Fund des Monats: Ein NAG Elektrowagen um 1910

Elektromobilität kann eine tolle Sache sein – das weiß ich sogar aus eigener Erfahrung.

Gerade heute war ich mit meiner Akku-„Vespa“ in meinem Heimatstädtchen Bad Nauheim unterwegs. Man ist wieselflink als erster von der Ampel weg, während mancher Autofahrer noch nach dem Gang sucht, sofern er überhaupt schon bemerkt hat, dass „grün“ ist.

Im Akkufach unter der Sitzbank ist Platz für zwei tragbare Batterien, die zusammen für 80 km/h Reichweite gut sind. Meist habe ich nur eine installiert, der Platz daneben reicht, um kleine Einkäufe und Postsendungen unterzubringen.

Die Leute mögen das Teil, sieht es doch fast so aus wie eine klassische Vespa von Piaggio aus den 1960er Jahren. Der Chinamann macht’s möglich – und einige Umbauten von eigener Hand.

„Vespa“ und „50 Special“ steht am Heck, was passt, denn knapp 50 Sachen schafft das Teil, das mit Moped-Kennzeichen unschlagbar günstig im Unterhalt ist.

Die wohlgeformte Karosserie ist aus Kunststoff – somit leicht und billig. Bloß die Akkus gehen ins Geld – 1.500 EUR waren dafür zu berappen, mehr als für den Roller selbst, der ein achtbares Fachwerk, passable Reifen und zupackende Scheibenbremsen besitzt.

Das Beste aber ist: Ich habe das Gerät zu 100 % selbst bezahlt! Dagegen mit dem Geld anderer Steuerzahler sich ein Elektrofahrzeug sponsern lassen – das ist das Gegenteil von sozial, wenn Sie wissen, was ich meine.

Dies als Vorrede für den Fall, dass einer meint, ich sei ein notorischer Verbrenner-Fanatiker. Das stimmt zwar, ist aber nur die halbe Wahrheit. Auch bei meinen Scalextric-Rennautos schwöre ich auf Elektrovortrieb…

Es kommt aber noch besser: Ich liebe die Ästhetik von Elektrowagen! „Nun ist auch er zur „Alles-mit-Strom“-Sekte übergelaufen„, mögen Sie jetzt denken.

Tatsächlich, aber unter einer Bedingung – jetzt können Sie aufatmen – es muss ein Vorkriegsmodell sein! Denn das sieht doch einfach umwerfend gut aus, oder?

NAG-Elektrowagen um 1910; originale Postkarte aus Sammlung Stefan Rothe

Dieses Dokument verdanke ich Stefan Rothe, in dessen Sammlung sich diese Postkarte von 1911 befindet, die ein gewisser W. Friedländer an einen Herr Fröbus in Berlin sandte.

Was er ihm schrieb, das erfahren Sie gleich, doch zuvor noch ein Blick auf das Gefährt mit der schön gestalteten „Motorhaube“ im Stil früher französischer Fabrikate.

Darunter befand sich so gut wie nichts, immerhin hatte man dort einigen Stauraum bei Bedarf. Das mächtige „NAG“-Emblem lässt keinen Zweifel daran, dass dies ein Fabrikat der gleichnamigen Berliner AEG-Tochter war.

NAG war längst als Hersteller hocklassiger Wagen mit Benzinmotor etabliert, als man 1907 ein Elektrofahrzeug vorstellte, welches einige Jahre im Programm blieb.

Diese Ausführung dürfte ab 1910 entstanden sein, vorher gab es den schräg nach oben weisenden „Windlauf“ nur bei Sportfahrzeugen:

Sonderlich viel ist über die NAG-Elektroautos nicht in Erfahrung zu bringen – sie scheinen vor allem als Taxis im relativ ebenen Berlin unterwegs gewesen sein, blieben aber selbst dort gegenüber Benzin-Droschken in der Minderzahl.

Die Hauptgründe waren – kaum überraschend – die geringe Reichweite, die langen Ladezeiten und die Alterung der Akkumulatoren, die übrigens mittig im Chassis untergebracht waren.

Hier haben wir eine entsprechende Abbildung aus „Das Weltreich der Technik“ von Artur Fürst, veröffentlicht 1924 (offenbar war der NAG damals immer noch repräsentativ für Elektrowagen):

Zurück zur Fotokarte aus der Sammlung von Stefan Rothe.

Dort suggeriert der Absender, dass er die Insassen des abgebildeten NAG-Elektroautos kenne, doch das scheint mir ein Scherz zu sein – es gibt nämlich weitere Aufnahmen desselben Wagens nur mit der Dame am Steuer (siehe hier).

Aber lesen Sie selbst, was er umseitig in lässigem Ton heruntergeschrieben hat:

NAG-Elektrowagen um 1910; originale Postkarte aus Sammlung Stefan Rothe (Rückseite)

Ich vermute, dass es sich bei dem Foto des NAG um ein beliebtes Motiv handelte, das eine bekannte Schauspielerin, Sängerin oder Tänzerin als Werbeikone am Steuer zeigt.

Für eine durchschnittliche Berlinerin – Lokalpatrioten überlesen das besser – sieht sie nämlich entschieden zu hübsch aus. Wer sie und ihre Beifahrerin gewesen sein mögen, das mag vielleicht jemand sagen können.

Der afrikanischstämmige Diener auf dem hinteren Notsitz scheint mir nachträglich retuschiert zu sein – evtl. war sein Kopf verwackelt wiedergegeben. Jedenfalls wirkt sein Gesicht ein wenig wie hineinmontiert – womit er erkennbar nicht glücklich war:

Wie gesagt, kann ich zu dem Wagen selbst wenig sagen, außer dass er mir sehr gut gefällt. Auch in den USA sahen solche Elektroautos (für kurze Distanzen und vorwiegend für Damen bestimmt), oft sehr ansprechend aus.

Ihnen fehlte das Maschinenhafte, nirgends tropfte Öl, es roch nicht nach Benzin und die Geräusche beschränkten sich auf die, welche das Abrollen der Reifen verursachte.

Doch das alles genügte nicht, solange die Mobilität von Elektrofahrzeugen eingeschränkt war oder – wie in den besten Exemplaren heute – annähernd ebenbürtig ist, aber für Normalsterbliche selbst mit heftigsten Subventionen unbezahlbar bleibt.

Fazit: Elektromobilität kann eine wunderschöne Sache sein, wie der heute vorgestellte NAG beweist. Doch nach über 100 Jahren sollte sie sich schon von selbst dort durchsetzen können, wo sie wirklich Vorteile bietet.

Intensiver Wettbewerb unter Marktbedingungen – mit allen Chancen und Risiken auf privater Seite – ist die Voraussetzung für die Entwicklung und Durchsetzung überlegener und nutzerorientierter Technologie, nicht staatliche Planung und Reglementierung.

Unser gesamter Wohlstand, unser gesamter Alltag basiert darauf, doch das scheint in unseren Tagen hierzulande in Vergessenheit geraten zu sein.

Elektromobilität muss sich im freien Spiel der Kräfte beweisen – ihr immer noch drastisch erhöhter Preis signalisiert, dass sie unnötig Ressourcen kostet, damit ist sie das genaue Gegenteil von Ökologie.

Mit meiner elektrischen Pseudo-Vespa made in China fühle ich mich wohl, und ihre Schönheit ist unbestritten. Aber ich habe noch nie eine andere gesehen. Und das sagt eigentlich alles.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Kirschenklau geklärt nach 99 Jahren: Ein Benz 8/20 PS

Haben Sie auch den grandiosen Pfingstsonntag genossen?

Oder haben Sie sich schlecht gefühlt, weil das Wetter nach einem kühlen und regenreichen Frühjahr endlich einmal wieder richtig schön ist und das ja nur am von Ihnen persönlich verursachten Klimawandel liegen kann?

Wer sich in der Rolle des Sünders gefällt, muss längst kein Mitglied der christlichen Kirche mehr sein – es genügt neuerdings völlig, ein Automobil mit Verbrennungsmotor zu fahren.

Zwei Formen des Ablasses gibt es in dem Fall: Entweder Sie kaufen sich ein Elektroauto, dessen Auspuff sich an dem Kohle- oder Gaskraftwerk befindet, das dann präzise den zusätzlichen Strom liefert, den Sie zum Laden anfordern – dann belügen Sie sich halt selbst.

Oder Sie bekennen sich schuldig und fahren weiter, verzichten aber zum Ausgleich dafür an anderer Stelle auf sündhaftes Tun. Wie sich das bewerkstelligen lässt, das erfahren Sie heute wie gewohnt kostenlos in meinem Blog, dem nichts Menschliches fremd ist.

Nebenbei werden Sie Zeuge der Aufklärung eines Diebstahldelikts, welches sich an Pfingsten vor 99 Jahren zutrug. Ob die Welt dadurch vollkommener wird, bezweifle ich zwar, aber eine Genugtuung ist es doch, nach so langer Zeit Spitzbuben beiderlei Geschlechts auf die Schliche gekommen zu sein.

Diese hatten sich 1924 als harmlose Automobilisten getarnt und einen in der ersten Hälfte der 1920er Jahre ziemlich unauffälligen Wagen beschafft – einen Benz 8/20 PS.

Das war das Einstiegsmodell der Traditionsmarke, welches an den 1912 eingeführten Typ 8/20 PS anknüpfte. Hier haben wir ein Foto dieses Modells, das – wie es der Zufall will – an Pfingsten 1914 aufgenommen wurde:

Benz 8/20 PS Tourenwagen (1912-14); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Nach dem 1. Weltkrieg erhielt der Benz 8/20 PS eine modernisierte Karosserie – zu erkennen am modischen Spitzkühler, flachem Windlauf und elektrischen Scheinwerfern.

Technisch tat sich an dem Wagen hingegen fast 10 Jahre nichts – ungewöhnlich für eine Zeit, in der etwa alle fünf Jahre größere Fortschritte zu verzeichnen waren. Aber Benz war nur selten durch Innovation aufgefallen – vom legendären Erstling anno 1885 abgesehen.

