jahre später kriegsentscheidend sein.

Dass das einst – je nach Perspektive – weltweit geachtete oder gefürchtete Deutschland seinen Zenit längst überschritten hat, das wird dem skeptischen Zeitgenossen auch in unseren Tagen an mehreren Fronten vor Augen geführt.

„Hier stimmt doch etwas nicht“, mag man denken, was Anspruch und Wirklichkeit im „reichen Deutschland“ angeht, ob Bildungswesen, Infrastruktur, Vermögen der Bürger, innere Sicherheit oder – ganz aktuell – Krisenbewältigungskompetenz…

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Mut zur Lücke – ein Phänomen Typ 14/35 PS

Mut zur Lücke – das gilt für jeden, der sich mit Vorkriegsautomobilen beschäftigt, speziell mit frühen deutschen Exemplaren aus der Zeit bis etwa 1920.

Angesichts der Lückenhaftigkeit und Vorläufigkeit aller Erkenntnis kann man zweierlei Schlüsse ziehen – entweder man schiebt das, was man mitzuteilen hat, bis zum Sankt-Nimmerleinstag auf, oder man lässt vom Stapel, was man aus den bislang vorliegenden Informationen zusammenzimmern konnte.

Ob sich das Konstrukt als einigermaßen tragfähig erweist, wird sich im Lauf der Zeit schon zeigen – Hauptsache, man kommt erst einmal heraus aus der Werft und verliert sich nicht im Nachzählen der Nieten im Rumpf oder in der Wanddekoration der Kapitänskajüte.

Man muss nämlich auch einmal mit dem arbeiten können, was man aktuell hat, um vorwärtszukommen – wie diese Herrschaften, die 1937 auf „Nordlandreise“ gingen:

vermutlich Adler-Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Was nun den Stand der zeitgenössischen Literatur zu deutschen Vorkriegswagen angeht, scheint nach einer Phase der Produktivität in den 1970/80er Jahren der diesbezügliche Elan erlahmt zu sein.

Das liegt bestimmt nicht an mangelnden Informationen und Dokumenten wie Prospekten, Reklamen, Zeitschriftenartikeln oder Fotografien. Ausnahmen wie Michael Schick („Steiger“-Wagen) oder Werner Schollenberger („Röhr“-Automobile“) haben gezeigt, was möglich ist, wenn man den Willen und die Disziplin besitzt, auch einmal fertigzuwerden.

„Aber so ein Buch zu einer Nischenmarke lohnt sich doch nicht“, hört man immer wieder. Als ob es auf den finanziellen Ertrag ankäme! Einigermaßen kostendeckend zu produzieren, ist übrigens mit Digitaldruck im Eigenverlag durchaus möglich, aber nicht entscheidend.

Der Vater einer verblichenen Liebe pflegte zu sagen: „Ein Hobby, das nichts kostet, taugt nichts“. So verhält es sich. Denn die Beschäftigung mit dem alten Blech ist ein bloßes Hobby, keine Wissenschaft und keine Kunst, auch wenn das mancher gern anders sehen würde. Man muss schon selbst etwas darin investieren, wenn es noch etwas werden soll.

Es ist kulturgeschichtlich wie intellektuell vollkommen unerheblich, die letzten Winkel der deutschen Automobilgeschichte zu beleuchten – in ein, zwei Generationen interessiert das wahrscheinlich niemanden mehr, wenn der Abbruch unserer Kultur so weitergeht.

Aber noch gibt es einen Haufen Zeitgenossen, die Feuer und Flamme für die alten Kisten sind – und wer ihnen etwas zu bieten hat, soll das verdammt nochmal nicht für sich behalten.

Ich selbst habe als privater Blogger und Besitzer einiger wenig prestigeträchtiger Fahrzeuge zwar inhaltlich meist wenig beizutragen, aber die Fotos und Dokumente meiner Sammlung (und aus der befreundeter Enthusiasten) kann ich herzeigen und damit vielen Gleichgesinnten signalisieren: Die Welt von gestern lebt, solange wir Freude daran haben.

Genug der Vorrede – denn heute präsentiere ich ein Beispiel dafür, dass selbst ein vermeintlich ordinäres Foto aus der Zeit des 1. Weltkriegs eine Neuigkeit bergen kann:

Phänomen 14/35 PS Tourenwagen; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

„Gut“, mag jetzt einer sagen, „einer von vielen Tourern, die von Phänomen aus Zittau an das deutsche Heer geliefert wurden – meist mit Motorisierung 10/28 bzw. 10/30 PS“.

Tatsächlich habe ich schon einige solcher Exemplare hier im Blog präsentiert und in meine allmählich wachsende Phänomen-Galerie eingereiht.

Auch ist die Ansprache dieses Wagens denkbar einfach, denn auf diesem über 100 Jahre alten Foto (aus Sammlung Klaas Dierks) kann man selbst in der eingescannten und datenreduzierten Version den Markennamen auf dem Kühler lesen.

Der Kühler selbst ist von der Form her zwar markant, aber nicht einzigartig. Praktisch dieselbe Birnen- oder Ei-Form mit mittigem Abwärtsschwung der Kühlereinfassung findet sich damals bei NSU-Wagen. Umso besser, dass der Schriftzug lesbar ist:

„Moment einmal“, wird jetzt der Phänomen-Kenner einwenden. „Da steht ja 14/35 PS rechts neben dem Markenemblem, von dieser Motorisierung ist doch gar nichts überliefert.“

So scheint es, zumindest wenn man die Klassiker von Heinrich v. Fersen bzw. Halwart Schrader zu deutschen Autos der Zeit von 1885 bis 1920 oder auch „Pioniere des Automobils an der Neiße“ (Zittauer Geschichsblätter) zugrundelegt.

Dort findet man die bereits erwähnten Typen 10/28 bzw. 10/30 PS, außerdem wird ein großes 16/45 PS-Modell für die Zeit vor dem 1. Weltkrieg genannt. Dazwischen tut sich freilich eine unübersehbare Lücke auf, die andere Hersteller wie Adler und Opel füllten.

Genau das scheint auch Phänomen aus Zittau getan haben, bloß findet man in der Literatur nichts dazu – jedenfalls nicht nach meinem Kenntnisstand. Wer es besser weiß, möge das unter Quellenangabe über die Kommentarfunktion kundtun. Ich lerne stets gern dazu, denn auch für diese meine Hobby-Website gilt: Mut zur Lücke…

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Volle Pulle? Volle Kanne! Citroen C6 „Grand Luxe“

Die deutsche Sprache gilt gemeinhin als schwierig und wird von vielen gefürchtet.

Das gilt nicht nur für europäische Nachbarn, die das teutonische Idiom meiden, wo es nur geht (die Niederländer ausgenommen), sondern scheint – nach allem, was man so hört und liest – auch auf weite Teile des politischen „Führungs“personals hierzulande zuzutreffen.

Beispiele für peinliches Gestammel und sinnfreies Daherplappern fallen Ihnen vermutlich selbst ein, sodass ich mir Namen sparen kann. Ob ein Intelligenzmangel ursächlich ist oder die Absicht, nicht festgenagelt werden zu können, hängt vom Einzelfall ab.

Dabei bietet gerade das volkstümliche Deutsch reichlich Möglichkeiten, geradeheraus und allgemeinverständlich zu reden – ein Meister solcher lebendiger Sprache war Martin Luther. Aus dem Alltag unserer Altvorderen haben sich einige prächtige Relikte erhalten, über deren ursprünglichen Sinn man beim Gebrauch kaum mehr nachdenkt.

Sicher kann jeder in Bezug auf Automobile etwas mit dem Begriff „volle Pulle“ anfangen – quasi eine Vulgärvariante zu „Vollgas“. Aber die Herkunft dürfte überraschen: Denn „volle Pulle“ scheint aus der Seefahrt zu stammen und maximalen Rudereinsatz zu bedeuten.

„Pullen“ ist bei unseren Landsleuten an der Waterkant jedenfalls ein Synonym für Rudern, wie so oft besteht hier eine enge Verwandschaft zum Englischen.

Dann gibt es noch „volle Kanne“ – ein Begriff, der auf alle möglichen Tatbestände angewendet werden kann – meist im Sinne von „maximal“. Die Umgangssprache kennt zahllose Situationen, in denen „volle Kanne“ Anwendung findet, wobei der Ursprung tatsächlich eine volle Kanne eines Getränks (meist alkoholischer Qualität) ist.

„Volle Pulle braucht volle Kanne“ – so könnte nach dieser Vorrede der Titel zu diesem Foto aus dem 2. Weltkrieg lauten:

Citroen Typ C4 oder C6 „Grand Luxe“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sehen wir drei Unteroffiziere der deutschen Wehrmacht im besetzten Frankreich „unterwegs nach Cambrai“ mit einem beschlagnahmten Zivilauto.

Am Steuer sitzt ein Kamerad, der gern „volle Pulle“ weiterfahren würde, doch offenbar ist erst eine „volle Kanne“ Kühlwasser erforderlich, die man vermutlich unterwegs spontan beschaffen musste, als die Temperaturanzeige des Wagens bedrohlich zu klettern begann.

Was für ein Auto ist das aber, das hier eine „volle Kanne“ Wasser verabreicht bekommt, bevor es „volle Pulle“ weiter ans befohlene Ziel Cambrai in Nordfrankreich geht?

Die Kühlerform deutet auf einen Citroen der Typen C4 bzw. C6 hin, die mit Vier- bzw. Sechszylindermotor zwischen 1928 und 1932 gebaut wurden. Allerdings weichen die seitlichen Luftklappen vom üblichen Schema (mit schmalen Schlitzen) ab.

Wenn ich es richtig sehe, haben wir hier die gehobene Ausstattungsvariante „Grand Luxe“ vor uns, die es äußerlich weitgehend identisch für beide Modelle (C4 und C6) gab. Vielleicht kann ein markenkundiger Leser es noch genauer sagen.

An sich passten solche alten Wagen nichts ins „Beuteschema“ der Wehrmacht nach der Besetzung Franreichs im Sommer 1940. Es mag der hervorragende Ruf von Citroen gewesen sein, der dazu führte, dass man auch ältere (aus Produktion im Kölner Werk bekannte) Typen für geeignet befand, zumindest fernab der Front Dienst zu schieben.

Dazu passt auch das Erscheinungsbild zumindest zweier der hier abgebildeten deutschen Soldaten, die vielleicht schon im 1. Weltkrieg als junge Burschen in Frankreich eingesetzt worden waren und das Glück gehabt hatten, der Knochenmühle lebend zu entgehen:

Man kann sich vorstellen, wie die beiden Veteranen dem jüngeren Kameraden beim Einfüllen frischen Kühlwassers Ratschläge geben: „Nicht so zaghaft, der Wagen braucht ’ne volle Kanne, dann geht er auch wieder volle Pulle – ist bei uns übrigens genauso…“

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Für feldtauglich befunden: NSU von 1912

Heute unternehme ich wieder einmal einen Ausflug in die Frühgeschichte von NSU – aber nicht auf dem Feld der heute noch wohlbekannten Zweiräder.

Ins Feld geht es dabei zwar auch, aber mit vier Rädern und das bereits vor weit über 100 Jahren, was für manchen Freund von NSU-Nachkriegsklassikern wie „Prinz“ und „RO 80“ eine Überraschung sein mag.

1905 hatte NSU damit begonnen, die ausgezeichneten Wagen der belgischen Marke „Pipe“ in Lizenz zu bauen. Doch parallel dazu entwickelte NSU einen kompakteren Vierzylinder mit 1,3 Litern Hubraum – den Typ 5/10 PS.

Aus dieser ganz frühen Eigenproduktion von NSU stammte der flotte Zweisitzer, den einst ein Dr. Eckard aus Bielstein (Bergisches Land) zu Patientenbesuchen fuhr:

NSU Zweisitzer, 1906-08; Foto aus einer Publikation des Heimatvereins Bielstein (via Walter Ruland)

Die charakteristische Form des Pipe-Kühlers hatte NSU bei diesen und allen weiteren Modellen übernommen.

Anfänglich schmückte ein annähernd ovales Emblem mit einer Geweihhälfte das Kühleroberteil, welches ansatzweise auch auf folgender Reklame von 1910 zu erkennen ist. Es scheint 1911 zuletzt Verwendung gefunden zu haben:

NSU-Reklame aus „Braunbecks Sportlexikon“, 1910

Ab 1912 jedenfalls findet man ein neues Markenemblem mit annähernd runder Grundform, das vom Schriftzug „NSU“ ausgefüllt wurde (siehe hier).

Der folgender Tourenwagen (Foto von Leser Klaas Dierks) vereint beide Elemente – die von Pipe entlehnte Kühlerform und das neue Markenemblem – hier jedoch in Wagenfarbe überlackiert, denn wir haben es mit einem vom Militär eingesetzten Fahrzeug zu tun:

NSU Tourenwagen von 1912; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Diese Herren scheinen mit der Feldtauglichkeit des NSU zufrieden zu sein – für sie war die Zeit des Marschs per pedes, zu Pferde oder mit dem Planwagen vorbei – im 1. Weltkrieg das Privileg eines nur kleinen Teils der Millionenheere bei allen Kriegsparteien.