So kam es, dass der an Pfingsten 1924 eingesetzte Benz 8/20 PS äußerlich anders daherkam, aber unter der Haube dieselbe brave Technik eines 2 Liter-Vierzlinders mit seitlich stehenden Ventilen bot wie sein Vorgänger zehn Jahre zuvor.

Einen entscheidenden Vorteil hatte er indes, nämlich einen im Unterschied zum Tourer festen Aufbau. Doch auch ohne diesen wären diese Diebe einst ans Ziel gelangt:

Benz 8/20 PS Tourenwagen (1919-21); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Da haben wir sie also erwischt – die frechen Kirschendiebe im Gewand solider Bürgerlichkeit!

Nun mögen Sie fragen, wie das zusammengeht – Pfingsten und Kirschenklau. Ich war selbst ein wenig erstaunt, doch je nach dem, wie Pfingsten (bzw. Ostern) fällt und in welcher Region wir uns bewegen, kann es dann durchaus schon bestimmte Kirschensorten geben.

Zum anderen steht es genau so auf der Rückseite des Abzugs – die Täter haben also anno 1924 leichtfertig Spuren hinterlassen (bloß die Reisepässe hatten Sie nicht verloren, sodass wir über ihre Identität nur spekulieren können).

Unzureichende Evidenz hält einen soliden Kommentator unserer Tage freilich nicht davon ab, sein Weltbild auf diese Situation zu projizieren.

Demnach muss der Herr mit der hellen Hose auf der rechten Seite ein berüchtigter Lebemann gewesen sein – nennen wir ihn Graf Rotz von der Backe – ein mit allen Wassern gewaschener Weltkriegsoffizier, der nur darauf wartete, vorbeikommendem Landvolk eins mit der Reitgerte überzuziehen.

Links neben dem Wagen steht seine Tochter Heidegard von Hochmuth Schmiere. Sie kleidet sich modern, weiß aber, dass man als Frau immer noch am besten durchkommt, wenn man den Herren das Gefühl lässt, die Hosen anzuhaben.

Ihr ist jedes Mittel recht, um an bestes Material für ihre legendären Kuchen zu gelangen, mit denen sie bislang jeden Verehrer beeindruckt hat. Freilich macht sie sich bei der Rohstoffbeschaffung die Finger nicht persönlich schmutzig, das überlässt sie bewährtem Personal.

Selbiges müht sich derweil nach Kräften auf dem Benz ab, um an den begehrten „Stoff“ zu gelangen, damit die Herr- und Frauschaften zufrieden sind.

Nun macht schon, oder soll ich Euch Beine machen?“, schnarrt der Graf, während ihm Tochter Heidegard sekundiert: „Wenn Ihr nicht bald fertig seid, könnt Ihr seh’n, wie ihr heimkommt!„.

Das letzte Argument ist das überzeugendere und so ist der Kirschenklau rasch erfolgreich abgeschlossen und niemand wurde Zeuge dieser Tat – außer dem Fotografen, welcher diese Aufnahme für die Nachwelt festhielt.

Nach 99 Jahren darf man alles als verjährt und alle Rechte als abgelaufen betrachten – so kann ich heute endlich zur Aufklärung dieses Tat an Pfingsten 1924 beitragen.

Bleibt nur noch die Frage, was der moderne Sünder mit Benziner in der Garage – oder öfter: auf der Straße – tun kann, um sich von seinem Status als Klimafrevler freizukaufen. Ganz einfach: Man verzichte darauf, Kirschen zu klauen.

Sammeln Sie Quittungen vom Kirschenbauern ihrer Wahl und weisen Sie diese bei Bedarf vor: „So oft habe ich nachweislich auf die Fahrt in den Kirschenberg verzichtet, wo ich sonst geklaut und dabei sinnlos Benzin verbrannt hätte„.

Sie werden sehen, schon erhalten Sie wieder einen Bezugsschein für Super- oder Dieselkraftstoff – ist doch alles halb so schlimm in der schönen neuen Welt, nicht wahr?

Alles nur Spaß – bisher. Genießen Sie das Prachtwetter zu Pfingsten und drehen Sie ruhig eine Runde mit dem Auto – es könnte jederzeit die letzte sein wie anno 1914:

Benz 8/20 PS Tourenwagen (1912-14); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Das einfach Schöne…DKW F2 Meisterklasse von 1933

Auch wenn es um Vorkriegsautos geht, kommt man an Altmeister Goethe nicht vorbei. Was Shakespeare für das Englische ist – ein Lieferant von Lebensweisheit in allen Lagen – das war und ist der Weimarer Dichterfürst für uns Deutsche.

„Das einfach Schöne soll der Kenner schätzen…“, so sagt die adlige, doch uneheliche Eugenie zur Hofmeisterin in Goethes Werk „Die natürliche Tochter“ von anno 1803.

Natürlich kannte ich als Inhaber eines hessischen Schmalspurabiturs dieses Werk bis heute abend gar nicht. Die Klassiker kamen im Deutschunterricht viel zu kurz, wurden bestenfalls auszugsweise gelesen, stattdessen gab es „progressive“ Autoren, deren Namen und Werke ich vergessen habe.

Zum Glück lässt sich später alles nachholen. Denn das Großartige an unserer Zeit ist ja, dass jedermann das Wissen und die Weisheit, die Mythen und die Moden aller Epochen offenstehen – es ist alles aus zweieinhalb Jahrtausenden da, kostenlos verfügbar.

Und so genießen wir heute das von Goethe empfohlene „einfach Schöne“ anhand eines Produkts, von dem er nichts ahnen konnte – welches ihm aber vielleicht gefallen hätte, weil er damit entschieden leichter in sein geliebtes Italien gelangt wäre.

Dazu genügten vor rund 90 Jahren bereits 20 Pferdestärken aus einem Zweizylinder-Zweitaktmotor mit knapp 700ccm Hubraum – das war die Spezifikation des Wagens, den ich Ihnen heute unter dem Motto „Das einfach Schöne“ nahebringen will:

DKW F2 Meisterklasse von 1933; Originalfoto aus Schenkung von Helga Diettrich

Jeder Freund von Vorkriegsautos wird sofort ausrufen: „Das ist ein DKW!“ – niemand sonst baute Anfang der 1930er Jahre so „einfach schöne“ Kleinwagen.

Ich weiß nicht, wer für die Gestaltung der DKW-Zweitaktwagen verantwortlich war, jedenfalls wirken sie in allen bis zum 2. Weltkrieg gebauten Varianten einfach stimmig, geradezu vollkommen proportioniert.

Und das obwohl die Aufbauten mit einer Kombination aus Sperrholz und Kunstleder nicht sonderlich widerstandsfähig oder dauerhaft waren. Aus Blech waren an der Karosserie nur die Motorhaube, die Kotflügel und die Kühlermaske.

Trotz der Einfachheit der Konstruktion wirkt alles auf merkwürdige Weise richtig – man wüsste bei DKW-Wagen generell nicht, was man anders daran gestalten wollte (Ausnahme: die ungeschlachte „Schwebeklasse“ ab 1934).

Nun wissen die DKW-Freunde natürlich, wieviele Veränderungen es äußerlich an diesen adretten Autos gab, das ist fast eine Wissenschaft für sich. Doch zum Glück gibt es zwei Werke, die einem bei der Einordnung helfen:

Zum Einstieg empfehle ich das „DKW-Fotoalbum 1928-1942“ von Jörg Lindner, Verlag Kleine Vennekate, 2010. Zur Vertiefung ideal ist dann „DKW Automobile 1907-1945“ von Holger Erdmann, Verlag Delius-Klasing, 2012.

Damit munitioniert lässt sich der DKW auf obigem Foto wie folgt ansprechen: Die Motorhaubengestaltung gab es zwar noch beim Typ F5 anno 1935, doch die gerade Unterseite der Frontscheibe verweist auf das frühere Modell F2.

Dieses wurde 1932 als Nachfolger des ersten DKW-Fronttrieblers F1 eingeführt, doch erst 1933 gab es die hier abgebildete Variante mit von Chromleisten eingefassten Luftschlitzen in der Kühlermaske:

Eindrucksvoll ist das Profil des in Fahrtrichtung linken Vorderreifens, während der rechte völlig abgefahren ist – vermutlich handelt es sich um ein Ersatzrad, auf das man mangels Alternativen zurückgriff.

Das Nummernschild mit dem Kürzel „IIA2“ verweist auf eine Vorkriegszulassung im Raum Stuttgart. Darüber ist ein Nebelscheinwerfer zu sehen – dieser DKW war trotz aller Schönheit im Einfachen eindeutig kein Schönwettervehikel.

Leider wissen wir nicht, wozu der großgewachsene Herr den Wagen nutzte, der daneben abgelichtet ist. Der DKW F2 war 1,47 Meter hoch, sein Besitzer muss eine beeindruckende Erscheinung gewesen sein.

Wir kennen sogar seinen Namen – „Johannes Diettrich“ ist auf der Rückseite vermerkt.

Das für mich wirklich „einfach Schöne“ ist dies: Johannes Diettrich war der Großvater der Dame, die mir dieses Foto im Original übereignet hat. Heute fand ich es wohlbehalten in meinem Postfach vor, nachdem es in Flensburg auf die Reise geschickt worden war.

Die Enkelin war der Ansicht, dass dieses Dokument bei mir eine angemessene Würdigung erfahren würde, und ich muss sagen, dass mich das sehr rührt.

Dass einander fremde Menschen so selbstverständlich freundlichen Umgang miteinander pflegen – das mag ebenfalls das „einfach Schöne“ sein, was Meister Goethe einst meinte. Das gibt ein Vorbild für den Alltag ab, von dem wir auch heute lernen können.

So gewinnt am Ende das alte Foto eines Vorkriegsautos einen überzeitlichen Wert. Und die DKW-Experten sind hoffentlich einverstanden mit der Einordnung des Wagens…

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Neu entdeckt! Opel 8/25 PS „Sport“ – aber anders

Gerade schlägt es Mitternacht – die LP mit Vivaldi-Opernarien (dargeboten von meiner jahrzehntelangen Begleiterin Cecilia Bartoli) ist aufgelegt. Sie hat den rechten Schwung für’s heutige Thema, denn auch Signora Bartoli geht die Werke von gestern sportlich an, sofern es angemessen ist.

Zwar steht ein Opel nicht sehr weit oben auf der Liste, wenn es um die leidenschaftlich-italienischen Momente im Leben geht, doch man muss sich auch überraschen lassen können.

Denn die einst so bedeutende und geschätzte Marke aus Rüsselsheim hat in der Schatzkammer ihrer langen Geschichte Erstaunliches zu bieten.

Selbst vermeintlich alte Bekannte wie der Sport-Zweisitzer auf Basis des Opel 8/25 PS von Anfang der 1920er Jahre können einem auf unerwartet neue Weise begegnen. Hier erst einmal zur Erinnerung ein Foto, das den Typ als herkömmlichen Tourenwagen zeigt:

Opel 8/25 PS (8 M 21) Tourenwagen mit gepfeilter Frontscheibe, Baujahr: 1921/22; Originalfoto von 1926 aus Familienbesitz (Lutz Heimhalt)

Von dem nach dem 1. Weltkrieg neu konstruierten 2-Liter-Modell konventioneller Bauweise (Reihenvierzylinder, seitengesteuert) gab es auch eine schnittig wirkende Sport-Ausführung.

Diese war zwar mit demselben Motor bestückt, man darf aber annehmen, dass der wesentlich leichtere Aufbau als Zweisitzer mit Bootsheck den Wagen deutlich agiler machte.

Hier haben wir ein Exemplar dieses Opel 8/25 Sport auf einem Foto aus meinem Fundus, das 1925 in Langelsheim (Landkreis Goslar) entstand:

Opel 8/25 PS (8 M 21) Sport-Zweisitzer, Baujahr: 1921/22; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Gut gefällt mir hier der zupackende Griff des Fahrers, der die rechte Hand am Schalthebel hat, welcher wie der Handbremshebel außerhalb der Karosserie liegt – der Normalfall bei den Opels dieses Typs und den meisten deutschen Automobile vor 1925.

Diese Aufnahme begeistert mich jedesmal, wenn ich sie sehe – die Käufer solcher Wagen hatten unendlich mehr Gespür für ein vorteilhaftes Autofoto als die meisten der damaligen Werksfotografen.

Bitte prägen Sie sich neben dem Spitzkühler mit dem winzigen Opel-Logo noch die Gestaltung des Vorderkotflügels mit integrierter Reserverradaufnahme ein, aber auch die gepfeilte Frontscheibe, die typisch für das Modell war – eigentlich.

Jetzt schauen wir, was uns der schier unerschöpflich erscheinende Brunnen der Vergangenheit an neuen Entdeckungen auf diesem Sektor preisgibt.

Wieder einmal ist es Matthias Schmidt aus Dresden, dem wir einen außerordentlichen Fund verdanken:

Opel 8/25 PS (8 M 21) Sport-Zweisitzer, Baujahr: 1921/22; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt

Na, was sagen Sie? Die Frontpartie sieht bis zur Windschutzscheibe doch genau so aus wie bei dem zuvor gezeigten Opel Sport-Zweisitzer, oder?

Doch schon an der Scheibe selbst beginnen die Probleme: Diese sollte eigentlich mittig unterteilt und leicht geneigt sein. Dann fehlen hier die außenliegenden Hebel für Gangschaltung und Bremse.

Zudem scheint die Bootsheckkarosserie viel flacher ausgeführt zu sein. Dennoch hat man es irgendwie geschafft, dort Notsitze unterzubringen, welche den beiden Damen ausreichend Platz zu bieten scheinen – sie wirken jedenfalls ausgesprochen entspannt:

Was ist von dieser Szene zu halten, die meiner Vermutung nach von einem professionellen Fotografen eingefangen wurde?

Haben wir hier eine bis dato unbekannte Variante des Opel 8/25 PS Sport-Zweisitzers neu entdeckt? Oder haben wir es mit einem etwas jüngeren Typ 10/30 PS mit 2,6 Liter Motor zu tun, welcher seine Nachfolge antrat und äußerlich ähnlich daherkam?

Doch selbst dann wäre die offenbar innenliegenden Schalt- und Bremshebel bei einem Opel der ersten Hälfte der 1920er Jahre außergewöhnlich.

Aber so ist das ja immer wieder bei der Beschäftigung mit der Vergangenheit – man macht dort öfter und leichter großartige Entdeckungen als im Hier und Jetzt.

Damit übergebe ich an Cecilia Bartoli – eine der vielen Hausgötter beiderlei Geschlechts, die mich in musikalischer Hinsicht seit langer Zeit begleiten und für die Hintergrundstimmung sorgen, während ich zu nächtlicher Stunde an diesem Blog arbeite.

Sofern Sie’s interessiert und berührt – nehmen Sie sich ein knappe Viertelstunde Zeit für dieses Drama einer Frau, die in Vivaldis Oper „Farnace“ den Verlust ihres Sohnes besingt.

Die Frage, wer zu solchen Schöpfungen heutzutage fähig wäre, bleibt rhetorisch. Wir leben in erbärmlichen Zeiten, was das angeht, und zugleich in den besten, was die Verfügbarkeit des Großartigsten betrifft, was Menschen einst geschaffen haben:

Videoquelle: Youtube.com; hochgeladen von 07NewYorker

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Ziert den Offizier und Gentleman: Delahaye 135 M

Regelmäßige Leser meines Blogs wissen, dass ich mich dem Zeitgeist zu entziehen pflege. Schon das Thema Vorkriegsauto ist ja alles andere als angesagt – im sich nach außen hin gern besonders progressiv gebenden Deutschland jedenfalls.

Allerdings huldige ich durchaus dem aktuellen Ideal der „Vielfalt“ – das in der teutonischen Praxis bestenfalls auf Beliebigkeit, häufiger aber auf Chaos hinausläuft. Allerdings betrachte ich „Diversity“ strikt aus dem Blickwinkel der Qualität im Besonderen wie im Alltäglichen.

Dass ich neben deutschen Fabrikaten regelmäßig auch ausländischen Marken Raum gebe, entspringt nicht etwa einer Geringschätzung des Eigenen und kritiklosen Verehrung des Exotischen, wie man sie ebenfalls in deutschen Landen beobachtet.

Man sollte jedoch nicht auf die Propaganda von einst hereinfallen und ausgerechnet die auf heimischer Scholle entstandenen Schöpfungen zwangsläufig für die besten halten.

Das stimmt schon nicht für das Selbstbild der „Dichter und Denker“ und erst recht nicht für die noch nie den Tatsachen entsprechende Sicht, deutsche Autos seien die besten überhaupt.

Wer in der Nachkriegszeit bei uns Fiat, Peugeot oder MG fuhr statt Volkswagen, Audi oder BMW, war weder ein vaterlandsloser Geselle noch in automobiler Hinsicht unbedarft. Üble Roster gab es überall, auch notorisch unzuverlässige Konstruktionen.

Doch mit etwas Aufmerksamkeit im Alltag oder auf Fernreisen bewegen ließen sie sich alle – kaputt gingen meist nur Kleinigkeiten an der Zündung oder bei der Kraftstoffzufuhr, das ließ sich unterwegs in Eigenarbeit regeln – man wusste, was man mitzuführen hatte.

In der Zwischenkriegszeit sah es kaum anders aus – wer kein deutsches Auto mochte oder dieses ihm für das Gebotene einfach zu teuer war, kaufte eben ein österreichisches, ein italienisches oder amerikanisches, durchaus auch ein französisches.

Das war gerade im letzteren Fall oft auch ein Stilfrage. Selbst in der Massenfabrikation brachte etwa Citroen mit dem legendären „Traction Avant“ eine Skulptur mit brillianten Fahrleistungen auf die Straße, wie sie nun einmal kein deutscher Hersteller bot.

Ich will die Qualitäten der meisterhaften Karosserien gewiss nicht in Frage stellen, die in den 1930er Jahren auf Chassis von Mercedes-Benz oder Horch entstanden, auch die hinreißend schönen BMWs jener Zeit gelten zurecht bis heute als Stilikonen.

Doch es gab daneben in Italien und Frankreich nun einmal Kreationen, die nur dort entstehen konnten und die über kulturelle (und ideologische) Grenzen hinweg begeisterten. Und genau so etwas darf ich heute präsentieren:

Delahaye 135 M; Originalfoto: Sammlung Jörg Pielmann

Dieser faszinierende Aufnahme verdanken wir Leser Jörg Pielmann.

Das Foto negiert gewissermaßen die Niederlage Frankreichs gegen das Deutsche Reich anno 1940. Denn hier sehen wir einen Offizier der Wehrmacht, der stolz vor einem – ausgerechnet! – französischen Beutefahrzeug posiert.

Militärisch musste man sich zwar den Deutschen geschlagen geben – was nebenbei wenig mit einem etwaigen Mangel an Masse oder Modernität des Materials zu tun hatte – doch triumphierten nach dem Waffenstillstand andere französische Qualitäten.

Was den Soldaten der deutschen Besatzungstruppen im glücklicherweise kampflos geräumten Paris, aber auch auf den unzähligen Schlössern auf dem Land an Kultiviertheit und Lebensart begegnete, war für die meisten ein unerhörtes Erlebnis.

Das hat die späteren Exzesse bei der Verfolgung jüdischer Franzosen (unter Mithilfe eigener Landsleute…) nicht verhindert, aber ich meine, dass man stets den Einzelfall betrachten sollte.

Ich wäre vermutlich anno 1940 ebenfalls ein blutjunger Infanterieoffizier wie mein Onkel Dieter gewesen, der damals mit seinem schlesischen Regiment in Frankreich einrückte – ich meine, es gibt sogar Fotos von ihm auf den Champs-Elysées in Paris.