Das Aufnahmedatum ist zwar nicht bekannt, aber zumindest das Auto lässt sich sehr genau datieren. Dass das neue Kühleremblem ab 1912 Standard war, hatte ich bereits erwähnt (es findet sich aber auch bereits vereinzelt 1911). Bekannt ist daneben, dass 1913 eine neuer ovaler Kühler Einzug bei NSU hielt.

Demnach ist dieser von deutschen Soldaten genutzte NSU sehr wahrscheinlich 1912 entstanden. Dazu passt ganz ausgezeichnet diese schöne zeitgenössische Reklame, die das zivile und das militärische Element auf sehr geglückte Weise verbindet:

NSU-Reklame von ca. 1912; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Formal unterscheidet sich der Tourenwagen auf dieser Reklame kaum von jenem auf dem Foto von Klaas Dierks – allerdings deuten die unterschiedlichen Proportionen auf eine abweichende Motorisierung hin.

1912 hatte NSU im wesentlichen Antriebe in drei Größenklassen im Angebot: Abgedeckt wurden die Steuer-PS-Klassen 5-6, 8-9 und 10-13. Damit waren Höchstleistungen zwischen 11 und 40 PS verbunden, verteilt auf sieben Modelle.

Die ganz kleinen (vorwiegend als Zweisitzer gebauten) Typen und die ganz großen Ausführungen mit Radständen von deutlich über drei Metern darf man ausschließen.

Am ehesten in Betracht kommen aus meiner Sicht die Tourerausführung des NSU 6/18 PS und der sich rasch etablierende neue mittlere Typ 8/24 PS, der bis 1915 gebaut wurde.

Genauer wird man es wohl nicht mehr ermitteln können, aber so oder so dürften die in Frage kommenden NSU-Wagen von 1912 bei der Musterung durch das Militär als uneingeschränkt tauglich abgeschnitten haben.

Bilder vom tatsächlichen Kriegseinsatz findet man allerdings meist nur von NSU-Wagen mit dem 1913 eingeführten birnenförmigen Kühler.

Vielleicht war diesem schon etwas älteren Exemplar auch ein eher ruhiger Dienst hinter der Front vergönnt – jedenfalls wirkt hier vom Mattgrau des Wagens abgesehen alles noch recht idyllisch (die Uniformjacken der Soldaten sind etwas farbenfroh geraten, das konnte ich auf die Schnelle nicht korrigieren):

Nachtrag von Leser Klaas Dierks: Der NSU war dem Immobilen Kraftwagen-Depot No 7 (Untertürkheim) bereitgestellt und diente wohl in einer Ersatz-Abteilung (EA) in der Heimat, da der Wagen ein Kennzeichen des stellvertretenden XIII. Armeekorps führte.

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Vor 100 Jahren schon ein Veteran: Audi-Lieferwagen

Der Titel meines heutigen Blog-Eintrags mag in doppelter Hinsicht stutzig machen:

Veteranen gab es doch bereits vor 2.000 Jahren in Rom – das waren Soldaten, die 20-25 Jahre Dienst absolviert hatten und eine Abfindung, ein Militärdiplom und – sofern sie aus den Provinzen stammten – das begehrte römische Bürgerrecht erhielten.

Vor 100 Jahren indessen konnte der Veteranenstatus weit schneller erreicht werden – wenn man nämlich als Soldat am 1. Weltkrieg teilgenommen und das Ganze überlebt hatte.

Schön, aber wie passt ein Lieferwagen von Audi in diesen Kontext – gab es das denn damals überhaupt? Nun, das Wunderbare an den frühen Automobilen ist ja, dass man fast täglich auf’s Neue überrascht wird, was es alles gab.

Weil die Frühgeschichte der Marke Audi nicht jedem geläufig sein dürfte, hier das Nötigste in Kürze: Der erste Audi erschien 1910 und war ein Modell, das August Horch nach Verlassen seiner gleichnamigen Firma unter vermeintlich neuem Namen (audi = lat. horch) konstruiert hatte.

Auf dieses 10/22 PS-Modell A folgten schon im Folgejahr die Typen B 10/28 PS, C 14/35 PS und D 18/45 PS. Da Audi keine eigenen Karosserien herstellte, sah kaum ein Wagen wie der andere aus, nur an der Kühler- und Haubenpartie war die Marke zu erkennen.

Diese veränderte sich in den Jahren bis zum 1. Weltkrieg laufend im Detail, was die Ansprache der genauen Typen schwierig macht. Hinzu kommt, dass meist nur geringe Stückzahlen der einzelnen Modelle entstanden, von denen kaum welche überlebt haben.

Daher ist jedes „neue“ Foto eines dieser frühen Audis ein interessanter Fund, selbst wenn die technische Qualität wie im vorliegenden Fall nicht die beste ist:

Audi Typ B oder C; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Diese Aufnahme ist vermutlich in den ersten Jahren des 1. Weltkriegs entstanden, als auf deutscher Seite noch die traditionelle Pickelhaube getragen wurde – hier von einem Soldaten hoch zu Pferde.

Automobile waren damals bei allen Kriegsparteien noch die Ausnahme, die Hauptlast des Transports leisteten – neben der Eisenbahn – Pferdegespanne. Speziell für das Militär entwickelte Personenwagen gab es nicht, es wurden durchweg Zivilautos eingesetzt.

Das ist auch bei dem Wagen auf diesem Foto der Fall – eindeutig ein Audi, wie am Kühler mit in das Kühlernetz hineinragender Markenplakette zu erkennen ist. Von den Dimensionen her dürfte es sich um einen Typ B oder C gehandelt haben – der stärkere Typ D und das noch 1914 eingeführten Spitzenmodell E 22/55 PS waren deutlich größer.

Beim ebenfalls 1914 eingeführten kleinen Typ G 8/22 PS war die Frontpartie moderner gestaltet. Von den genannten mittelstarken Audi-Modellen B und C gab es bereits ab 1912/13 auch Nutzwagenvarianten – die Typen Bt und Ct.

Dabei wurde in ein verlängertes und stärker gefedertes Chassis einer der beiden Motoren mit 28 bzw. 35 PS eingebaut. Am häufigsten war die Variante Ct 14/35 PS, die bis in die 1920er Jahre weitergebaut wurde – hier haben wir wahrscheinlich ein Exemplar davon:

Audi Typ Bt oder Ct Lieferwagen; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Auch diese ungewöhnliche Aufnahme aus idealem Winkel verdanken wir – wie das eingangs gezeigte Foto – der Großzügigkeit von Leser Klaas Dierks, dessen Sammlung zu den wertvollsten Quellen meines Blogs gehört.

Ein vergleichbares Dokument lässt sich in der mir bekannten Literatur kaum finden. Nur ein ähnlicher Audi-Planwagen ist im Standardwerk „Audi-Automobile 1909-45“ (Kirchberg/Hornung, 2. Auflage, 2015, S. 54) abgebildet.

Dieser besitzt im Unterschied zu dem Audi auf dem vorliegenden Foto jedoch Holzspeichenräder. Drahtspeichenräder gab es laut Literatur nur beim Typ Ct 14/35 PS als Alternative. Damit lassen sich auch die schwereren Lastwagentypen F und H ausschließen – sie konnten 1,5 bis 2 Tonnen transportieren und waren nur mit Holzspeichenräder erhältlich.

Die Details der Frontpartie erlauben es außerdem, eine nach dem 1. Weltkrieg entstandene Version zu verwerfen:

Die elektrischen Scheinwerfer finden sich bereits vereinzelt bei Audis ab 1914, sie können aber auch später nachgerüstet sein.

Wichtiger sind die Gestaltung des recht breit gehaltenen, nur im Oberteil leicht zugespitzten Kühlers sowie der an die Motorhaube anschließende steile „Windlauf“.

Dieses auch als Windkappe bezeichnete Blech verlief ab 1914, auf jeden Fall aber nach Ende des 1. Weltkriegs, in einer Linie mit der Motorhaube. Auch die Ausführung der Kotflügel verweist eher auf die Vorkriegszeit. Von daher wird dieser Audi Lieferwagen des Typs Ct 14/35 PS wohl 1912/13 entstanden sein.

Damit war der Wagen zum Aufnahmezeitpunkt Anfang der 1920er Jahre auf jeden Fall ein Veteran – zumindest in formaler Hinsicht. Ob er auch eine Armeekarriere hinter sich hatte, lässt sich nicht sagen – wenn ja, muss er einen eher ruhigen Dienst fern der Front geschoben haben.

Werfen wir zum Vergleich noch einmal einen Blick auf den Audi auf dem ersten Foto – hier sind die Blechschäden vom Einsatz als Kurier- bzw. Offizierswagen unübersehbar:

Dagegen scheint es der Audi-Lieferwagen deutlich besser getroffen zu haben – er dürfte seinen Besitzer in den 1920er Jahren noch eine ganze Weile treue Dienste geleistet haben.

Welcher Art die Nutzung war, dazu findet sich auf dem Abzug leider kein Hinweis. Mit 1 Tonne maximaler Zuladung kommt beispielsweise ein Einsatz als Transporter von Marktwaren oder auch als Gepäckwagen eines Hotels in Frage.

Auf jeden Fall muss es sich um ein lukratives Geschäftsfeld gehandelt haben, der hohe Benzinverbrauch (ca. 17 Liter/100 km) wäre für einen einfachen Handwerker beispielsweise kaum tragbar gewesen.

Nicht bekannt ist leider auch, in welchem Verhältnis die beiden Männer auf dem Foto zueinander standen. Vom Erscheinungsbild her konnten beide angestellte Fahrer gewesen, wenngleich sie den Audi sicher nicht gemeinsam fuhren.

Einen genauen Datierungshinweis für diese seltene Aufnahme eines frühen Audi-Lieferwagens, der sich bereits vor 100 Jahren seinen Veteranenstatus redlich verdient hatte, gibt möglicherweise der manuell über einen Kabelzug bediente Winker.

Kann jemand sagen, wann diese Art Fahrtrichtungsanzeiger erstmals auftauchte?

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Glanzvoll in den Untergang: Gräf & Stift 18/32 PS

Für die Kenner österreichischer Vorkriegsautomobile, von denen es in Deutschland leider nur wenige zu geben scheint, geht nichts über die Kreationen der Wiener Manufaktur Gräf & Stift, deren Tradition bis ins späte 19. Jh. zurückreicht.

Nach ersten Gehversuchen mit konventionellen Modellen, die wie bei so vielen Herstellern in deutschsprachigen Raum anfänglich noch französischen Vorbildern folgten, beschritt man ab 1907 eigene Wege und widmete sich ganz der Fertigung von Oberklasse-Automobilen.

Bald wurde Gräf & Stift die bevorzugte Marke des österreichischen Kaisers, der zugleich König von Ungarn war – man kennt die Doppelmonarchie auch unter dem Kürzel „KuK“.

Der Vielvölkerstaat verband übergreifende gesamtstaatliche Elemente mit Respekt vor lokaler Identität und war damit das genaue Gegenteil des auf rücksichtslose Gleichschaltung fixierten Technokraten-Regimes der sogenannten Europäischen Union.

Das faszinierende kuk-Gebilde fiel bekanntlich dem 1. Weltkrieg zum Opfer, welcher sich aus einem unbedeutenden Lokalkonflikt Österreich-Ungarns mit Serbien ergab und an dem die späteren Sieger mindestens ebensoviel Schuld tragen wie die unterlegenen Parteien.

Die folgende Aufnahme transportiert uns mitten hinein in das damalige Geschehen:

Gräf & Stift Spitzkühlermodell im 1. Weltkrieg; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf diesem technischen hervorragenden Foto sehen wir noch einmal die Opulenz von KuK kurz vor ihrem Untergang: Die Männer in dem Wagen sind Soldaten der kuk-Armee, sie könnten aus unterschiedlichen Ländern des Riesenreichs stammen.

Das Automobil ist unübersehbar österreichischer Herkunft – ein Gräf & Stift mit Spitzkühler, wie er 1914 eingeführt wurde.

Für den Hund, der hier mit von der Partie ist, kommen ebenfalls alle Länder des Österreichisch-Ungarischen Reichs als Heimat in Betracht, darunter Böhmen, die Slowakei, Slowenien, Kroatien und Bosnien-Herzegowina sowie Teile der heutigen Territorien Polens, Rumäniens, Italiens und der Ukraine.

Etwas genauer bestimmen lässt sich immerhin der Wagentyp, wenngleich mir ein vergleichbares Foto eines solchen Spitzkühlermodells von Gräf & Stift aus dem 1. Weltkrieg noch nicht untergekommen ist.

Bis zum 1. Weltkrieg waren die Automobile der Marke bei äußerlich sehr ähnlichem Erscheinungsbild mit Vierzylinder-Motoren erhältlich, deren Leistung von 22 bis 65 PS reichte. Damit korrespondierte eine Hubraum-Bandbreite von gut 4 Litern bis 10 Litern.

So konnte ich es zumindest Heinrich von Fersens Standardwerk „Autos in Deutschlad 1885-1920 entnehmen, welches auch einige österreichische Fabrikate abhandelt. Das Opus ist zwar mittlerweile bald 60 Jahre alt, aber es bietet trotz mancher Schwächen immer noch Informationen, die man andernorts so komprimiert kaum findet.