Und vermutlich hätte ich ebenso wie der Soldat auf dem Foto von Jörg Pielmann jede Gelegenheit genutzt, beschlagnahmte französische Luxuswagen zu fahren oder mich zumindest daneben ablichten zu lassen.

Das lief anno 1945 unter anderen Vorzeichen auf der gegnerischen Seite genauso und vergessen wir nicht: Nicht nur in den besetzten Ländern wurden zivile Autos für den Militärdienst einkassiert – in Deutschland war das ebenso der Fall.

Nun aber zurück zu dem großartigen Coupé aus dem Hause Delahaye, dessen Stil man sofort in Frankreich verorten würde. Der sportlich angehauchte Typ als solcher blieb lange im Programm, er sollte sogar den Krieg überleben.

1935 wurde der Delehaye 135 eingeführt, von Anfang an mit einem kopfgesteuerten Sechszylindermotor, dessen Leistung von 95 auf später 130 PS stieg. Die Karosserien kamen von den feinsten Adressen Frankreichs.

Das Coupé auf dem heute vorgestellten Foto dürfte von ca. 1938 stammen. Wer weiß, von wem der Aufbau stammt, nutze bitte die Kommentarfunktion.

Gern wüsste man, was aus diesem hinreißenden Wagen geworden ist. Zwar ist er mit einem Kennzeichen der Wehrmacht (WH=Wehrmacht Heer) versehen, aber die Originallackierung musste nicht dem üblichen Heeresgrau weichen.

Vermutlich war der Delahaye für ein „hohes Tier“ beim deutschen Militär in Frankreich reserviert. Erkennt jemand anhand der Art Deco-Fassade im Hintergrund den Aufnahmeort?

Delahaye 135 M; Originalfoto: Sammlung Jörg Pielmann

Vermutlich hatte sich der damalige Nutzer des Wagens auf ein bequemes Leben als „Offizier und Gentleman“ westlich des Rheins eingerichtet. Den richtigen Wagen dafür hatte er jedenfalls zur Verfügung.

Kollaborateure beiderlei Geschlechts, die einem das Leben im besetzten Frankreich angenehm gestalten konnten, gab es zuhauf (erst nach dem Krieg waren alle in der Resistance…) und mancher Deutsche ließ sich gern auf Land und Leute ein.

Doch der Krieg nahm 1941 eine neue Dimension an – nun sollte es gegen Russland gehen (schon immer keine gute Idee).

Auch mein Onkel Dieter musste damals Abschied vom französischen Lotterleben nehmen und fand sich mit seinen Grenadieren an der Ostfront wieder. Eine schwere Verwundung ersparte ihm den späteren Untergang seines Regiments 1944 bei Mogilew.

Ob das dem Offizier und Gentleman auch so erging, der einst irgendwo in Frankreich diesen Delahaye als Dienstwagen bewegen durfte? Wurde der Wagen vielleicht ebenso wie er auf Eisenbahnwaggons verladen und ging irgendwo im Osten dem Verderben entgegen?

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Dass es das noch gibt: Audi „Zwickau“ in Rothenburg

Bei meinen nächtlichen Zeitreisen in die Welt der Vorkriegsautomobile mache ich die erstaunlichsten Beobachtungen – und lerne selbst immer wieder Neues dazu. Dabei geht es bisweilen nur am Rand um die Fahrzeuge selbst.

Diesmal haben wir die Situation, dass alles zusammenkommt: Mensch und Maschine, grandioser Karosseriebau und enorme Leistung, Technik der Neuzeit und uralte Architektur.

Dass sich alles so schön zueinander gesellt, dass verdanke ich zum einen der Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten, zum anderen einer gewissen Intuition, die Dinge auf interessante Weise zu kombinieren – so hoffe ich zumindest.

Beginnen wir doch der Einfachheit halber mit dem Thema „Mensch und Maschine“, denn damit gewinnt man die Herzen der Leser am zuverlässigsten, nicht wahr?

Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Michael Schlenger

Diese wunderbare Foto aus meiner Sammlung spricht Bände, was die vollkommene Andersartigkeit von Vorkriegsautos angeht.

Da gibt es freistehende Kotflügel, die sich vorzüglich als Rutschbahn eigneten, wären da nicht die praktischen Scheinwerfer, an denen man sich bei Bedarf festhalten kann. Und der mutigste der Buben sitzt rittlings und stolz wie Oskar auf dem Kühlergehäuse.

Geeignete Kletterhilfen sind ebenfalls vorhanden – im ersten Schritt geht es auf die verchromte Doppelstoßstange, dann stützt man sich auf der ebenfalls noch ziemlich massiven Querstange zwischen den Scheinwerfern ab.

Dabei hält man sich für alle Fälle an der „Eins“ fest, die bei diesem Wagen als Kühlerfigur fungiert, hier freilich verborgen ist. Man ahnt ihre Funktion auf einem zweiten Foto, das Leser Marcus Bengsch an Land gezogen hat, aus derselben Quelle schöpfend wie ich:

Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Marcus Bengsch

Diesem schönen Zufall verdanken wie eine Familienzusammenführung nach 91 Jahren, denn dieses Foto, das offenbar denselben Wagen zeigt, entstand im März 1932.

Dass es sich um einen 8-Zylinder-Audi handelt, das ist klar, auch wenn hier das Zwickauer Stadtwappen prominenter angebracht ist als der Markenschriftzug.

Wer sich in die Vorgeschichte dieses Wagens einlesen will, kann dies in einem älteren Blog-Eintrag tun (hier). An dieser Stelle sei nur wiederholt, dass von 1929-32 ganze 457 Wagen des Modells mit dem in den USA eingekauften 5,1 Liter-Motor entstanden.

Das gewaltige Reihenaggregat verlangte viel Platz – sehr viel Platz. Das erklärt den Radstand von 3,50 Meter, welcher den Audi „Zwickau“ von dem äußerlich sonst sehr ähnlichen 6-Zylinder-Modell „Dresden“ unterschied.

Die Proportionen des folgenden Audi sprechen stark für das große Modell „Zwickau“, wie ich bereits in einem älteren Blog-Eintrag dargelegt habe (hier):

Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Michael Schlenger

Bei dieser repräsentativen Pullman-Limousine tritt der menschliche Aspekt hinter den schieren Dimensionen in den Hintergrund. Aber auch der nüchterne Blick auf die Maschine muss dem Studium der meisterhaft gezeichneten Karosserie weichen.

Hier sehen wir die typischen Elemente, die dazu beitragen, dass das enorme Volumen des Aufbaus optisch ansprechend gestaltet wird. Man muss sich vergegenwärtigen, dass diese Limousine fast 1,90 Meter hoch und knapp fünf Meter lang war.

Wesentlichen Anteil daran, dass der Audi dennoch nicht erschlagend wirkt, haben die Zweifarblackierung und der Kunstgriff, die Türen weit niedriger erscheinen zu lassen, als sie es tatsächlich sind, indem die untere Hälfte farblich vom Oberteil abgesetzt ist.

So wird die Länge des Aufbaus betont, da die Kante der Motorhaube scheinbar bis ans Heck durchläuft. Die helle Einfassung der Seitenfenster wiederum nimmt dem Oberteil der Türen die Massivität.

Eine einzige solche Pullman-Limousine hat übrigens nach meinem Kenntnisstand die Zeiten überdauert (Quelle: Audi-Automobile 1909-1940, P. Kirchberg/R. Hornung, 2009).

Leider kann man dies nicht von der Variante als viertürigem Cabriolet behaupten, das auf dem folgenden Foto von Leser Klaas Dierks zu sehen ist:

Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Klaas Dierks

Wären da nicht die „Eins“ auf dem Kühler und die fünf bis sechs Felder mit Luftschlitzen in der Motorhaube, wäre es nicht so einfach, dieses Fahrzeug mit dem zuvor gezeigten in Verbindung zu bringen.

Die deutlich andere Wirkung ist mehreren Faktoren zuzuschreiben: Vielleicht am markantesten ist die schrägstehende Frontscheibe, die hier überdies ausgestellt ist.

Dann wären da die abgerundete Türunterseite und natürlich der gänzlich andere Dachaufbau mit relativ einfach gestalteten Fensterrahmen. Dies und die Ausführung der dunklen Zierleiste entlang des Passagierabteils erscheinen mir gemessen an den besten Beispielen solcher Aufbauten wie etwa von Gläser (Dresden) wenig elegant.

Die im Standardwerk zu Gläser-Karosserien (Michael Brandes: Gläser Karosserie Dresden, 2021) abgebildeten Aufbauten dieses Typs von Anfang der 1930er Jahre kommen zwar ebenfalls mit schrägestehender Windschutzscheibe und unten abgerundeter Tür daher.

Bei ihnen ist jedoch in den meisten Fällen der Vorderkotflügel länger nach hinten gezogen, sodass das Ersatzrad darin eingebettet ist. Außerdem sind die seitlichen Zierleisten im Bereich der Türen speziell bei sehr langen Aufbauten raffinierter gestaltet.

Ich mag falsch mit meiner Einschätzung liegen, doch konnte ich keine vollständige Übereinstimmung mit einem Gläser-Aufbau finden, obwohl die Karosseriemanufaktur ausdrücklich auch Aufbauten für den Audi Typ „Zwickau“ lieferte.

Vielleicht weiß ein Kenner mehr, dann bitte die Kommentarfunktion nutzen.

Ich will die heutige Betrachtung noch auf etwas anderes lenken. Denn hinter dem Audi auf dem Foto von Klaas Dierks ist eine Struktur zu erkennen, die mir bekannt vorkam.

Genau dasselbe mittelalterliche Stadttor ist auf einer weiteren Aufnahme zu sehen, die einen Tourenwagen der 1920er Jahre zeigt, welchen ich nicht eindeutig identifizieren kann.

unbekannter Tourenwagen der frühen 1920er Jahre; Originalfoto: Michael Schlenger

Ich weiß nicht mehr wie, aber nach einigen Bildrecherchen im Netz kam ich darauf, dass es sich um die Spitalbastion in Rothenburg ob der Tauber handelt.

Natürlich bietet der ganze Ort, der kurz vor Kriegsende von einem der militärisch sinnlosen (für die Besatzungen aber immer noch brandgefährlichen) Bombenangriffe der Alliierten heimgesucht wurde, unendlich viele pittoreske Fotomotive.

Doch aus irgendeinem Grund war die Spitalbastei bei Automobilisten besonders beliebt.

Es hat einen speziellen Grund, weshalb ich an dieser Stelle das vollständige Originalfoto zeige, das Leser Klaas Dierks beigesteuert hat:

Audi Typ SS 20/100 PS “Zwickau”; Originalfoto: Klaas Dierks

Wenden Sie bitte für einen Moment den Blick von dem mächtigen Audi und dem monumentalen mittelalterlichen Mauerwerk dahinter ab.

Schauen Sie stattdessen nach links durch das schlichte Tor und nehmen die Bank vor dem Haus mit dem geöffneten Fensterladen ins Visier. Situation eingepägt?

Dann wissen Sie jetzt auf Anhieb, wo einst das folgende Foto entstanden ist, das einen Wanderer des Typs W10-IV (Bauzeit: 1930-32) zeigt – also ein weiteres sächsisches Automobil, hier allerdings mit Zulassung im Badischen:

Wanderer W10-IV Cabriolet, Bauzeit: 1930-32; Originalfoto: Sammlung Marcus Bengsch

Dieses Foto habe ich hier ausführlich besprochen. Damals wusste ich noch nicht, wo es entstanden war. Jetzt weiß ich es und so kann ich meine Rekonstruktion der automobilen Welt von gestern an einer Stelle wieder ein klein wenig genauer gestalten.

Natürlich ist es völlig sinnlos, sich an solchen Puzzlespielen zu erbauen, aber irgendwie muss man ja seine Zeit herumbringen außer mit Arbeiten.

Vielleicht hat die Sache aber auch ein Gutes, nämlich jetzt weiß ich, dass man es in Rothenburg ob der Tauber nach dem Krieg verstanden hat, entgegen dem primitiv-funktionalistischen Trend hierzulande, den zerstörten Teil der Altstadt wenigstens dem Grundsatz nach wieder erstehen zu lassen.

Für den Kulturpessimisten in mir ist das eine der wenigen Gelegenheiten, innezuhalten und mit unzähligen Besuchern dieses Kleinods zu sagen: Schön, dass es das noch gibt!

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Vor 100 Jahren: Studebaker „Big Six“ aus Schlesien

Heute unternehmen wir eine kleine Zeitreise zurück ins Jahr 1923 anhand eines Fotos, bei dem man sich wie so oft fragen kann: Was verbindet mich eigentlich damit?

Nun, neben der schwer erklärlichen Anziehungskraft von Vorkriegsautomobilen ein klein wenig auch das eigene Herkommen.

Während ich an meinem Blog schreibe bzw. während der vorbereitenden Arbeiten hängt zu meiner Rechten an der Wand eine großformatige Karte Schlesiens aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, gestochen von Matthias Seutter in Augsburg.

Meine 1931 in Liegnitz geborene Mutter hat sie mir zusammen mit der Leidenschaft für Antiquitäten aller Art vermacht.

Sie musste Anfang 1945 die Heimat mit einem Koffer verlassen, um nie wieder in die großbürgerliche Welt der Baumgartstraße zurückzukehren:

Liegnitz, Baumgartstraße (heute: Skarbka Fryderyka); Ansichtskarte der 1920er Jahre

Die über viele Jahre erworbenen Kupfer- und Stahlstiche aus Schlesien waren ein Versuch, ein klein wenig vom Verlorenen zu bewahren. Sie umgeben mich heute und erinnern mich täglich an einen untergegangenen Teil Deutschlands.

Für mich ist keine Wehmut damit mehr verbunden, aber zu meinem Interesse an der Welt von gestern haben diese Dinge sicher beigetragen.

So registriere ich es jedesmal mit besonderem Wohlwollen, wenn mir auf einem historischen Autofoto das Nummernschild-Kürzel „IK“ begegnet – denn dieses stand einst für Schlesien.

Dann schlage ich nicht nur nach, wo der Wagen genau zugelassen war, sondern ich schaue auch, ob ich den Ort auf meiner Schlesienkarte wiederfinden kann.

Und tatsächlich: an der Grenze der Markgrafschaft Oberlausitz (Marchionatus Lusatiae Superioris) und des Fürstentums Liegnitz (Ducatus Lignicensis) findet sich die Stadt Luban (sonst meist: Lauban) – etwa auf einer Linie zwischen Dresden und Liegnitz (heute: Legnica).

Im gleichnamigen Landkreis Lauban war dieser großzügige Wagen zugelassen:

Studebaker „Big Six“ von 1923/24: Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dass es sich bei dieser 6-Fenster-Limousine um ein amerikanisches Fabrikat handeln dürfte, darauf brachte mich die Gestaltung der Vorderstoßstange.

Solche Teile finden sich in den frühen 1920er Jahren zuerst an US-Fabrikaten, dann als Zubehörteil auch an Wagen deutscher Hersteller. Die Tatsache, dass sich das Kühleremblem hier auf der Stoßstange zu wiederholen scheint, spricht jedoch gegen ein Nachrüstteil.

Anhand der Kühlergestaltung konnte ich den Wagen rasch als Studebaker identifizieren. Die genaue Typansprache erforderte dann ein Studium der in solchen Fällen unverzichtbaren US-Autobibel „Standard Catalog of American Cars“ von Kimes/Clark.

Auf Seite 1419 fand ich dort die notwendigen Angaben zu dem konkreten Modell. Demnach sind die Scheibenräder eine Besonderheit des Studebaker „Big Six“ ab 1923.

Das war das damalige Spitzenmodell der Marke mit einem 5,8 Liter großen Sechszylinder (seitengesteuert), der 65 PS bei 2000 Umdrehungen leistete. Das Modell blieb bis 1924 im Programm, die Kühlerform spricht aber für das Jahr 1923.

Man fragt sich schon, wie ein US-Wagen dieser Größenordnung einst ins beschauliche Lauban kam. Der große Boom der amerikanischen Importwagen sollte ja erst in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre stattfinden.

Nun, irgendeine uns nicht bekannte Geschichte wird dazu geführt haben, dass dieser Studebaker „Big Six“ vor dem Gasthaus „Kaiser Joseph“ von Alfred Kittelmann haltmachte:

Studebaker „Big Six“ von 1923/24: Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die Begebenheit hinter dieser Aufnahme verliert sich im Dunkel der Zeiten, doch vielleicht lässt sich wenigstens noch etwas über die Örtlichkeit in Erfahrung bringen.

Könnte diese Aufnahme vielleicht bei einer Urlaubsreise nach Österreich oder ins benachbarte Böhmen entstanden sein?

Im letzteren Fall besteht eine kleine Chance, dass sich der Ort ebenfalls auf meiner Schlesienkarte wiederfindet, denn dort ist zumindest ein „Bohemiae Pars“ abgebildet…

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Irrfahrt an den Wörthersee: Talbot DC10 Sport-Tourer

„Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ – diese überzeitliche Erkenntniss formulierte einst Goethe – der am vielseitigsten begabte deutsche Kulturmensch aller Zeiten, der im Unterschied zu anderen nur klugen Köpfen Lebensweisheit mit Lebensfreude vereinte.

Mit dem wohlwollenden Segen des Meisters aus Weimar irren, das fühlt sich doch gleich ganz anders an – vor allem, wenn man sich auf gelungene Weise zu korrigieren weiß.

Genau das werde ich heute tun, liebe Leser. Die Abonnenten unter Ihnen hatten kürzlich noch das exklusive, doch letztlich zweifelhafte Vernügen, einen prächtigen Sport-Tourer von Mitte der 1920er Jahre als Austro-Daimler ADM verkauft zu bekommen.

„Unterwegs mit Franzy„, so war der inzwischen gelöschte Blog-Eintrag betitelt und führte unter anderem an den Wörthersee im schönen Österreich. Diesen Teil der Geschichte muss ich nicht neu schreiben, auch die hübsche Franzy wird wieder darin vorkommen!

Doch führt uns die Reise diesmal nicht von Wien – dem Sitz von Austro-Daimler – an den Wörthersee, sondern sie beginnt im französischen Suresnes westlich von Paris. Wie konnte es zu einer solchen Kursänderung kommen?

Nun, ich will sie an meiner Irrfahrt teilhaben lassen, damit Sie sehen, dass ich durchaus meine Gründe hatte, zunächst Wien für den Ausgangspunkt der Tour mit Franzy zu halten.

Auch wenn es die Geschichte geografisch komplizierter macht, muss ich außerdem noch einen Abstecher ins bayrische Augsburg machen. Dort nahm die Sache nämlich auf gewisse Weise ebenfalls ihren Anfang und zwar hiermit:

Austro-Daimler ADM Sport-Tourer; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese außergewöhnliche Aufnahme wollte ich eigentlich noch eine Weile für mich behalten – jetzt brauche ich sie, um besagten Irrtum zumindest erklärbar machen zu können.

Dieser sportlich flach gehaltene Tourenwagen mit gepfeilter Frontscheibe und dynamisch wirkendem Türausschnitt ist nämlich eine besonders attraktive Variante des Austro-Daimler Typ ADM, der ab 1922 mit einem hochkarätigen 6-Zylindermotor mit Ventilsteuerung über obenliegende Nockenwelle angeboten wurde.

Der Typ ADM wurde vor allem als klassischer Tourenwagen verkauft, wie hier zu sehen:

Austro-Daimler ADM; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt

Es handelte sich um den ersten Wagen der Wiener Marke, welcher nach dem 1. Weltkrieg ohne den bis dato noch verbreiteten Spitzkühler (Typen AD6-17 und ADV) daherkam.