Vielleicht kennt ja ein Leser eine Gesamtdarstellung aller Gräf & Stift-Typen bis 1918 mit vollständigen technischen Daten – das muss es doch mittlerweile irgendwo geben.

Unterdessen bleibt uns nur, über die Motorisierung des prachtvollen Exemplars zu sinnieren, das sich auf diesem außergewöhnlichen Foto erhalten hat, welches von einer nachträglichen Kolorierung nochmals profitiert:

Was für ein Aggregat verbarg sich unter dieser im Original feldgrau lackierten Motorhaube? Nun, die kleinste Version mit 22 PS darf man ausschließen, sie scheint nur bis 1913 gebaut worden zu sein, der Spitzkühler taucht bei Gräf & Stift aber erst ab 1914 auf.

Den gigantischen10-Liter-Motor der 65 PS-Ausführung darf man wohl als zu exotisch ausschließen, auch dürfte der Vorderwagen dafür zu klein gewesen sein.

Bedenkt man, dass der österreichische Kaiser (und König von Ungarn) seinerzeit einen Gräf & Stift mit dem 45 PS starken 7,3-Liter-Motor besaß, was für ein gewisse Exklusivität spricht, kommt aus meiner Sicht der etwa schwächer Typ 18/32 PS am ehesten in Betracht.

Ganz ausschließen können wir die stärkeren Modelle aber nicht, wissen wir doch nicht, welcher Persönlichkeit dieser Wagen zur Verfügung stand.

Am Ende gilt es, auch den Insassen nach über 100 Jahren die letzte Ehre zu erweisen. Das große Rad der Zeit ist über sie ebenso hinweggegangen wie wahrscheinlich über den Wagen, der bereits erste „Kampfspuren“ aufweist und gegen Kriegsende vermutlich einen zunehmend rücksichtslosen Einsatz erfuhr.

Was mag den Männern in dem Wagen zum Aufnahmezeitpunkt wohl durch den Kopf gegangen sein? Sie scheinen von der Situation entweder überrascht worden zu sein oder diese gar nicht bemerkt zu haben:

Die beiden Herren vorn waren übrigens Mannschaftsdienstgrade, während wir es hinten mit einem Fähnrich (und am Heck des Wagens) mit einem Leutnant zu tun haben (Hinweis von Leser Klaas Dierks).

Ebenfalls Leserhinweisen verdanke ich die Identifikation des Truppenteils, dem diese Männer angehörte – es war die Fliegertruppe (zu erkennen am Ballon auf den Kragenspiegeln des Fähnrichs und des Leutnants).

Viel näher an das schicksalhafte Geschehen vor über 100 Jahren und an einen solchen frühen Gräf & Stift-Wagen mit Spitzkühler kommen wir im 21. Jahrhundert nicht mehr heran.

Dokumente wie dieses sind unübersehbar weit mehr als nur Momentaufnahmen irgendwelcher alter Autos. Sie erzählen zugleich von Glanz und Elend einer Welt, die untergegangen zu sein scheint, die im Fall der einstigen kuk-Gebiete aber in Teilen noch erstaunlich lebendig ist und vom alten Europa weit mehr bewahrt hat, als man denkt…

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2 Sta(h)linisten bei der Wehrmacht: ZIS-101

Heute habe ich zum einen das Vergnügen, die stetig wachsende Marken-Schlagwortwolke in meinem Blog um einen Neuzugang zu erweitern – und zwar ganz am Ende.

Zum anderen kann ich endlich der kalten Jahreszeit adieu sagen – nicht nur, weil es in der hessischen Wetterau heute frühlingshaft warm wurde, sondern weil ich endlich eine Gelegenheit gefunden habe, die folgende Winteraufnahme „abzuhaken“:

ZIS-101 in einer deutschen Kolonne an der Ostfront; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses Foto machte einst ein deutscher „Landser“ während des Russlandfeldzugs. Wir sehen eine bunt zusammengewürfelte Kolonne, wie sie typisch für die Wehrmacht war, der es immer an Fahrzeugen mangelte, weshalb man nahm, was man kriegen konnte.

Militärischen Anforderungen genügte von den PKW an der Spitze bestenfalls der offene Adler 12N-Kübelwagen, der an dritter Stelle zu sehen ist.

Die Limousine ganz vorne bereitete mir lange Schwierigkeiten – sie sieht aus wie ein Wagen aus dem General-Motors-Konzern von 1934, doch entspricht das Erscheinungsbild keiner der zahlreichen Marken in dem Verbund ganz genau.

Tatsächlich ist der Wagen ein russischer ZIS-101, der ab 1936 nach US-Vorbildern von der Zavod imeni Stalina (ZIS) in Moskau gebaut wurde.

Was das konkrete Vorbild des ZIS-101 angeht, gehen die Angaben auseinander. Laut deutscher Wikipedia nahmen die russischen Konstrukteure Maß an Buick-Modellen, laut anderen Quellen erwarb man dazu eine Lizenz von Cadillac.

So oder so fragt man sich, wozu in der sozialistischen Sowjetunion ein Wagen dieses Kalibers gebaut werden musste, da doch die Vertreter der kommunistischen Führung sicher keine Privilegien gegenüber den übrigen „Genossen“ wünschten – oder doch?

Bemerkenswert, dass die deutsche „Wikipedia“ zum ZIS-101 die Propaganda wiederkäut, wonach „es weniger darum (ging), repräsentative Wagen für die Regierung zu bauen, als zu demonstrieren, dass die Sowjetunion in der Lage war, Oberklasselimousinen zu fertigen“.

Natürlich wurden diese ZIS-101 Wagen nicht lediglich zu „Show“-Zwecken gebaut, dafür hätte man nicht einige tausend anfertigen müssen. Vielmehr dienten sie dem exklusiven Transport bolschewistischer Bonzen in Politik, Wirtschaft und Militär.

Ihnen konnte es gleichgültig sein, dass der ZIS-101 noch schwerer und durstiger geraten war als die massigen US-Oberklassevorbilder – das Proletariat brachte auch diese Opfer.

Etliche dieser vierrädrigen „Sta(h)linisten“ fielen allerdings im Zuge des deutschen Russlandfeldzugs ab 1941 ungeplant der Wehrmacht in die Hände. Hier hat es gleich zwei erwischt, die hinter der Front von deutschen Soldaten untersucht werden:

ZIS-101, Beutewagen der Wehrmacht; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Viele private Aufnahmen vom deutschen Ostfeldzug wirken so harmlos wie dieses.

Doch wird der Angriff Deutschlands auf die Sowjetunion auch dadurch nicht besser, dass er wahrscheinlich entsprechenden Plänen Stalins zuvorkam, der zuvor die zahlenmäßig stärkste (Panzer)Armee der Welt aufgebaut hatte.

An den zivilen und militärischen Opfer des Feldzugs gibt es ebenfalls nichts zu beschönigen, ganz gleich wie sehr der einzelne Soldat darauf bedacht gewesen sein mag, sich an die Regeln des Kriegshandwerks zu halten.

Die ultimative Verantwortung für das allzuoft verbrecherische Geschehen ist freilich in der damaligen Politik und der Wehrmachtsführung zu verorten. Dem Einzelnen ist zuzubilligen, dass er kaum eine andere Wahl hatte, als Anordnungen von höherer Stelle auszuführen.

Dass das abseits des Kampfgeschehens oft banale Tätigkeiten waren, belegen solche Bilder. So war die Prüfung und Ertüchtigung von Beutefahrzeugen eine wichtige Aufgabe, da die Wehrmacht wie gesagt an chronischer Fahrzeugknappheit litt:

Was genau hier vor sich geht, muss offen bleiben. Man mag sich vorstellen, dass die frisch erbeuteten ZIS-101-Wagen, die wohl russischen Offizierschargen als Fortbewegungsmittel dienten, erst einmal gründlich durchsucht wurden.

Doch sind hier bei beiden Autos auch die Motorhauben geöffnet. Entweder glaubte man, dass im Motorraum wichtige Dokumente verborgen sein könnten, oder man verschaffte sich bereits einen Überblick über den Allgemeinzustand der Wagen.

Im nächsten Schritt dürften sie jedenfalls eine Wehrmachtskennung und bald auch ein entsprechendes Kennzeichen erhalten haben, sodass sie in den Fuhrpark einer namenlosen Einheit eingereiht werden konnten.

Wann und wo das war, lässt sich nicht mehr ermitteln. Das Foto trägt auf der Rückseite lediglich den Stempel des Hamburger Fotohauses Weicht. Damit wissen wir immerhin, wo der Wehrmachtssoldat zuhause war, der diese Aufnahme gemacht hat.

Was aus ihm und den beiden „Sta(h)linisten“ mit US-Genen wurden, die unfreiwillig für den Dienst beim Gegner eingespannt wurden, wissen wir nicht. Gut möglich, dass die beiden ZIS-101-Wagen im weiteren Kriegsverlauf wieder den Besitzer wechselten.

Im Unterschied zu russischen Kollaborateuren oder auch Kriegsgefangenen wird man sie bei der Roten Armee gern wieder aufgenommen haben, denn dort waren hohe Chargen ungern wie der ordinäre Genosse zu Fuß unterwegs. Für diese Form der Fortbewegung nahm man auch formale wie technische Anleihen bei den US-Kapitalisten in Kauf…

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Mit Kellner-Karosserie in den Krieg: Fiat Tipo 3

Kellner, Kellner – hatten wir das nicht gerade? Natürlich nicht den Kellner im Restaurant – den Umgang mit ihm hat uns die Obrigkeit ja seit geraumer Zeit verboten.

Doch in meinem Blog darf man mit Kellnern weiterhin auf Tuchfühlung gehen – zuletzt in Form eines Renault „Reinastella“ mit Karosserie von Kellner (Billancourt). Heute machen wir nun Bekanntschaft mit einem „Kellner“ ganz anderer Provenienz.

Der nicht ganz alltägliche Vorname „Alexis“ bestimmte diesen vermutlich dazu, sich in seinem Leben gründlich der Extravaganz zu widmen. Das tat Alexis Kellner ab 1910 mit seinem Karosseriebetrieb in Berlin, der legendären Status erlangen sollte.

Alexis Kellner wusste eine anspruchsvolle Klientel nicht nur mit luxuriös ausgestatteten Aufbauten zu verwöhnen – er lieferte auch eine herrlich arrogante Begleitmusik dazu. 1911 verkündete er im Artikel „Der Stil im Autosport“ unter anderem:

„Im Innern der Limousine ist jeder, auch der raffinierteste Luxus gestattet, ich möchte beinahe sagen: geboten… Zeige mir Deine Limousine und ich werde Dir sagen, wie Du zu Hause eingerichtet bist!“

Außerdem: „Nur in der Limousine kann die Dame Eleganz entwickeln – sie kann den größten Federhut aufsetzen, den sie hat, vorausgesetzt, dass er durch die Tür geht.“

Nicht gut weg kommt bei Kellner hingegen das Landaulet:

„Ein Landaulet ist niemals schick, man überlasse diese Karosserieform den Droschkenkutschern – und den Spatzen.“

Mehr Sympathie bringt er für den offenen Tourenwagen oder Phaeton auf:

„Als Herrenwagen ist das Phaeton auch im Winter richtig; es kommt aber auch hier auf die Form an… Besonders schmerzend wirkt ein Offizier in Uniform hinter dem Windschutz.“

Diesen Eindruck wollten die Herren Offiziere partout vermeiden – selbst im Winter nahmen sie im zugigen Heck Platz, wenn sie in ihrem – natürlich offenen Wagen – unterwegs waren:

Fiat Tipo 2B, aufgenommen im Januar 1918; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Was Alexis Kellner so lässig und leicht ironisch vor dem 1. Weltkrieg an Regeln für die Kundschaft seiner Karosseriemanufaktur „erlassen“ hatte, wurde der fotografischen Evidenz folgend beim Militär streng befolgt.

Hohe Chargen fanden sich tatsächlich stets auf der Rückbank, während der Fahrer von der Windschutzscheibe und der Abwärme des Motors profitierte. Das obige Foto eignet sich aber nicht nur in dieser Hinsicht als Einstieg ins eigentliche Thema.

Vielmehr zeigt es bei aller Unschärfe sehr wahrscheinlich einen engen Verwandten des Fiat Tipo 3, den ich heute vorstellen möchte. Es handelt sich wohl um den ab 1912 gebauten Tipo 2B 15/20 PS mit 2,8 Liter großem Vierzylindermotor (Vergleichsfoto hier).

Dieses Modell war der erste große Erfolg der Marke aus Turin, wie ich zu meiner eigenen Überraschung feststellen musste. Bis dato war ich der Ansicht, dass Fiat erst kurz nach dem 1. Weltkrieg mit dem Kleinwagen 501 wirklich große Stückzahlen baute.

Doch auf Ferdinand Lanners fabelhafter Fiat-Website wird man eines Besseren belehrt: Über 21.000 Exemplare des frühen Mittelklassemodells Tipo 2B wurden zu einer Zeit gefertigt, als Italien noch ein bitterarmes Land war.

Da blieb nur der globale Markt als Absatzgebiet – und davon machte Fiat Gebrauch wie das kein deutscher Hersteller damals zustandebrachte. Nicht nur, dass man in die ganze Welt einschließlich Skandinaviens, Russlands und Australiens exportierte – das taten deutsche Hersteller auch. Nein, Fiats wurden auch in den USA produziert!