Anfangs leistete das Modell nur 45 PS aus 2,6 Liter Hubraum, doch legte man rasch nach, da der Motor erhebliche Leistungsreserven bot und das Publikum nach deutlich mehr verlangte, um souverän Fernreisen und Alpenpässe absolvieren zu können.

So könnte das oben abgebildete Exemplar bereits über die Zweivergaser-Ausführung verfügt haben, die den Ansprüchen eher angemessene 60 Pferdestärken bot.

Doch woran ist denn so ein Austro-Daimler ADM zu erkennen, abgesehen vom markentypischen Flachkühler, den auch das spätere Modell ADR besaß?

Nun, ansatzweise ist das für den geschulten Betrachter bereits auf der obigen Aufnahme aus dem Fundus meines Sammlerkollegen Matthias Schmidt zu erkennen.

Besser sieht man es indessen auf der folgenden Aufnahme aus meinem eigenen Bestand:

Austro-Daimler ADM (linkes Fahrzeug); Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn diese Aufnahme dazu einlädt, sich mit der unbekannten dunklen Limousine mit sechs Seitenfenstern und drei Sitzreihen zu befassen, widmen wir unsere Aufmerksamkeit dem Tourer dahinter.

Unverkennbar wieder ein Austro-Daimler, doch diesmal ist das entscheidende Merkmal gut sichtbar, das ihn von seinen äußerlich ähnlichen Nachfolger ADR unterscheidet.

So ist die Hinterachse dieses Wagens am Ende einer Längsblattfeder angebracht, deren vordere Aufhängung sich weit vorne befindet. Diese sogenannte Cantilever-Aufhängung findet sich bevorzugt bei Wagen jener Zeit mit sportlicher Charakteristik.

Der auf den Austro-Daimler ADM folgende Typ ADR besaß dieses Detail nicht, seine Pendelachse wies Querblattfedern auf.

Besagte Cantilever-Federung findet sich auch an dem raffinierter geschnittenen Austro-Daimler ADM Sport-Tourer, der einst in Augsburg abgelichtet wurde. Möglich, dass es sich um die ab 1924/25 angebotene 3-Liter-Version handelt, die 70 PS (später 100 PS) leistete:

Studieren Sie noch einmal die Kühlerpartie, behalten Sie die Drahtspeichenräder mit den mächtigen Bremstrommeln vorn im Hinterkopf und prägen sich die Form von Windschutzscheibe und Türausschnitt ein.

Abgespeichert? Gut, dann geht es jetzt von Augsburg gedanklich über Wien weiter, wo einst Austro-Daimler das Modell ADM fertigte.

Mit dieser naheliegenden Reiseroute im Kopf ist man dermaßen beschränkt, dass man mit einiger Wahrscheinlichkeit auch den folgenden Wagen gleich als Austro-Daimler ADM mit sportlichem Tourenwagenaufbau einsortiert, oder?

Talbot DC10 Sport; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dass es sich ebenfalls um eine Variante des Austro-Daimler ADM handeln dürfte, diese Vermutung liegt auch deshalb nahe, weil der Wagen auf einer einst in Österreich versandten Postkarte abgebildet war.

Adressatin war die fesche „Franzy“, die im Wagen zu sehen ist. Sie war die Gattin eines österreichischen Majors namens Dvorak, mit dem sie in Pörtschach am Wörthersee residierte – in der großartigen Villa Seehort, die noch existiert (gönnen Sie sich ruhig einen Blick darauf, so etwas kann heute keiner mehr).

Ebendorthin schickte anno 1929 ein gewisser Fredy die Postkarte:

Die Frau Major – also Franzy – wird hier als „tapfere Schlachtenbummlerin“ während irgendwelcher Manöver im Jahr 1929 angesprochen.

Ich vermute, dass Sie ihren Gatten bei dieser Gelegenheit im Wagen begleitete. Außerdem nehme ich an, dass sie im Haushalt Dvorak in der Villa Seehort die Hosen an und die Hand auf dem Portemonnaie hatte.

Denn ein Major – wenn es kein Generalmajor ist – ist kein hoher Offiziersrang, mit dem ein Einkommen verbunden war, welches den Besitz eines derartigen Luxuswagens ermöglichte wie dem, in dem sich Franzy offensichtlich sehr wohl fühlte:

Ein kurioses Detail auf dieser Aufnahme ist nebenbei die Schiefertafel, auf die jemand in expressiver Schrift „Heute keine Probe“ geschrieben hatte – das bezog sich auf den örtlichen Männer-Gesang-Verein.

Wenn ich es richtig lese, befand er sich in Friedberg (Steiermark), aber vielleicht irre ich mich, da ich selbst in Friedberg zur Schule gegangen bin, wenngleich in Hessen.

Ob der Soldat, der Franzy anschaut, ihr Ehemann Major Dvorak war? Und in welcher Beziehung mögen die übrigen Herren zu ihr und zueinander gestanden haben?

Wichtiger ist indessen etwas anderes: Der Kühler erweist sich trotz gleicher Grundform als nicht zu einem Austro-Daimler zugehörig. Das typische verschlungene Markenemblem fehlt, stattdessen sieht man ein unlesbares Firmenzeichen mit einer hell gehaltenen Diagonale.

Diese Gestaltung findet man nicht bei Austro-Daimler, sondern bei einer anderen Marke:

Talbot Typ DC10; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Darauf kam ich allerdings erst, als mich ein französisches Mitglied meiner englischsprachigen Vorkriegsauto-Gruppe bei Facebook darauf aufmerksam machte.

Tatsächlich handelt es sich bei dem Auto, mit dem Franzy in Österreich die Manöveraktivitäten ihres Gatten Major Dvorak verfolgte, um ein französisches Fabrikat – einen Talbot!

Damit ist klar, dass unser Ausflug an den Wörthersee im Talbot-Werk in Suresnes bei Paris begann – Augsburg und Wien hatte ich irrtümlich als Zwischenstationen angesehen.

Sehr wahrscheinlich war es ein Modell DC10, ein Vierzylindertyp mit zwar nur 1,6 Liter Hubraum, der aber dank im Zylinderkopf hängenden Ventilen eine Charakteristik aufwies, die mit 2-Liter-Wagen mithalten konnte.

Der Typ DC10 besaß wie der Austro-Daimler Vorderradbremsen eine Cantilever-Hinterradfederung (oft verdeckt, aber nicht immer), zudem waren Drahtspeichenräder mit Rudge-Zentralverschlussmutter als Extra erhältlich.

Vor allem aber gab es ihn mit einem sportlichen Tourenwagenaufbau, welcher dem des Austro-Daimler ADM sehr ähnlich sieht (Beispiel hier).

So ist am Ende der kuriose Befund zu konstatieren, dass „Franzy“ einst mit einem Franzosen unterwegs war, während ihr Mann im Dienst des Vaterlands irgendwelche Truppenübungsplätze frequentierte.

Festzuhalten bleibt: „Es irrt der Mensch, so lang er strebt“ – aber Goethe macht im Faust aus der Not gewandt auch eine Tugend, indem er sagt: „Wer fertig ist, dem ist nichts recht zu machen. Ein Werdender wird immer dankbar sein.“

Genauso verhält es sich: Alles vermeintliche Wissen ist vordergründig und vorläufig – daher traue man keinem Hohenpriester, der drohend ewige Wahrheiten verkündet, und auch keinem „Experten“, der selbstgewiss und mit schönen Worten bisweilen Irrtümer predigt…

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Der erste seiner Art: Dixi S16 13/32 PS von 1912

Manche Dokumente von Vorkriegsautos schlummern jahrelang in meinem Fundus – oder dem von Sammlerkollegen – bevor ich sie hier publiziere.

Die Fülle des verfügbaren Materials zu deutschen Fabrikaten aus den letzten 120 Jahren ist erschlagend, und dabei sind die Archive derer noch nicht berücksichtigt, die gar nichts anderes damit anzufangen wissen, als sie ängstlich zu hüten.

Selbst die größten Exoten aus der deutschen Automobilgeschichte könnten mit dem dokumentiert werden, was Krieg und Aufräumfuror übriggelassen haben, behaupte ich.

Doch manchmal macht es einem Fortuna ganz leicht – oder nüchterner gesagt: ein Leser dieses Blogs. So funkte mich gestern nacht wieder einmal Klaas Dierks aus dem hohen Norden an, um mir einen neuen Fund zu übermitteln.

Heute warf ich während einer Arbeitspause einen Blick darauf und war spontan begeistert: „Den Wagen muss ich umgehend vorstellen, denn das ist der erste seiner Art!“

Das trifft gleich in doppelter Hinsicht zu und gern erkläre ich, wieso – aber hier erst einmal ein Blick auf das Prachtstück:

Dixi Typ S 16 13/32 PS (vermutlich); Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Ziemlich genau so stellt sich der Autoveteranen-Verehrer das perfekte Konterfei eines historischen Fahrzeugs aus einer Zeit vor, in der die Hersteller in Prospekten und Werbeanzeigen praktisch nur Seitenansichten ihrer Modelle abdruckten.

Sicher gibt es Zeitgenossen, die in ihren Archiven Vergleichbares verstecken, doch ausgehend von der dürftigen Literatur zu deutschen Automobilen der Zeit vor dem 1. Weltkrieg ist mir noch keine solche Abbildung untergekommen.

Bereits so gesehen ist dieser leicht als „Dixi“ der Fahrzeugwerke Eisenach zu erkennende Wagen mit repräsentativem Landaulet-Aufbau „der erste seiner Art“, der mir in dieser Form und Güte begegnet.

Da stellt sich bei aller Begeisterung die Frage, wie man überhaupt den Typ eingrenzt. Wie ich auf die These Dixi S16 13/32 PS gekommen bin, daran will ich Sie teilhaben lassen.

Zunächst einmal ist festzustellen, dass wir es mit einem Modell aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg zu tun haben. Denn die Scheinwerfer geben sich als gasbetriebene Modelle zu erkennen, die es ab 1920 allenfalls noch bei Kleinstwagen gab.