Das galt ganz speziell für das Fiat-Modell, um das es heute geht – den Tipo 3 20/30 PS mit 4 Liter-Vierzylinder. Er wurde in Italien mangels Kapazitäten 1915 eingestellt, während die Fertigung in Poughkeepsie (US-Bundesstaat New York) bis 1918 weiterlief.

Dieser (mutmaßliche) Fiat Tipo 3 stammte aber eindeutig aus europäischer Fertigung und erhielt sein Blechkleid von Alexis Kellner in Berlin:

Fiat Tipo 3 (Karosserie: Alexis Kellner, Berlin); Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Auf diesem reizvollen Foto, das mir Leser Klaas Dierks zur Verfügung gestellt hat, ist der typische birnenförmige Kühler zu erkennen, der bei Fiat ab 1914 verbaut wurde.

Zwar entspricht die Grundform grob derjenigen des Tipo 2B auf dem ersten Foto, doch die Proportionen sprechen klar für ein größeres Modell. Die noch stärkeren Modelle Tipo 4 bis 7 kommen aufgrund der geringen Stückzahlen weniger in Betracht, ganz ausschließen lassen sie sich nicht. Sie besaßen teilweise Sechszylindermotoren mit bis zu 9 Litern Hubraum.

Dass Fiats aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg so gar nicht zu dem Kleinwagenimage passten, das erst ab den 1930er Jahren entstand, zeigt auch die Verwendung einer Sonderkarosserie von einem Luxus-Blechschneider wie Alexis Kellner.

Doch woran erkennt man eigentlich, dass hier der Berliner Couturier am Werk war?

Nun, ein Indiz spricht sehr deutlich dafür, dass wir es mit einem Fiat zu tun haben, der einst einen Aufbau bei Kellner erhielt – die stromlinienförmig verkleideten Positionslichter auf den Kotflügeln!

Den Hinweis, dass dies sehr wahrscheinlich ein Markenzeichen von Alexis Kellner war, verdanke ich Thomas Ullrich aus Berlin. Dass der Aufbau nicht ganz alltäglich war, das lässt auch der horizontale Knick erahnen, der am Ende der Motorhaube ansetzt.

Leider liegt die Karosserieflanke im Dunkel, sodass von der übrigen Gestaltung nicht viel zu erkennen ist, doch dafür werden wir mit zwei prachtvollen Physiognomien entlohnt:

Während uns vorne in typischer doppelreihiger Lederjacke ein Angehöriger der Kraftfahrertruppe finster mustert, residiert am Ende des Wagens ein nicht mehr ganz junger Offizier – dem Fahrtwind ausgesetzt, ganz wie das Alexis Kellner gefordert hatte.

Der Kasten auf dem Trittbrett ist offenbar der Karbidentwickler, in dem das Gas für die riesigen Scheinwerfer produziert wurde. Auch dazu konnte Alexis Kellner mit endgültigen Wahrheiten dienen:

„Mächtige Scheinwerfer sind am Stadtwagen unbedingt zu vermeiden…Die großen Scheinwerfer sind überflüssig und störend, nur protzig.“

Da wir es im vorliegenden Fall mit einem Armeefahrzeug zu tun haben, das nachts gegebenfalls in völlig unbeleuchteten Gefilden unterwegs war, hätte Alexis Kellner für die überdimensionierten Scheinwerfer gewiss Verständnis gezeigt.

Seine Schöpfungen wandten sich jedenfalls an „Automobilisten, die wissen was man fährt“ – im vorliegenden Fall fuhr hier der Chef der deutschen „Festungs-Eisenbahn-Bau-Kompanie 7“ mit Kellner-Karosserie in den Krieg:

Reklame für Karosserien von Alexis Kellner von Januar 1914; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Quellenhinweis: Die Zitate von Alex Kellner sind folgender Publikation entnommen: „Autos aus Berlin: Protos und NAG“, von Hans-Otto Neubauer, Verlag W. Kohlhammer, 1983.

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Zeitmaschine aus Hannover: Hanomag 1,3 Liter

Die Marke Hanomag verbindet man in erster Linie mit Nutzfahrzeugen grundsolider Machart. Kaum noch bekannt ist die eher nebenher betriebene PKW-Produktion, deren erster und zugleich kuriosester Vertreter das „Kommissbrot“ von 1925 war.

Ein vollwertiges Auto war das 10 PS „starke“ Mobil zwar nicht, aber immerhin sein Äußeres war seiner Zeit weit voraus – erstmals verschmolzen hier Frontpartie und Kotflügel optisch zu einem Ganzen. Erst nach dem 2. Weltkrieg wurde dieser „Ponton“-Stil Standard:

Hanomag 2/10 PS „Kommissbrot“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Liebhaber dieses schaurig-schönen Gefährts kommen hier demnächst auf ihre Kosten, denn es haben sich zeitgenössische Fotos diverser Varianten angesammelt.

Heute geht es aber um eine ganz andere Schöpfung des Maschinenbauers aus Hannover, die ihrer Zeit eigentlich voraus sein sollte, deren Zeit aber schon am Ablaufen war, als sie das Licht der Welt erblickte. Dennoch erlaubt der Wagen noch im 21. Jh. eine Zeitreise.

Diese wunderliche Eigenschaft – zugleich Zukunft und Vergangenheit zu repräsentieren, und bis heute eine Reise durch bewegte Zeiten zu ermöglichen – hat mich dazu bewogen, dem Träger dieses Attributs die Bezeichnung Zeitmaschine zu verleihen.

Tatsächlich wirkte es einst sehr der Zukunft zugewandt, das Fahrzeug, welches uns hier im Eiltempo entgegenkommt:

Reklame für den Hanomag 1,3 Liter; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Der schnittige Wagen mit seiner konsequenten Stromlinienkarosserie ließ alles buchstäblich „alt“ aussehen, was bis dato die Produktionshallen in Hannover verlassen hatte.

Zum ersten Mal seit dem Experiment mit dem Kommissbrot bot Hanomag einen Wagen, der konventionelle Formen vollkommen hinter sich ließ. Im Unterschied zu den zahlreichen Pseudo-Stromlinienwagen deutscher Hersteller seit Beginn der 1930er Jahre war man hier nicht lediglich einer Mode gefolgt, sondern hatte fast alles vermieden, was den Luftwiderstand reduzieren könnte.

Bei diesem Modell hatte man den Kühlergrill vollkommen den Gesetzen der Stromlinie unterworfen und auch die Scheinwerfer ganz in den Karosseriekörper integriert. In Verbindung mit einem Motor, der Autobahntempo erlaubte, hydraulischen Bremsen und 12 Volt-Elektrik wäre dieser Hanomag auch nach dem Krieg noch konkurrenzfähig gewesen.

So scheint ein Exemplar des Hanomag 1,3 Liter hier Anlauf zu einer steilen Karriere zu nehmen, während hinter ihm ein Vertreter der alten Linie zurückbleibt:

Hanomag 1,3 Liter; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Es war Januar 1939, als der Hanomag vorgestellt wurde und Anlass zu den schönsten Hoffnungen gab. Gewiss: Mit fast 3.200 Reichsmark war der Typ 1,3 Liter weit davon entfernt, ein Volkswagen zu werden.

Doch mit seinem futuristischen Äußeren, den überzeugenden inneren Werten und markentypischer Solidität war er am deutschen Markt konkurrenzlos.

So wurde der ausschließlich als Zweitürer erhältliche Hanomag 1,3 Liter gern als moderne Alternative zu anderen Familienkutschen der unteren Mittelklasse präsentiert. Hier haben wir ein Exemplar, das am Neckar bei Heidelberg Halt gemacht hat, wo der Kontrast zur Welt von gestern besonders augenfällig wird:

Hanomag 1,3 Liter; originale Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Doch als dieses Motiv auf einer Postkarte von Hannover nach Hamburg auf die Reise ging, hatte sich das große Rad der Zeit bereits weitergedreht und die Zukunftsperpektiven des neuen Hanomag bereits merklich eingetrübt.

Denn als diese Karte per „Eilzustellung“ in Hamburg angelangte – am 26. Oktober 1939 – hatte mit dem Angriff Deutschlands auf Polen und den darauffolgenden Kriegserklärungen Frankreichs und Englands der 2. Weltkrieg begonnen.

Zwar lief die Produktion des Hanomag 1,3 Liter auf Sparflamme bis 1941, doch Privatleute hatten kaum noch eine Chance, einen davon zu ergattern. Auch bereits zugelassene Exemplare landeten im Regelfall beim Militär.

Ein Beispiel dafür ist dieser Wagen, der noch seine zivile Zulassung aus Hannover trägt, hier aber mit dem Kürzel „WH“ als Fahrzeug einer Heereseinheit der Wehrmacht gekennzeichnet war:

Hanomag 1,3 Liter; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die genaue Truppenzugehörigkeit (Kürzel VKD) ließ sich trotz Recherche im Forum der Wehrmacht nicht abschließend klären. Das Umfeld deutet jedenfalls auf eine Stationierung an der französischen Atlantikküste hin.

Auch auf anderen Fotos findet sich der Hanomag 1,3 Liter im Kriegseinsatz wieder. Wie bei den traditionellen Modellen „Rekord“ und „Sturm“ schätzte das Militär die Nehmerqualitäten der hervorragend verarbeiteten und zähen Hanomag-PKW.

Obwohl keine 10.000 Stück davon entstanden, überlebten etliche Wagen des modernen Typs 1,3 Liter den Krieg und kehrten auf verschlungenen Pfaden in private Hände zurück.

Folgende Postkarte von 1949 zeigt das beschädigte Westportal des Kölner Doms mit einem Hanomag 1,3 Liter, der hier vor einem Behelfslieferwagen auf Basis des Volkswagens abgestellt ist:

Hanomag 1,3 Liter, Volkswagen und Opel „Blitz“; originale Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Hier hat man die seltene Gelegenheit, den Größenunterschied der beiden PKW-Modelle und die modernere Gestaltung des Hanomag zu studieren. Dass sich letztlich der Volkswagen zu einem Millionenerfolg entwickelte, hatte unter anderem mit seinem deutlich geringeren Preis zu tun, aber auch damit, dass Hanomag nach dem Krieg den PKW-Bau einstellte.

Hätte sich Hanomag anders entschieden und anstelle des Fehlversuchs mit dem Prototyp „Partner“ von 1951 einfach den Vorkriegstyp 1,3 Liter in großem Stil weitergebaut, wäre die Sache vermutlich dennoch kaum anders verlaufen.

Denn die Karosserie des Hanomag stammte von Ambi-Budd in Berlin und man darf davon ausgehen, dass die Presswerkzeuge dafür im Krieg zerstört wurden. Und auf eine kostensenkender Massenproduktion wie beim VW war man in Hannover nicht eingerichtet

So war der Hanomag 1,3 Liter, der 1939 noch die Zukunft repräsentieren sollte, bereits in den späten 1940er Jahren ein Relikt der Vergangenheit, allerdings ein durchaus eindruckvolles, wie auf dieser Nachkriegsaufnahme ersichtlich:

Hanomag 1,3 Liter; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ein wenig wie der Schädel eines urzeitlichen Sauriers wirkt der Aufbau des Wagens hier. Doch das hat auch mit der monotonen Farbgebung zu tun. Völlig anders kommt der Hanomag 1,3 Liter mit einer traditionellen Zweifarblackierung daher.

Auf zeitgenössischen Fotos des Wagens ist mir eine solche noch nicht begegnet. Doch hat in Dänemark ein Exemplar überlebt, das noch eine entsprechende Originallackierung trägt.

Dieser Wagen ist in doppelter Hinsicht eine Zeitmaschine. Zum einen vermittelt er uns einen Eindruck von 80 Jahren Autoleben, zum anderen stellt er für den heutigen Besitzer eine ganz außergewöhnliche Verbindung zur Vergangenheit her.

Denn Chris Christensen hat mit diesem Hanomag das Auto seines Urgroßvaters wiedergefunden – mehr Zeitmaschine geht nun wirklich nicht!

Videoquelle: Youtube.com; hochgeladen von: TV2 Nord

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Fund des Monats – Ein Horch 930V Roadster

Unter Horch-Kennern weckt der ab 1937 gebaute Typ 930V mit seinem „kurzen“ Radstand von 3,10 Meter und Leistung von „nur“ 80-90 PS nicht gerade die größte Leidenschaft.

Mit etwas mehr als 2.000 Exemplare gehörte der Horch 930V zu den meistgebauten Typen der sächsischen Manufaktur überhaupt. Man erkennt ihn von vorn anhand der beiden ovalen Zierblenden an der Frontpartie:

Horch 930 V Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese schöne Aufnahme, die einst bei einer Automobilausstellung entstand, ist eines der ältesten Vorkriegsautofotos in meiner Sammlung – sie hing schon in meiner Studienzeit am Schwarzen Brett in der Küche meiner WG und war Zeuge vieler unterhaltsamer Abende…

Heute dient sie mir als Ausgangspunkt einer nicht minder abwechslungsreichen Reise durch die Geschichte des Horch 930V, an deren Ende ein spektakuläres Exemplar auf uns wartet.