Das entscheidende Merkmal sind nicht die trommelförmigen Gehäuse der Scheinwerfer als solche – die waren Mitte der 1920er Jahre nochmals Mode – sondern die oben aufgesetzten Kammern mit Löchern, aus denen die Verbrennungsabgase entweichen konnten.

Auch die teilweise an der Erwachsenenmode orientierte Kleidung der umstehenden Kinder spricht klar für die Zeit bis 1914. Nach dem 1. Weltkrieg trug kein Bub mehr solche Hüte.

Vor 1910 kann der Dixi aber auch nicht entstanden sein, denn dann hätte er noch keinen „Windlauf“ besessen – also kein von der Motorhaube zur Frontscheibe ansteigendes Blech, das erstmals die Vorderpartie harmonisch mit dem Passagierabteil verband.

Zum Vergleich eine Aufnahme eines Dixi, der etwa 1908/09 gefertigt worden war:

Dixi um 1908/09; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dieser prächtige Tourenwagen war am Rhein bei Kaub abgelichtet worden (mehr dazu hier).

Nicht nur fehlt ihm der erwähnte Windlauf, er besitzt auch eine gänzlich andere Kühlerform. Diese findet sich ähnlich noch bei etwas jüngeren Dixi-Modellen, was eine weitere zeitliche Eingrenzung des Wagens auf dem Foto aus der Sammlung Dierks erlaubt.

Ihr entstammt übrigens auch eine Aufnahme, auf der ein Dixi zu sehen ist, welcher bereits über einen Windlauf besitzt, also frühestens 1910 entstanden sein kann:

Dixi Typ R12 10/24 PS (vermutlich); Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Da der Windlauf hier noch recht stark nach oben gewölbt ist und die Frontscheibe noch nicht seiner Linie folgt, wage ich die Behauptung, dass dieser Dixi von 1910/11 stammt.

Ab 1912 verläuft der Übergang von Motorhaube zu Windlauf bei deutschen Automobilen allgemein weniger abrupt. Könnte das der Zeitpunkt sein, ab dem Dixi auch das neue birnenförmige Kühlergehäuse einführte, das auf dem eingangs gezeigten Foto zu sehen ist?

Interessanterweise scheint es diese Kühlergestaltung bei Dixi-Wagen nur vorübergehend gegeben zu haben. Wie bei vielen anderen deutschen Herstellern stellte man in Eisenach zu Beginn des 1. Weltkriegs – oder in seinem Verlauf – auf den modischen Spitzkühler um.

Eine Vorstellung davon vermittelt diese Reklame von 1917:

Dixi-Reklame aus: Allgemeine Automobil-Zeitung Nr. 38, Jahrgang 1917; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Auf Grundlage dieses Befunds würde ich den Kühler unseres heutigen Dixi-Fotomodells auf 1912-14 datieren. Unterstützt wird diese Einschätzung durch eine Prospektabbildung, welche sich im 1978 erschienen Werk „BMW Automobile“ von Halwart Schrader findet.

Dieses ist zwar in Sachen BMW zwischenzeitlich überflügelt worden, doch Schrader hat dankenswerterweise auch die Vorgeschichte der ersten BMW-Autos abgedeckt – und diese umfasst die Eisenacher Dixi-Wagen, deren letzter Typ (DA1 3/15 PS) ab 1929 als BMW gebaut wurde.

Auf S. 126 des Schraderschen Opus also ist die Prospektabbildung eines Dixi S16 mit 13/32 PS zu sehen, der ab 1912 gebaut wurde. Er besitzt genau so einen Kühler wie das Landaulet von Klaas Dierks!

Aus meiner Sicht könnte dieser prächtig geschmückte Wagen, der zurecht die Aufmerksamkeit der Kinder auf der Straße auf sich zog, also durchaus ein Dixi des Typs S16 mit 3,4 Liter-Vierzylinder und anfangs 32 PS gewesen sein.

Er blieb bis 1925 im Programm (zuletzt mit 39 PS Leistung und modernerem Aufbau) und wurde in etwas mehr als 700 Exemplaren gefertigt, wenn man den überlieferten Zahlen trauen kann.

Diese späteren Ausführungen besaßen den Dixi-typischen Spitzkühler, weshalb der heute vorgestellte S16 aufgrund seines Flachkühlers der erste seiner Art gewesen sein muss.

Doch nun die Frage an die Dixi-Spezialisten: Erhielten auch die anderen Typen aus Eisenach ab 1912 einen solchen Kühler? Also beispielsweise die etwas schwächeren Modelle R9 (8/21 PS), R12 (10/26 PS), die bis 1914 ebenfalls mit repräsentativen Aufbauten hergestellt wurden?

So oder so bliebe das Foto von Klaas Dierks das erste publizierte seiner Art, das einen solchen Dixi aus der Zeit von 1912-14 aus idealer Perspektive zeigt…

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Back to Business: Ein Simson „Typ R“ 12/60 PS

Die Gesetze des Marktes können mitunter grausam sein – aber es hilft nichts, sie auf Dauer zu ignorieren, auch wenn es Idealisten und Ideologen immer wieder versuchen.

Jedes Angebot muss sich letztlich beim Käufer bewähren und solange ausreichender Wettbewerb herrscht, wird sich über kurz oder lang das bessere – oder bei gleicher Qualität günstigere – Angebot durchsetzen.

So war das schon vor 100 Jahren am deutschen Automobilmarkt. Viele heimische Hersteller hielten entweder an heillos veralteten – wenn auch hochwertigen – Konstruktionen fest, andere versuchten sich in von vornherein aussichtslosen Kleinwagenkonzepten, die entweder nicht marktfähig waren oder für deren Realisierung es an Kapital mangelte.

Daneben gab es eine Reihe von Fabrikaten, die auf technische Exzellenz abzielten, ohne eine größere Marktdurchdringung anzustreben. Dies ließ sich freilich nur solange durchhalten wie die Kapitalgeber mitmachten oder eine Quersubventionierung durch ein profitables Kerngeschäft erfolgte.

Ein Beispiel für den letztgenannten Fall waren die Automobile des Waffenherstellers Simson aus dem thüringischen Suhl. Nach dem 1. Weltkrieg machte Simson mit hochmodernen Konstruktionen Furore, welche die Basis für viele Rennerfolge bildeten:

Simson „Supra“-Reklame; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Die vom zuvor bei Steiger tätigen Konstrukteur Paul Henze entwickelten und ab 1924 gebauten Wagen des Typs Simson „Supra“ zeichneten sich durch drehfreudige kopfgesteuerte Motoren und hervorragende Fahrwerke aus – Grundlage zahlreicher Rennsiege.

Den kostspieligen Renneinsätzen stand hingegen ein eher überschaubarer Absatz der Straßenversion des Simson „Supra“ gegenüber. Zwar besaß der zivile Typ So 8/40 PS dieselben Konstruktionsmerkmale und war trotz kleinen Hubraums (2 Liter) einer der schnellsten deutschen Serienwagen, der ohne weiteres 100 km/h erreichte.

Doch nur rund 750 Wagen dieses Typs wurden über einen Zeitraum von 5 Jahren gebaut.

Davon scheinen die meisten mit einem Tourenwagenaufbau verkauft worden zu sein, wie er auf diesem bis dato unveröffentlichten Foto aus Sammlung Matthias Schmidt (Dresden) zu sehen ist:

Simson Typ So 8/40 PS Tourer; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Vielleicht erkennt jemand den genauen Aufnahmeort (überliefert ist Berlin).

Diese Karosserie trug die für einen dermaßen rassigen Wagen bemerkenswert dröge Bezeichnung „Karlsruhe“ und begegnet einem auf zeitgenössischen Dokumenten immer wieder.

Hier haben wir die dazugehörige Simson-Werbeanzeige, datiert auf 1927:

Simson „Supra“-Reklame; Original aus Sammlung Michael Schlenger

In natura sah der Wagen speziell mit heller Lackierung und schräg von vorne aufgenommen hervorragend aus.

Das lässt sich auf folgender Aufnahme nachvollziehen, die ich schon einmal präsentiert habe und die ich einem weiteren besonders findigen und großzügigen Sammlerkollegen verdanke – Leser Klaas Dierks:

Simson Typ So 8/40 PS Tourer; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Bei allen Qualitäten kommt man aber letztlich nicht an den harten Realitäten des Markts vorbei und das in mehrfacher Hinsicht.

So war die Manufakturfertigung enorm aufwendig, was speziell für den hochkomplexen Motor galt. Im Simson-Standardwerk von Ewald Dähn (1988) – gibt es da eigentlich nichts Neueres? – heißt es, dass allein die Motorenmontage zwei Tage in Anspruch nahm und in diesem Zeitraum fünf Teams zu je zwei Mann band.

Die Arbeit dieser hervorragenden Fachleute hatte ihren Preis, was Simson-Wagen zu einem extrem teuren Vergnügen machte. Mit Patriotismus allein ließen sich die Käufer ab Mitte der 1920er Jahre jedoch nicht mehr locken.

Hinzu kam: Die eher kleinen Vierzylinder von Simson wurden trotz ihrer konstruktiven Raffinesse zunehmend von den in Massenfertigung hergestellten amerikanischen Aggregaten in den Schatten gestellt.

Diese boten entweder bei sehr einfacher Bauart und geringerem Preis dieselbe Leistung aus größerem Hubraum oder sie kamen gleich mit 6 Zylindern, mehr PS und überlegener Ausstattung daher und waren immer noch wesentlich billiger.

Der Markt hatte gesprochen – die preiswerten, zuverlässigen und moderner wirkenden US-Wagen eroberten die Herzen der Käufer und Simson musste reagieren.

Es hieß vom Idyll der Kleinserienfertigung unprofitabler Premiumwagen Abschied nehmen und sich den geschäfltichen Realitäten zu stellen, auf gut Amerikanisch: „Back to Business“!