Ein Detail auf obigem Foto sei noch erwähnt – die geteilte und leicht v-förmige Windschutzscheibe, ein weiteres typisches Element jedes Horch 930V. Doch das „V“ in der Bezeichnung hatte nicht unmittelbar damit zu tun.

Die v-förmige Frontscheibe hatte es bei Horch ja bereits ab 1935 gegeben, zumindest beim exklusiven Modell 853 mit mächtigem 5-Liter-Reihenachtzylinder. Hier haben wir zum Vergleich ein überlebendes Exemplar dieses Typs:

Horch 853 Cabriolet; aufgenommen 2017 bei den Classic Days auf Schloss Dyck; Bildrechte: Michael Schlenger

Tatsächlich verwies das „V“ in der Bezeichnung des 930V auf den kompakteren V8-Motor, der in dem zwei Jahre nach dem Horch 853 vorgestellten, weit kleineren Wagen zum Einsatz kam.

Das Aggregat war bereits 1932 entwickelt worden. Ab 1933 wurde es beim Horch 830 verbaut, mit anfangs nur 60 PS aus 3 Litern. Für den 1937 eingeführten Typ 930V hatte man Hubraum und Leistung jedoch deutlich gesteigert, zuletzt auf 3,8 Liter und 92 PS.

Soviel an dieser Stelle zu Technik – viel interessanter sind die Aufbauten. Hier haben wir eine frühe Limousine, erkennbar am vorderen Ausstellfenster:

Horch 930V Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das Ausstellfenster besaßen auch die frühen Cabrioausführungen wie die auf dem ersten Foto. Dort war zudem zu sehen, dass sich die Luftschlitze in der Motorhaube auf zwei übereinanderliegende Reihen verteilten, eingerahmt von einer Chromleiste.

Auf der Abbildung der Limousine sehen wir zwar nur eine Reihe davon, aber dafür lässt sich hier besagte Chromleiste besser erkennen. Aus stilistischer Sicht sei angemerkt, dass die ineinanderfließenden Elemente des Hecks die Formen der späten 1940er und frühen 1950er Jahre vorwegnehmen.

Selbst beim winzigen, mit Heckmotor ausgestattenen Renault 4V der Nachkriegszeit lebte genau diese Gestaltung fort:

Renault 4CV, aufgenommen 2012 bei Butzbach (Hessen): Bildrechte: Michael Schlenger

Nach diesem für Horch-Freunde vermutlich verstörenden Vergleich geht es nun weiter mit dem Typ 930V und zwar wiederum in der Ausführung als Limousine.

Diesmal haben wir es mit der späteren Version zu tun, die ohne vordere Ausstellfenster auskommen musste – ob schon 1938 oder erst 1939, das kann vielleicht ein sachkundiger Leser sagen (bitte dazu Kommentarfunktion nutzen).

Im Gegenzug bekam die spätere Variante der Limousine Stoßstangenhörner spendiert, die dem dichter werdenden Straßenverkehr in den Städten mit immer mehr Wagengrößen Rechnung trugen.

Einen solchen Horch 930V sehen wir – passend zur aktuellen Jahreszeit – hier:

Horch 930V Limousine; Originalfoto aus Sammlung Frank-Alexander Krämer

Diese Aufnahme aus der Zeit des 2. Weltkriegs zeigt einen Horch 930V als Kommandeurswagen der Wehrmacht, der noch das Kennzeichen des zivilen Vorbesitzers aus dem Nürnberger Raum trägt.

Wann und wo das Foto entstanden ist, konnte mir der Besitzer des Fotos – Frank Alexander Krämer aus Landau – leider nicht sagen. Nur, dass darauf ein Unteroffizier namens Foesel posiert, ist überliefert.

Hier haben wir ein Beispiel dafür, dass es oft kleine Details sind, die auf alten Autofotos die Identifikation des Wagens erlauben. Im vorliegenden Fall verraten uns die überlackierten ovalen Chromblenden an der Front, dass wir einen Horch 930V vor uns haben.

Die an diesem Wagen montierten Positionsleuchten sind übrigens nicht serienmäßig bei dem Modell – sie wurden nachgerüstet.

Wir setzen unsere Reise fort, kommen aber an der Tatsache nicht vorbei, dass viele Fotos solcher Horch-Wagen im Zweiten Weltkrieg entstanden, als sie als Offizierswagen beschlagnahmt wurden. Hier haben wir ein von der Wehrmacht eingesetztes Horch 930V-Cabriolet, das bei einer Marschpause in einem Waldstück abgestellt wurde:

Horch 930V Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Trotz der Vegetation im Vordergrund hat der Fotograf das Kunststück vollbracht, alle wesentlichen Details auf das Negativ zu bannen: die ovalen Ziergitter an der Front, die Radkappen mit gekröntem „H“, die geflügelte Weltkugel auf dem Kühler, die geknickte Frontscheibe und das vordere Ausstellfenster, das auf ein frühes Modell hindeutet.

Was verrät uns aber, dass dies ein Militärfahrzeug war? Der Notek-Tarnscheinwerfer am in Fahrtrichtung links befindlichen vorderen Kotflügel war im Krieg ja bisweilen auch an PKW zu finden, die weiterhin privat genutzt werden durften. Zudem wirkt der Lack nicht wie der eines Armeefahrzeugs und die Chromteile besitzen noch Glanz.

Nun, letzteres kann täuschen, doch der entscheidende Hinweis auf die militärische Nutzung ist der helle Streifen, der entlang des vorderen unteren Endes des Kotflügels aufgemalt worden ist. Dieser diente bei nächtlicher Kolonnenfahrt hinter einem fahrenden oder entgegenkommenden Fahrzeugen als Orientierung bei eingeschaltetem Tarnlicht.

Ich habe dies bisher nur bei Wehrmachts-PKW auf Fotos der ersten beiden Kriegsjahre gesehen, sodass Polen- oder Frankreichfeldzug als Situation in Frage kommen. Bei nicht an der Front eingesetzten Wagen scheint man damals oft noch auf Militärlackierung und Umkennzeichnung verzichtet zu haben (dieser Horch trägt noch sein Zivilkennzeichen).

Das nächste Exemplar des Horch 930V ist wieder ein Cabriolet, doch der Krieg ist nun zuende, und noch (oder wieder) in privater Hand befindliche Fahrzeuge des Typs wurden am Laufe gehalten – wie dieses hier:

Horch 930V Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer nach dem Krieg in Deutschland so einen Wagen bewegen konnte, durfte sich glücklich schätzen. Der enorme Benzinverbrauch von fast 20 Litern auf 100 km/h machte den Unterhalt zu einem ziemlich luxuriösen Vergnügen.

Doch hier konnte sich das offenbar jemand leisten und der Besitzer des Horch schaut versonnen lächelnd in die Kamera. Sein Haarschnitt ist ein Indiz für die frühe Nachkriegszeit, während der breit gestreifte Anzug und das geschlossene Hemd mit spitzem Kragen noch wie der Horch aus Vorkriegsproduktion stammen könnten.

Gewissheit verschafft uns der ramponierte Vorderkotflügel mit dem herabhängenden Keder zwischen vorderem Trittbrettende und Kotflügel. Ein solcher Horch, der erst ab 1937 gebaut wurde, wäre vor dem Krieg auf keinen Fall in diesem Zustand gewesen.

Ein weiteres Detail unterstützt die Einordnung in die frühe Nachkriegszeit: Die Sturmstange am Verdeck war stets vollverchromt, während sie hier von den Gelenken abgesehen in Wagenfarbe lackiert ist. Hier hat man sich also später ein paar Freiheiten genommen.

Das Baumaterial im Hintergrund spricht für die Wiederaufbauphase, wobei für meinen Geschmack das traditionelle schnörkellose, aber wohlproportionierte Haus mit Sprossenfenstern ein Ideal darstellt, auf das fast nur Minderwertiges folgte.

Vielleicht zur gleichen Zeit – wenige Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs – entstand im Osten Deutschlands eine Bilderreihe, in der für einen Moment noch einmal die mondäne Welt aufscheint, in der Horch-Automobile vor dem Krieg zuhause waren.

Jetzt mag einer die Nase rümpfen und denken: „Was war am 930V denn mondän? Das war doch bloß das kleine Einstiegsmodell von Horch, zudem in großer Zahl produziert.“ Und hatte ich nicht selbst gesagt, dass sich am Heck der Limousine schon die biederen Formen der Nachkriegszeit abzeichnen?

Alles richtig. Doch gab es auf Basis des Horch 930V noch etwas, was zu den elegantesten und zugleich seltensten deutschen Autos der unmittelbaren Vorkriegszeit zählte – und das war der Roadster mit Karosserie von Gläser (Dresden).

Angeblich sollen nur 30 Stück davon gebaut worden sein, nach manchen Quellen noch weniger. Mir war noch nie ein originales Foto dieser Rarität begegnet, als ich wieder einmal elektronische Post von Leser Matthias Schmidt erhielt, zufällig ebenfalls aus Dresden.

Auf dem ersten Bild, das er mir übersandte, ahnte ich noch nicht, was ich da vor mir hatte:

Horch 930V Roadster (Karosserie Gläser); Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Natürlich ist schon das begeisternd: Ein Horch-Cabriolet mit perfekten Proportionen und mit genau der richtigen Menge an Zierrat, direkt von vorn aufgenommen. Eine im Auto tänzerisch posierende junge Frau mit einem Lächeln, in das man gern alles Mögliche hineininterpretieren möchte. Der Hund daneben weiß um die Exklusivität seiner Situation.

Aber basiert dieses im Raum Annaberg (Sachsen) zugelassene Schmuckstück von Automobil tatsächlich auf dem Horch 930V? Wo sind denn die ovalen Zierbleche abgeblieben, die oben als typisch für das Modell hervorgehoben wurden? Immerhin: vermissen tut man sie hier nicht.

Tatsächlich kam der von Gläser auf dem Chassis des Horch 930V gebaute Roadster ohne dieses Detail aus. Er hatte andere Reize zu bieten:

Horch 930V Roadster (Karosserie Gläser); Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Hier können wir nun die Flanke dieses Wagens genießen, die auf willkommene Weise von einem Paar schlanker Frauenbeine unterbrochen wird, das jedem Fotomodell Ehre machen würde.

Für mich ein Beispiel für die These, dass das klassische Automobil daran zu erkennen ist, dass es zu allen Zeiten vollkommen mit weiblicher Schönheit harmoniert. Kein Wunder, dass in einer Zeit, in der fanatische Ideologen die natürlichen Geschlechter verschwinden lassen wollen, auch keine vergleichbaren automobilen Schöpfungen mehr entstehen.

Wer die Linien dieses Roadsters dennoch „ungestört“ studieren möchte, hat auf der nächsten Aufnahme Gelegenheit dazu – unser schönes Fräulein hat Verständnis für das Ansinnen und gibt sich hier vergleichsweise zurückhaltend:

Horch 930V Roadster (Karosserie Gläser); Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Man mag beanstanden, dass der Bildausschnitt nicht ideal ist, auch dass die Schwellerpartie mit der „Gläser“-Plakette am Ende lädiert erscheint und schon einmal (nicht perfekt) überarbeitet wurde.

Doch ändert das nichts an dem bei deutschen Autos der direkten Vorkriegszeit seltenen, beinahe sinnlichen Schwung der Gürtellinie – ich wüsste auf Anhieb wenig Vergleichbares.

Raffiniert auch, dass die Gläser-Leute die Ausführung der Luftschlitze beim Horch 930V ebenso verworfen haben wie die Zierblenden an der Front. Die hier gewählte Ausführung vermeidet parallele Linien in der Horizontalen und unterstreicht das Dynamische an der Karosserie – man sieht förmlich die Luftströmung daran entlangstreichen.

Genug dieser Karosserie-Poesie, denn auch der Innenraum will gewürdigt werden – dort werden wir bereits erwartet:

Horch 930V Roadster (Karosserie Gläser); Originalfoto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Was soll man sagen? Diesem vorbildlich posierenden Hund ist anzusehen, dass auch er es gewohnt war, in einer Welt „bella figura“ zu machen, die damals von der Lebenswirklichkeit fast aller Deutschen so weit entfernt war wie die Rückseite des Mondes.

Dass es das dennoch gab, auch das macht diese Fotos der Nachkriegszeit so berührend – ganz abgesehen von der Seltenheit des herrlichen Horch 930V Roadsters. Offenbar hatten es damals die in Berlin von Moskaus Gnaden regierenden Kommunisten noch nicht geschafft, im Osten unseres Landes die Reste großbürgerlicher Tradition auszurotten.

Dies gelang erst ab den 1970er Jahren mit der weitgehenden Beseitigung des verbliebenen Unternehmertums und dem Ausplündern derer, die über Krieg und sowjetische Besatzung Kunstgegenstände und Luxusobjekte wie diesen Horch hatten retten können.

Möglicherweise ist auch dieser wundervolle Wagen im Zuge der verbrecherischen Umtriebe des SED-Regimes zur Devisenbeschaffung im Westen gelandet. Es würde mich jedenfalls sehr wundern, wenn dieses Traumstück nicht noch irgendwo existiert.

Etwas fehlt aber noch. Zwar verdanke ich es der Findigkeit und Großzügigkeit von Matthias Schmidt, dass ich diese Bilderreihe des Horch 930V Roadster zeigen darf. Doch eine Heckansicht war nicht dabei.

Hier konnte ich selbst Abhilfe schaffen, indem ich einen neuzeitlichen Abzug vom originalen Negativ des einstigen Auto Union-Werksfotografen Friedrich Meiche erworben habe:

Horch 930V Roadster (Gläser); Abzug vom Originalnegativ des Auto Union-Werksfotografen Friedrich Meiche

Auf diesem Foto lassen sich die makellosen Linien des Horch 930V Roadsters mit Gläser-Karosserie studieren – sie passen perfekt zu den Proportionen dieses „kompakten“ Modells.

Was mich an dem Blechkleid aus dieser Perspektive besonders begeistert: Man sieht keine einzige gerade Linie, keinen rechten Winkel – genau wie in der Natur, aus der wir stammen. Hier fehlt nur noch: eine charmante Beifahrerin, leichtes Reisegepäck und Futter für den Hund, ein voller Tank, freie Fahrt für freie Bürger und das Glück wäre vollkommen…

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Gab’s auch als Sportzweisitzer: Hansa Typ D 10/30 PS

Auch nach über 100 Jahren findet man bei der Beschäftigung mit frühen Automobilen immer noch „Neues“ – und das keineswegs nur bei Nischenmarken.

Heute darf ich so etwas anhand eines Wagentyps präsentieren, dem man in der einschlägigen Literatur – mehr noch in meinem Blog – recht häufig begegnet. Die Rede ist vom 1911 eingeführten Typ D 10/30 PS der norddeutschen Marke Hansa.

Der im friesischen Varel beheimatete, 1905 gegründete Hersteller hatte bis dato nur Modelle mit 16 bzw. 20 PS im Programm. Mit dem Typ D schlug Hansa ein neues Kapitel auf.

Mit dem 10/30 PS-Typ stieß Hansa in die Mittelklasse vor und bot dabei technisch Besonderes: Wie der kleine Sporttyp B 7/20 PS hatte sein Motor im Zylinderkopf hängende Ventile, was bessere Kraftstoffausnutzung und mehr Drehfreude verhieß.

Damit ließen sich nun merklich größere und schwerere Modelle antreiben und man sieht dem Typ D an, dass es sich um ein durchaus repräsentatives Automobil handelte. Hier haben wir ein Exemplar im Einsatz als Offizierswagen im 1. Weltkrieg:

Hansa Typ D 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier sind alle charakteristischen Elemente versammelt: der „Schnabelkühler„, der analog zu Horch ab 1913/14 verbaut wurde, die markentypischen Griffmulden in de Oberseite der Motorhaube und die sechs schmalen, nach hinten versetzten Luftschlitze.

In dieser Erscheinungsform findet sich der Hansa Typ D 10/30 auf etlichen Fotos jener Zeit, hauptsächlich im Einsatz beim Militär, als erstmal in großem Stil Autos fotografiert wurden.

Auch wenn Automobile nicht unmittelbar an der Front eingesetzt wurden – es sei denn zu Aufklärungszwecken – war auch das Dasein ihrer Insassen vom Risiko überschattet, dass sie bald den Angehörigen als „für’s Vaterland gefallen“ gemeldet wurden.

Jede Fahrt konnte die letzte sein, da wollte man noch einmal Familie und Freunden so gegenübertreten, wie man in Erinnerung zu bleiben wünschte: hier als stolzer Fahrer eines Automobils!

Hansa Typ D 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Wir können den Status eines Fahrers vor über 100 Jahren heute kaum ermessen. Er meisterte eine Maschine, die den noch im Kutschenzeitalter großgewordenen Zeitgenossen wie ein Wunder vorkam – an Magie nur übertroffen vom noch jüngeren Flugzeug.

Die damaligen Chauffeure waren sich ihres außergewöhnlichen Status bewusst und treten auf Fotos wie diesem entsprechend selbstbewusst und würdig auf. Hier begegnen sie uns auf der Höhe des Lebens, das zugleich vom alltäglichen Tod bedroht war.

Nun hatte der Fahrer auf dem hier gezeigten Foto, das uns Leser Klaas Dierks zur Verfügung gestellt hat, noch einen weiteren Grund, stolz zu sein. So fuhr er keinen Tourenwagen wie andere Kameraden von der Kraftfahrtruppe, sondern offenbar einen raren Sport-Zweisitzer auf Basis des Hansa Typ D 10/30 PS.

Ein vergleichbares Foto werden Sie, liebe Leser, andernorts schwerlich finden (und falls doch, her damit!). Mir ist aus der Literatur nichts dergleichen bekannt, auch wenn sich ein ähnlicher Stil bei einem früheren Hansa des Typs A von 1912 findet:

Hansa Typ A 6/16 PS von 1912; Reproduktion der Nachkriegszeit aus Sammlung Michael Schlenger

Gerade einmal zwei Jahre liegen zwischen diesen beiden Sport-Zweisitzern und doch wirken sie wie aus zwei verschiedenen Welten.

Der Hauptunterschied liegt in der Kühler- und Haubenpartie und in dem technischen Entwicklungssprung vom 16 PS-Seitenventiler zum fast doppelt so starken ohv-Aggregat.

Waren Automobile in Deutschland vor dem 1. Weltkrieg meist Spielzeuge sehr Vermögender, bewiesen sie nach Kriegsausbruch erstmals ihr Leistungsvermögen unter denkbar ungünstigen Umständen.

Danach sollte (fast) nichts mehr so sein wie zuvor. Doch ein Hauch der malerischen alten Welt, die 1918 unwiederbringlich verloren war und einem radikal funktionellen Zeitgeist wich, ist auf dieser Aufnahme des Hansa Typ D 10/30 PS aus Kriegszeiten zu spüren:

Hier hat sich ein feiner Geist hinter der Kamera eine wunderbar verwunschene Szenerie als Hintergrund ausgesucht, deren romantischer Frieden der an der Front tobenden Furie des Kriegs kaum ferner sein könnte.

Die uralte Treppe hätte sich ein Maler kaum besser ausdenken können, man könnte glatt in ein Bild von Carl Spitzweg geraten sein, wäre da nicht die Haubenpartie des Hansa, die vollkommen derjeinigen des weiter oben gezeigten Tourenwagens entspricht.

Das Foto war vielleicht ein letzter Gruß aus der Welt von gestern. Was nach dieser Aufnahme aus Auto und Fahrer wurde, wissen wir nicht. Geblieben ist uns Nachgeborenen ein Idyll, das uns daran erinnert, wie fragil die Verhältnisse der Gegenwart sind und dass unsere Welt in 100 Jahren ebenso verloren sein wird.

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Fuhr einst auch der Mufti: Horch „Salonlimousine“

Heute machen wir Bekanntschaft mit einer illustren Persönlichkeit – und das in zweierlei Hinsicht. Dazu drehen wir das Rad der Zeit über 100 Jahre zurück und finden uns mitten im Ersten Weltkrieg wieder.

Dort sind wir bei früherer Gelegenheit bereits eindrucksvollen Fahrzeugen im Dienst des Deutschen Reichs (oder auch Österreich-Ungarns) begegnet wie diesem:

Horch Tourenwagen, Baujahr: 1913/14, Aufnahme aus dem 1. Weltkrieg; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der trotz des wenig erbaulichen Umfelds beeindruckende Wagen war seinerzeit leicht als Horch von 1913/14 zu identifizieren – weniger wegen des Markenschriftzugs auf dem Kühler als wegen des neu eingeführten „Schnabelkühlers“ mit birnenfömigem Querschnitt.

Die drei schrägstehenden Luftschlitze in der Motorhaube sind ebenfalls typisch für die Wagen der sächsischen Luxusmarke jener Zeit. Dummerweise finden sich genau diese Merkmale in so unterschiedlichen Motorisierungen wie 8/24 PS, 10/30 PS, 14/40 PS, 18/50 PS und 25/60 PS – nur anhand der Proportionen konnte man die Modelle auseinanderhalten.

Speziell in der Ansicht von vorn ist es praktisch unmöglich, sich auf eine der Varianten festzulegen, insbesondere wenn es sich um einen Tourer handelt.

Das Bild ändert sich, wenn man eine der luxuriösen Versionen mit geschlossenem Aufbau vor sich hat – idealerweise auf einer Abbildung, die den Wagen eher von der Seite zeigt:

Horch „Salonwagen“ Typ 14/40 PS oder darüber, Baujahr ab 1914: Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Das Foto dieses mächtigen Wagens verdanken wir einmal mehr dem Spürsinn von Leser und Sammlerkollege Klaas Dierks, der das Auto auch gleich als Horch einordnete.

Soviel Treffsicherheit ist alles andere als selbstverständlich, besitzt dieses Exemplar doch nicht den zeittypischen Schnabelkühler, mit dem Horchs ab 1913 meist daherkamen.

Dennoch besteht an der Identifikation kein Zweifel. So finden sich ab 1914 auch Abbildungen von Horch-Exemplaren mit genau solch einem Spitzkühler, den man damals eher von Benz, Daimler und Opel gewohnt war.

Leider ist hier nicht zu erkennen, ob die Spitzkühlerversion eine „Horch“-Plakette (bzw. zwei davon) trug, wie das nach dem 1. Weltkrieg eine Weile üblich sein sollte.

Dasselbe gilt auch für die wenigen Fotos in der Literatur, die solche frühen Spitzkühler-Horchs zeigen.

Stellt sich die Frage, ob man aus dieser Perspektive eher eine Aussage zur Motorisierung treffen kann. Nun, mit der gebotenen Vorsicht meine ich, dass das tendenziell möglich ist.

Gegen die kleinen Typen 8/24 PS und 10/30 PS (beide seit 1911 im Programm) spricht zum einen die enorme Länge der Haube – darunter befand sich wohl kaum nur ein Aggregat mit 2,1 oder 2,6 Litern Hubraum.

Zum anderen verlangte auch der schwere Aufbau als Chauffeur-Limousine eher nach einem stärkeren Antrieb als bei den meist als Tourenwagen verkauften Horch-Einstiegsmodellen.

Trotz einiger Defekte auf dem Abzug kann man hier einige hübsche Details studieren.

Der Fahrer, der uns hier etwas müde anschaut, hat die Frontscheibe nach vorn umgelegt – frische Luft hilft auch nach einer eher durchgefahrenen als durchgefeierten Nacht den Lebensgeistern auf die Sprünge.

Hinter ihm an der Karosseriesäule, die das weit auskragende und freischwebende Dach trägt, sieht man einen Schalltrichter, über den Anweisungen aus dem Innenraum übertragen wurden.

Wie damals üblich haben wir außerdem in Griffweite die Ballhupe sowie die Betätigungshebel für Handbremse und Gangschaltung.

Mit Riemen an den Felgen der beiden Ersatzräder befestigt sind eine Flasche mit Wasser für den Kühler und ein rechteckiger Kanister, der Motorenöl enthielt. In einem der typischen Dreieckskanister dahinter wurde Reservekraftstoff mitgeführt. Dahinter verbergen sich wohl Schaufel und Hacke für den Fall, dass man sich festfuhr.

Der Adler auf der Tür zum Passagierabteil verrät, dass dieser Horch bei einer Einheit der preußischen Armee eingesetzt war, deren genaue Bezeichnung sich hinter den Kürzeln am hinteren Seitenteil verbirgt (kann jemand die Bedeutung entschlüsseln?).

Genau dieser Aufbau findet sich in der Standardliteratur zu Horch (P. Kirchberg/J. Pönisch, Verlag Delius Klasing) auf Seite 126 der 2. Auflage als sogenannte „Salonlimousine“ wieder.

Der Zufall will es, dass der dort abgebildete Horch auch einen Spitzkühler besitzt. Dieser Wagen war ein mittelgroßer Typ 14/40 PS, der 1916 an einen illustren Besitzer ausgeliefert wurde – den damaligen türkischen Scheich ül-Islam.

Dazu muss man zweierlei wissen: Zum einen war das Osmanische Reich damals ein wichtiger Handelspartner und Verbündeter Deutschlands, zum anderen war der Scheich ül-Islam einer der ranghöchsten Würdenträger.

Hinter der Bezeichnung verbirgt sich das Amt des Mufti, der Fragen des Zusammenlebens aus religiöser Perspektive mit quasi rechtsverbindlichen Auskünften (Fatwa) beantwortete – eine sehr archaische und für Anhänger der europäischen Aufklärung völlig inakzeptable Tradition.

Vermutlich war der für den 1916 amtierenden Scheich ül-Islam angefertigte Horch 14/40 PS ein Geschenk des Deutschen Reichs an die verbündete Türkei. Möglicherweise ist ja etwas über den Verbleib des Wagens bekannt (Hinweise via Kommentarfunktion).

Jedenfalls diente genau solch ein Horch „Salonwagen“ gleichzeitig irgendwo im 1. Weltkrieg auf deutscher Seite einem hohen Militärangehörigen.

Gut möglich, dass es sich ebenfalls um einen Typ 14/40 PS mit 3,6 Litern Hubraum handelte, ich würde aber auch das 18/50 PS Modell nicht ausschließen, für dessen 4,7 Liter-Aggregat reichlich Platz unter der Haube war. Darüber gab es nur noch den 25/60 PS-Typ mit 6,4 Liter Hubraum, der aber weit seltener blieb als die schwächeren Modelle.

Da alle großen Horchs einen ähnlichen Radstand von rund 3,5 Meter aufwiesen und ansonsten im wesentlichen gleich gestaltet waren, wird sich dieses Detail nicht mehr klären lassen. Der Fahrer des heute vorgestellten Wagens konnte aber seinen Kameraden und Angehörigen stolz vermelden: „In so etwas fuhr auch der Mufti!“

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Verkehrte Welt: Impressionen vom Peugeot 201/301

Heute ist ein Vorkriegsauto an der Reihe, das ich erst einmal vorgestellt habe (hier) und das – zumindest in Deutschland – auch nicht sonderlich bekannt ist.

Wenn es dennoch kein Kandidat für die Kategorie „Fund des Monats“ ist, dann liegt das zum einen daran, das es letztlich ein Großserienfabrikat zeigt, zum anderen daran, dass mit den Bildern, die mir davon vorliegen, etwas „nicht stimmt“.

Natürlich handelt es sich um zeitgenössische Originalabzüge, aber an allen den Fotos, die ich heute zeige, ist etwas „verkehrt“ – jedenfalls nicht so, wie man sich die Welt von damals vorstellt.

Über den Autotyp will ich nicht viele Worte verlieren, denn man sieht nicht allzuviel von den Wagen auf diesen Aufnahmen und ungewöhnlich ist nichts daran.

Es geht um den Mittelklassetyp 201 von Peugeot in der ab 1934 gebauten Ausführung mit konventionellem 1,3 Liter Vierzylinder, der 28 PS leistete. Damit war er etwas stärker als der 201 in der 1931 vorgestellten Erstversion.

Das technisch auch sonst unauffällige Fahrzeug konnte in der ab 1934 gebauten Variante eines für sich verbuchen – eine gefällige Frontpartie mit schrägstehendem Kühler und seitlichen Luftklappen, die mit Chromleisten verziert waren:

Peugeot 201 von 1934/35; Ausschnitt aus Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Es hat mehrere Gründe, weshalb dieses Foto ausschnitthaft wirkt – vor allem den, dass es einer von mehreren Ausschnitten des Originals ist. Was ich mir bei diesem hier gedacht habe, sehen wir gleich.

Zunächst einmal ist festzuhalten, dass die Aufnahme trotz des unglücklich ins Bild ragenden Baumstamms einen ganz eigenen Reiz hat. Denn schnell lässt man sich hier von der Front des Peugeot ablenken, der ein Wappen mit dem Markennamen und der „201“ mittig auf dem Kühlergrill trägt.

Ganz klar geht der Charme dieses technisch mäßigen Fotos von der eleganten jungen Dame aus, die uns hier mit keck ins Gesicht gerücktem Hut anlächelt. „Ja, die Französinnen der Vorkriegszeit“, mag jetzt mancher denken, „leider passé“.

Leider vorbei ist schon richtig – nur in diesem Fall vorbei am Aufnahmeort. Denn diese charmante Situation entstand Mitte der 1930er Jahre nicht etwa in Frankreich, sondern in deutschen Landen – dem Kennzeichen nach zu urteilen vielleicht sogar in Berlin:

Peugeot 201 von 1934/35; Originalfoto aus Sammlun Michael Schlenger

Ein solcher Peugeot war in den 1930er Jahren in Deutschland eine ziemlich seltene Angelegenheit.

Was mag den Besitzer bewogen haben, die damals nicht gerade bescheidene Auswahl inländischer Fabrikate zu ignorieren und ein französisches Fahrzeug zu bevorzugen, das im Unterschied zu Citroen nicht einmal im Inland gebaut worden war?

Man wird persönliche Bezüge vermuten dürfen – seien sie geschäftlicher Art oder privater Natur. Vielleicht hatte ja ein Franzose hierzulande eine deutsche Frau geheiratet, wollte aber zumindest in automobiler Hinsicht der Heimat treu bleiben.

Wer meint, dass es in der unmittelbaren Vorkriegszeit überall nur streng patriotisch zuging, wird hier eines Besseren belehrt. Verkehrt ist jedenfalls die Vorstellung, dass die Welt so eindimensional war, wie sie die damalige Regierungspropaganda zeichnete.

Die Erwartungen bricht auch der Bau im Hintergrund: ein mehrstöckiges Wohnhaus im Stil der Moderne, der sich nach bald 100 Jahren hartnäckig hält, obwohl er meist nur die gleichen Kästen (verklärend „Kuben“ genannt) hervorbringt.

Der Kontrast zwischen den organischen Formen des Peugeot und der Nüchternheit des Gebäudes dahinter könnte kaum größer sein. Für mich geht beides nicht zusammen, obwohl Vorkriegsautos sonst mit jedem historischen Stadbild harmonieren.

Verkehrt ist auch einiges auf dem zweiten Foto, denn hier sind die zarten deutsch-französischen Bande, die sich auf dem ersten erahnen lassen, ins Gegenteil verkehrt.

Zum einen findet sich hier ein Peugeot 201 in einer Welt wieder, für die er von seinen Erbauern ganz sicher nicht gedacht war – im Krieg auf deutscher Seite:

Peugeot 201 von 1934/35; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die beiden nicht mehr ganz jungen Wehrmachtssoldaten, die sich hier während einer Marschpause „Anzugserleichterung“ genehmigt haben, mögen einer Nachschub- oder Wartungseinheit angehört haben – sonderlich martialisch wirken sie jedenfalls nicht.

Vielleicht haben die beiden dieses ausdrucksstarke Bild mit einem Selbstauslöser gemacht. Der versonnene Blick des Mannes vor dem grau überlackierten Kühler verleiht der Aufnahme etwas Melancholisches. Vermutlich wäre er gern woanders gewesen.

Doch mag sich die Welt des Krieges selbst hinter der Front noch so verkehrt angefühlt haben – ein Entrinnen gab es für diese Männer nicht. Annäherungen an die Normalität wie hier waren von kurzer Dauer. Das Schicksal hatte die beiden offenbar mit einem in Frankreich erbeuteten Peugeot 201 zusammengebracht, auf Gedeih und Verderb.

Übrigens wurden französische Wagen speziell von Peugeot und Citroen bei der Truppe sehr geschätzt – man findet sie auf zeitgenössischen Fotos deutscher Landser immer wieder in den unmöglichsten Situationen und selbst bei Kriegsende waren etliche noch immer auf deutscher Seite im Einsatz.

Manche wurden bei der Kapitulation irgendwo mit leergefahrenem Tank zurückgelassen, andere waren schon beim deutschen Rückzug aus Frankreich 1944 dort verblieben. Einer dieser ehemaligen deutschen Beutewagen ist vielleicht hier zu sehen:

Peugeot 301 von 1934/35; Ausschnitt aus Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Nur auf den ersten Blick sieht hier alles so aus, wie man sich das wünscht: Ein Peugeot 201 mit elegantem Cabrioaufbau und Weißwandreifen, eine junge Mutter im langen Sommerkleid und ein Bub in sehr kurzen Hosen (wenn überhaupt).

Auch der Hintergrund will dem Klischee vom ungestörten Vorkriegsidyll entsprechen. Aber Moment: solche Weißwandreifen gab es doch gar nicht serienmäßig bei Peugeot und ist in besagtem Wappen auf dem Kühlergrill als erste Zahl nicht eine „3“ zu lesen?

Verkehrte Welt, in der Tat: Dieser Wagen ist kein Peugeot 201, sondern der parallel erhältliche und mit 1,5 Liter-Vierzylinder etwas stärker motorisierte Typ 301. Äußerlich ist er ansonsten kaum vom kleinen Bruder 201 zu unterscheiden – oder vielleicht doch?

Verkehrt jedenfalls sind die Weißwandreifen – hier hat jemand zu einem späteren Zeitpunkt Hand angelegt. Das war wahrscheinlich erst nach Kriegsende, denn dieses Foto trägt umseitig den Vermerk „1949“.

Dahin ist das Idyll der Vorkriegszeit – dabei wäre es so schön gewesen. Ist es aber ohnehin nicht, denn auf dem Originalfoto ist etwas zu sehen, was optisch die Szene ruiniert:

Peugeot 301 von 1933/34; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Verkehrte Welt! Wie kommt man nur darauf, als erwachsener Mann im besten Alter zu einem langärmeligen Hemd eine kurze Hose zu tragen? Unerträgliche Hitze kann es nicht gewesen sein, wie der makellose Aufzug des gut gebräunten Nebenmannes beweist.

Nun genießen die Deutschen bei unseren französischen und italienischen Nachbarn schon lange den fragwürdigen Ruf, bei jeder unpassenden Gelegenheit in kurzen Hosen aufzukreuzen. Von daher bin ich geneigt, hier ebenfalls einen Landsmann zu sehen.

Gründe, weshalb Deutsche kurz nach dem Krieg an die Stätten ihres „Wirkens“ westlich des Rheins zurückkehrten, gab es durchaus – denn in einigen Fällen waren die Besatzer den Einheimischen wohlgesonnen.

Das galt zwar offiziell als „verkehrt“, aber ich weiß aus der eigenen Familiengeschichte, dass noch auf dem Rückzug 1944 auf deutscher Seite Entscheidungen auf unterer Führungsebene zugunsten der Zivilbevölkerung getroffen wurden, die sonst unter die Räder der alliierten Kriegsmaschinerie gekommen wäre.

Nach dem Krieg konnten solche Begebenheiten, die im Schatten von Kriegsverbrechen leider unerwähnt bleiben, Anlass zur Wiederannäherung unter einstigen Gegnern sein.

Vielleicht haben wir hier ein Zeugnis eines solchen Besuchs in Frankreich wenige Jahre nach dem Krieg. Das beim Militär übliche Zweidornkoppel, das der Mann in kurzen Hosen trägt, könnte ein Indiz dafür sein, dass dieses Foto eine Vorgeschichte hat.

Dann würde sich der erste, unvorteilhafte Eindruck glatt ins Gegenteil verkehren. Doch selbst wenn die Dinge anders lagen, bleibt als Fazit dieser Dokumente: verkehrte Welt!

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Plötzlich steht die Zeit still: Phänomen 16/45 PS

Historische Fotografien von Vorkriegsautomobilen haben im Unterschied zu modernen Aufnahmen restaurierter Wagen eine eigene Magie. Die technische Qualität und der Erhaltungszustand der Abzüge sind dabei oft zweitrangig – es ist der beim Auslösen der Kamera eingefrorene Moment, der uns noch viele Jahrzehnte später in seinen Bann zieht.

Plötzlich sind wir Zeuge von Situationen, die längst vergessen sind, schauen Menschen ins Antlitz, deren Dasein längst vergangen ist. Der Wunsch, das Rad der Zeit anzuhalten, Augenblicke aufzubewahren, war und ist das Hauptmotiv der Alltagsfotografie.

Dass jedoch in Wahrheit nichts bleibt, wie es ist, und der Einzelne Spielball eines kaum begreiflichen Geschehens war und ist, das scheint mir eine der Botschaften von Dokumenten wie diesem zu sein, das vor über 100 Jahren im 1. Weltkrieg entstand:

Phänomen Tourenwagen (wohl Typ 16/45 PS); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Aufnahmen von Automobilen aus dem 1. Weltkrieg sind natürlich alles andere als selten. War der Kraftwagen zuvor noch Privatvergnügen weniger Betuchter, begegnet man Autos ab Kriegsausbruch 1914 erstmals in großer Zahl im Alltagseinsatz.

Personenwagen bewährten sich nicht nur in Kurier- und Aufklärungsfahrten, sondern dienten höheren Offizieren als privilegiertes Transportmittel – so auch hier:

Bereits der Stander am linken Vorderkotflügel ist ein Hinweis darauf, dass wir es mit dem Fahrzeug eines hochrangigen Kommandeurs zu tun haben. Dieser dürfte rechts von dem Wagen im Mantel und mit Reitstiefeln abgelichtet zu sein – wir begegnen ihm später nochmals.

Während über Zeit und Aufnahmeort Unklarheit herrscht – der sandige Boden und die Holzarchitektur geben einen groben Hinweis auf Osteuropa – ist die Marke des Tourenwagens schnell ermittelt.

So ist auf dem Originalabzug die runde Kühlerplakette klar lesbar: „Phänomen“ steht dort in leicht ansteigenden Lettern geschrieben. Der Marke aus dem sächsischen Zittau sind wir hier zuletzt in Form des Typs 10/30 PS begegnet.

Auch wenn heute nur noch Spezialisten diesen Wagen mit dem oben abgerundeten Kühlergehäuse und dem mittleren Abwärtsschwung der Kühlereinfassung kennen, findet er sich auf Weltkriegsaufnahmen gar nicht selten.

Folgendes Beispiel veranschaulicht gut die moderaten Proportionen dieses Standardmodells von Phänomen:

Phänomen Typ 10/30 PS Tourenwagen; Ausschnitt aus Originalabzug aus Sammlung Michael Schlenger

Der Phänomen-Tourer auf dem eingangs gezeigten Foto entspricht zwar formal in allen Details dem Typ 10/30 PS, dem Nachfolger des 1912 eingeführten Typs 10/28 PS. Doch ist er deutlich höher, was auf eine wesentlich stärkere Motorisierung hindeutet.

Die ältere Standardliteratur zu deutschen Wagen weiß zwar nichts von einem größeren und leistungsfähigeren Phänomen aus der Zeit vor 1919. Sie erwähnt aber ein Modell 16/45 PS, das nach dem Krieg gebaut wurde.

Zum Glück gibt es zu Phänomen und weiteren Fahrzeugherstellern aus der Region entlang der Neiße seit 2013 eine Publikation, die sich der Marke aus unterschiedlichen Blickwinkeln nähert und m.W. die bislang beste Quelle zu deren PKW-Typen ist.

Pioniere des Automobils an der Neiße, hrs. vom Zittauer Geschichts- und Museumsverein, Verlag Gunter Oettel

Demnach wurde der große Phänomen-Typ 16/45 PS bereits im 1. Weltkrieg an das deutsche Heer ausgeliefert – ein Exemplar davon dürften wir hier vor uns haben.

Genau gewusst hätte es gewiss der Fahrer des Wagens, der uns hier ernst anschaut:

Er hat die Augen etwas zusammengekniffen, denn es war ein sonniger Sommertag, als dieses Foto entstand – vom Datum auf der Rückseite ist leider nur „6. August“ lesbar.

Interessant sind dabei die Ketten auf den Hinterrädern, die auf ein schwieriges Gelände ohne befestigte Straßen hindeuten – man denkt hier spontan an Balkan oder Russland.

Wer schon immer wissen wollte, warum junge Männer in der warmen Jahreszeit mit heruntergekurbelter Scheibe und auf der Türoberkante aufgelegtem Ellenbogen durch die Gegend fahren, findet hier die Erklärung: um den Mädels hinterherhupen zu können.

Spaß beiseite: Natürlich war vom Fahrer nicht nur der Hupenball zu bedienen, sondern auch die ebenfalls außenliegenden Hebel für Gangschaltung und Handbremse, deren senkrecht nach oben ragende Griffe hier bis zum Unterarm des Fahrers reichen.

Doch abgesehen von solchen Notwendigkeiten könnte man sich diesen adretten Burschen ohne Schirmmütze ohne weiteres in einem Roadster der 1950er/60er Jahre vorstellen. Die wird er aber erst in fortgeschrittenem Alter erlebt haben, wenn überhaupt…

Gut gefallen mir auch die Charaktertypen neben dem Wagen, die sich hier gekonnt in Szene gesetzt haben und in einem Film oder auf der Bühne gute Figur machen würden:

Der in Ehren ergraute „Chef vom Janzen“ schaut entschlossen in die Ferne – wo mögen wohl gerade seine Gedanken sein? Neben ihm vielleicht sein Adjutant, der sich erkennbar Meriten nicht nur in der Schreibstube oder beim Nachschub erworben hat.

Perfekt in Pose geworfen hat sich der schneidige Offizier ganz rechts, der ebenfalls Träger des Eisernen Kreuzes ist, das für besondere Tapferkeit im Feld vergeben wurde. Kühn geht sein Blick zum Horizont, wo neue Taten und/oder der Tod bereits warten.

Mein Favorit ist jedoch der auf den ersten Blick unmilitärisch wirkende kahlrasierte Schnauzbartträger auf der Treppe, der als einziger nicht in die Kamera schaut, sondern gerade in sich versunken nach unten blickt, als ginge ihn die ganze Sache nichts an.

Er scheint mir ein einfacher Mannschaftsrang zu sein, der eine Jacke trägt, wie sie für den Stuben- und Revierdienst ausgegeben wurde, also für interne Reinigungs- und Wartungsarbeiten (Spezialisten unter den Lesern mögen mich korrigieren).

Dieser slawisch wirkende Yul Brynner-Typ mit Bart fällt zwar in mancher Hinsicht aus dem Rahmen, doch muss er irgendwie zu der hier versammelten Truppe gehört haben, sonst wäre er nicht auf diesem Foto mit festgehalten worden.

Unabhängig vom Rang galt für die Herren einst die Anweisung des Fotografen „Stillgestanden!“ Und tatsächlich: für vielleicht eine halbe oder ganze Sekunde der Belichtung steht plötzlich für alle die Zeit still.

Was davor war und was danach, werden wir nie erfahren, doch für diesen Augenblick sind wir der Welt von vor über 100 Jahren und dem eindrucksvollen Phänomen-Tourer des Typs 16/45 PS so nahe, wie das überhaupt nur möglich ist.

Diese Momentaufnahme aus einer Zeit gewaltiger Umbrüche, von denen der Einzelne nur einen winzigen Ausschnitt mitbekam, wirft bei mir die Frage auf, ob wir uns selbst bereits inmitten eines epochalen Wandels befinden, den unsere Nachfahren in 100 Jahren anhand von Relikten unseres Daseins atemlos studieren werden…

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Vor 105 Jahren: Mit dem „Mercedes“ in Metz

Das Foto, das ich heute vorstelle, mag für die Freunde der frühen Automobile wenig Aufregendes bieten – für die Kenner der gut dokumentierten Marke Mercedes schon gar nicht.

Doch mag es für diejenigen interessant sein, für die über 100-jährige Veteranenwagen so fremdartig sind wie ein Raumschiff von einem anderen Stern. Dabei ist dieser – der Stern – ein hervorragender Einstieg in die automobile Welt vor dem 1. Weltkrieg.

Von dem vertrauten Symbol ausgehend wird man feststellen, das die Autos jener Zeit gar nicht mehr so fremdartig wirken, wenn man sich einmal auf sie einlässt. Tatsächlich sind sie „form follows function“ in Perfektion, nur kannte man den Slogan noch nicht.

Zunächst möchte ich an ein anderes Mercedes-Foto erinnern, das ich vor längerem hier besprochen habe – zufälligerweise ebenfalls eines aus dem Kriegsjahr 1915:

Daimler „Mercedes“ 28/60 PS, Juni 1915; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dass das ein Mercedes sein muss, verrät einzig und allein der spitz zulaufende Kühler mit jeweils einem Stern pro Seite. Alle übrigen Details des Aufbaus könnten von einem beliebigen Oberklassewagen aus deutscher Produktion stammen – damals gab es ja noch eine ganze Reihe solcher Hersteller, die heute kaum noch einer kennt.

Während der Stern seit 1909 Erkennungszeichen von Mercedes-Wagen war, taucht der Spitzkühler erst 1912 bei einzelnen Modellen auf. Da das oben abgebildete Fahrzeug noch nicht über elektrische Positionslichter verfügt, dürfte es kaum später als 1913 entstanden sein – als Daimler optional bereits vollelektrische Beleuchtung anbot.

Die Größe des Wagens ist der einzige Indikator für die Motorisierung – es könnte sich um einen Typ 28/60 PS (oder darüber) gehandelt haben, genau lässt sich das nicht sagen. Nun aber zum „Star“ des heutigen Blog-Eintrags:

Mercedes ab 1912, Oktober 1915; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme verschickte einst ein in der Gegend von Metz (heute: Frankreich) stationierter deutscher Soldat an seine Frau oder Verlobte – leider ohne weitere Informationen außer dem umseitigen Feldpoststempel von Oktober 1915.

Metz gehörte seit 1871 (wieder) zum Deutschen Reich und war damals ein bedeutender Stützpunkt an der Westfront. Viele Militärangehörige waren in der mehrheitlich deutschsprachigen Stadt untergebracht, so auch der Fahrer „unseres“ Mercedes.

Gleich auf den ersten Blick fällt ins Auge, dass der Wagen zwar einen Stern auf dem Kühler trägt, dieser aber flach und nicht spitz ausgeführt ist.

Auch wenn Flach- und Spitzkühler vor dem 1. Weltkrieg eine Weile parallel verbaut wurden, haben wir hier ein Indiz für eine eher frühe Entstehung bzw. eine schwächere Motorisierung, bei der der als sportlich geltende Spitzkühler nicht so gefragt war.

Ein weiteres Element, das gegen eine Entstehung ab 1913/14 spricht, ist das völlige Fehlen elektrischer Lichter. Selbst die Positionsleuchten links und rechts der Frontscheibe – gewissermaßen das „Standlicht“ von einst, waren Petroleumlampen.

Was wie ein primitives Relikt aus dem Kutschzeitalter erscheint, bewährte sich beim frühen Automobil noch recht lange als einfach und effektiv, bis die Elektrifizierung der Beleuchtung die Oberhand gewann.

Die Form der mächtigen Scheinwerfer verrät, dass diese mit Karbidgas (Acetylen) betrieben wurden. Das Gas wurde nicht etwa in Druckbehältern mitgeführt, sondern bei Bedarf in Karbidgasentwicklern an Bord produziert.

Diese kleinen Chemiefabriken befanden sich fast immer auf einem der Trittbretter und versorgten über Leitungen alle angeschlossenen Lichter mit Gas.

Es sei daran erinnert, dass der Betrieb von Karbidgasanlagen zwar etwas Verstand und Umsicht erfordert, doch bei Fahrrädern noch bis in die 1930er Jahre üblich war. Wenn Uroma einst damit im Alltag zurechtkam, darf man sich heute auch daranwagen.

Allerdings finden sich – wie im Fall der noch komplexeren Holzvergaser-Anlagen – heute kaum mehr historische Automobile, die eine funktionsfähige Gasbeleuchtung besitzen. Vielleicht kennt ja jemand ein Beispiel – außer bei historischen Fahrädern ist mir das in natura noch nicht begegnet.

Besagter Karbidgasentwickler ist bei dem Mercedes aus Metz übrigens der Kasten vorn auf dem Trittbrett. Interessanter finde ich hier allerdings zwei weitere Elemente:

Ein schönes Detail ist zum einen der genau der Form der Felgen angepasste (wohl metallene) Werkzeugkasten, der in die beiden Ersatzräder eingesetzt ist.

Begegnet ist mir so etwas noch nie. Für eine Frontimprovisation erscheint mir das fast zu liebevoll angepasst, auf der anderen Seite war so etwas für damalige Handwerker allenfalls eine Art Gesellenstück. Oder doch ein Werkszubehör von Daimler?

Möglicherweise findet sich etwas Vergleichbares auf anderen Fotos. Daimler-Wagen gehören nicht zu den Schwerpunkten meiner Sammlung, sodass ich hier kein repräsentatives Bild davon habe, was einst üblich war und was nicht.

Zum anderen sehen wir auf obigem Ausschnitt eine ungewöhnlich ausgeführte Hupe. Der Hupenball zur Betätigung vom Lenkrad aus ist vollkommen konventionell, doch welchen Weg nimmt das Rohr eigentlich, nachdem es hinter den Ersatzrädern verschwunden ist?

Mir scheint es in einem Bogen zu der „Schnecke“ zurückzukehren, die sich oberhalb des Karbidgasentwicklers befindet. Bemerkenswert ist dort der Schallaustritt – nämlich nicht in Form eines Trichters sondern einer Kugel, die Löcher in mehrere Richtungen aufweist.

Auch das sehe ich hier zum ersten Mal. Bestimmt erfüllte diese Lösung ihren Zweck, sonst hätte man sie nicht gewählt, aber was spricht eigentlich für eine solche Ausführung?

Fragen über Fragen. Wer sich außerdem fragt, was all‘ die Hebel zu bedeuten haben, die hinter der Hupe an der Außenseite angebracht sind, dem kann indessen geholfen werden:

Dem Fahrer am nächsten ist der Schalthebel, davon befindet sich die Handbremse mit Arretiergriff. Der „Hebel“ weiter hinten war wohl der Holzgriff eines Spatens oder einer Schaufel, die für den Fall mitgeführt wurde, dass man sich festgefahren hatte.

Zuletzt sei auch der Soldat selbst gewürdigt, der dieses interessante Foto vor 105 Jahren auf die Reise in die Heimat schickte. Er trägt die für Kraftfahrer typische zweireihige Lederjacke sowie Schirmmütze mit Schutzbrille.

Im Moment der Aufnahme hielt er das mächtige Lenkrad fest in der Hand, wie das bei Fotos aus jener Zeit oft der Fall war. Man war zurecht stolz darauf, einen solchen Kraftwagen zu beherrschen und zu bändigen – damals ein Handwerk, das Gefühl und Entschlossenheit gleichermaßen verlangte.

Dass diese Aufnahme an die Frau oder Verlobte daheim ging, dafür spricht der Ring an der Hand, der uns hier im Herbstlicht entgegenleuchtet. Was mag der Fahrer dieses Mercedes in dem Moment gedacht haben, als der Fotograf den Auslöser betätigte?

Wir wissen es nicht, aber er wollte damit gewiss eine zuversichtliche Botschaft nach Hause senden, wo jemand man um ihn bangte. Doch kann dies auch das letzte Bild von ihm gewesen sein, das die Heimat erreichte.

Jemand muss dieses Foto sehr lange aufgehoben haben. Die letzten Besitzer der Aufnahme dürften der Generation danach angehört haben und nun scheint offenbar niemand mehr da zu sein, der noch etwas damit anfangen kann.

Doch halt: Dieses Bild, dieser Wagen und sein Fahrer vermögen uns auch nach 105 Jahren sehr viel zu sagen. Was genau es ist, das bleibt jedem selbst überlassen…

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