Dazu ließ man Paul Henze einen Sechszylindermotor klassischer Bauart (untenliegende Nockenwelle, im Kopf hängende Ventile) entwickeln – eine Aufgabe, der dieser vielleicht nur widerwillig nachkam.

Aus 3,1 Litern Hubraum schöpfte dieser neue Simson Typ R nun achtbare 60 PS, darunter brauchte man angesichts der Konkurrenz aus Übersee in der gehobenen Klasse aber auch erst gar nicht anzutreten.

Auch gestalterisch wollte man keine Fehler machen und orientierte sich stark an US-Vorbildern. Nachfolgend eine Limousine des Typs R 12/60 PS, welche ich bereits hier präsentiert habe:

Simson Typ R 12/60 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Jason Palmer (Australien)

Bei dieser Limousine scheint es so, als habe man sich mit dem nach der US-Konkurrenz schielenden Typ R 12/60 PS ganz von der Automobilwelt der frühen 20er Jahre verabschiedet.

Doch ganz konsequent scheint man der Parole „Back to Business“ nicht gefolgt zu sein. Denn auch den neukonstruierten Simson R 12/60 PS bot man nach wie vor mit dem altbekannten Tourenwagenaufbau „Karlsruhe“ an.

Das beweist nicht nur eine Aufnahme aus dem erwähnten Simson-Buch von Ewald Dähn (S. 82), sondern eine weitere Abbildung, die ich in meinem Exemplar des „Handbuchs vom Auto“ von Joachim Fischer aus dem Jahr 1927 fand:

Simson Typ R 12/60 PS Tourer; Abbildung aus: Handbuch vom Auto, Joachim Fischer, 1927

Die Karosserie erscheint fast identisch mit derjenigen des eingangs gezeigten Simson Typ So 8/40 PS, nur der weit größere Abstand zwischen den Türen fällt hier auf.

Dies war dem um satte 50 cm längeren Radstand des Simson R 12/60 PS geschuldet. Damit gingen leider auch 300 Kilogramm Mehrgewicht beim Tourer einher – die Agilität des kleineren Typs So 8/40 PS dürfte der Nachfolger also kaum besessen haben.

Unter dem Strich hatte Simson zwar ein von der Papierform und dem Erscheinungsbild her konkurrenzfähiges Auto auf die Räder gestellt. Doch beispielsweise ein gleichstarker 6-Zylinder-Buick von anno 1928 war dramatisch billiger.

Letztlich gilt immer wieder „Back to Business„, wenn es um Erklärungen für die weitgehende Chancenlosigkeit der deutschen Hersteller angesichts der Übermacht der US-Farbikate in den 1920er Jahren geht.

Für unzählige Kleinwagenexperimente war verstreut genügend Kapital in Deutschland vorhanden, ebenso für das folgenlose Zusammenkaufen von Marken ohne Plan, wie es einige leider wenig begabte deutsche Börsenteilnehmer damals praktizierten.

Beschäftigt man sich dagegen mit den „Spekulationen“ der amerikanischen Investoren jener Zeit, so lag diesen meist eine klare geschäftliche Logik zugrunde, die auf nüchternem Studium der Marktgegebenheiten fußte und kühl kalkulierte Operationen nach sich zog, die oft genug von Erfolg gekrönt waren.

Kapitalismus ist nicht per se gut oder böse – das können nur Menschen sein – er kann aber gut oder schlecht praktiziert sein – als wohlstandsschaffend willkommen geheißen oder als krisenfördernd gefürchtet sein.

Ein allgemeines „Back to Business“ im Sinne von mehr unternehmerischem Mut, einer positiven Sicht auf Marktmechanismen, Wettbewerb und Gewinnstreben sowie nicht zuletzt Minimierung von Interventionen einer überhandnehmenden marktfernen Bürokratie – das scheint mir hierzulande in unseren Tagen eine wieder sehr aktuelle Parole zu sein…

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Schon mit Scheinwerfer! Ein Renault von 1902/03

Ein 100 Jahre altes Auto – das erscheint einem beinahe vertraut gemessen an dem, was ich heute präsentieren möchte. Das gilt vor allem für US-Fabrikate, die damals international die Führungsrolle innehatten und diese bis in die frühen 1930er Jahre halten konnten.

Nehmen wir als Beispiel diesen Studebaker des Modelljahrs 1923, den ich hier bereits näher vorgestellt habe. Von ein paar Details abgesehen sollte die Grundform dieses Tourers den Großteil der Zwischenkriegszeit über einigermaßen aktuell bleiben:

Studebaker Modelljahr 1923; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wenn jetzt jemand die Stirn runzelt und meint, dass sich bis zum 2. Weltkrieg doch noch einige Entwicklungssprünge ergeben haben, dann hat er zwar recht. Doch letztlich ist das eine Frage des Maßstabs und der Perspektive.

In den 20 Jahren vor dem Erscheinen des 1923er Studebaker hatte das Auto nämlich noch größere Evolutionsstufen absolviert, weshalb ein Wagen von 1902/03 verglichen mit den Fahrzeugen der Zwischenkriegszeit wie ein Geschöpf aus fernster Urzeit erscheint.

Die damaligen Autos waren einerseits bereits so ausgereift, dass man damit längere Reisen unternehmen konnte, andererseits war so etwas Selbstverständliches wie ein Scheinwerfer noch eine Neuerung. Das glauben Sie nicht?

Nun, nehmen wir als Ausgangspunkt der heutigen Betrachtung diese Aufnahme eines frühen Renault, den ich auf 1902/03 datieren würde (Quelle: Renault – L’Empire de Billancourt, von Borgé/Viasnoff, 1977):

Renault von 1902/03; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Sie sehen, dass dieser adrette Viersitzer von den Rädern abgesehen wenig bis nichts mit dem 20 Jahre später entstandenen Studebaker zu tun hat.

Dabei zählte Renault damals zu den international fortschrittlichsten Herstellern überhaupt, zusammen mit anderen französischen Farbikaten wie DeDion-Bouton, Darracq oder Panhard – die im Ausland fleißig studiert und nachgebaut wurden, auch in Deutschland.

Die charakteristische Form der Motorhaube fand sich damals bei etlichen Herstellern wie Charron und Clément Bayard, aber auch bei frühen Wartburg-Wagen sowie Komnick aus dem Deutschen Reich.

Die Detailausführung ist hier allerdings typisch für frühe Renaults. Die seitlich angebrachten Kühlerspiralen wichen bald einem hinter der Haube liegenden Kühler, wie er bis in die 1920er Jahre typisch für die große französische Marke bleiben sollte.

Auf eine Kleinigkeit möchte ich noch aufmerksam machen. Dieser offene Viersitzer besitzt keine Scheinwerfer an der Frontpartie (auch keine Halterungen dafür). Wie zur Kutschenzeit beschränkte sich die Beleuchtung auf seitlich angebrachte Petroleumlaternen, die eher als Park- bzw. Positionsleuchten fungierten.

Nun wenden wir uns einem weiteren Renault zu, der sich zwar anhand der seitlichen Kühlwasser“schlangen“ ebenfalls auf etwa 1902/03 datieren lässt, aber dennoch ganz anders wirkt:

Renault von 1902/03; Originalfoto: Sammlung Jörg Pielmann

Manche Details weichen zwar ab, etwa die Ausführung der Radnaben und der Vorderkotflügel, doch das dürfte nur auf eine stärkere Motorisierung zurückzuführen sein.

Auch das Vorhandensein einer Frontscheibe und eines Dachs sind Indizien dafür, dass dieser Renault eher für längere Touren und nicht nur kurze Schönwetter-Ausflüge diente.

Sogar einen Chauffeur hatte man angestellt – der für dieses schöne Foto (aus Sammlung Jörg Pielmann) auf den Rücksitz verbannt wurde. Der gut genährte Besitzer hatte es sich nicht nehmen lassen, zu diesem Anlass selbst hinter dem Lenkrad Platz zu nehmen:

Die uns nachdenklich anschauende Dame auf dem Beifahrersitz erscheint mir deutlich älter zu sein – aber vielleicht hatte unser Renault-Besitzer aus – sagen wir – geschäftlichen Gründen eine reiche Witwe geehelicht, das gab es ja durchaus.

Interessanter ist aus meiner Sicht in diesem Fall aber etwas anderes, so sehr mich die menschliche Komponente auf solchen historischen Dokumenten sonst interessiert.

Sicher haben Sie bemerkt, dass auch dieser Renault mit Positionslampen ausgestattet ist. Doch im Unterschied zum eingangs gezeigten Wagen aus derselben Zeit besitzt er außerdem vorne Halterungen für echte Scheinwerfer, von denen einer montiert ist.

Damals war es noch üblich bzw. möglich tagsüber ohne die empfindlichen Scheinwerfer zu fahren, weshalb man auf vielen Fotos früher Automobile nur die Halterungen dafür sieht.

Erleichtert wurde diese Lösung dadurch, dass frühe Scheinwerfer über eine integrierte Brennstoffversorgung verfügten und daher einfach demontiert werden konnten:

Zumindest für den großen Scheinwerfer wird man statt Petroleum das ergiebigere Acetylengas verwendet haben, das im Scheinwerfer selbst aus Calciumcarbid und Wasser erzeugt wurde.

Diese Erfindung war anno 1902/03 noch recht jung, sodass hier vielleicht eine sehr frühe Anwendung an einem Automobil dokumentiert ist.

Jedenfalls unterstützt das Vorhandensein eines Frontscheinwerfers die These, dass dieser Renault bereits für Fahrten auch bei Dämmerung oder Dunkelheit genutzt wurde. Das müssen nicht zwangsläufig längere Nachtfahrten gewesen sein, schon beim abendlichen Besuch in der Oper oder im Theater würde der Scheinwerfer sich als nützlich erweisen.

Fernfahrten, bei denen man mit einer Ankunft erst bei Dunkelheit rechnen mussten, kamen mit einem solchen Renault aber ebenfalls in Betracht – das Auto war kein unzuverlässiges Kuriosum mehr, sondern ermöglichte den Besitzern eine ganz neue Form des Reisens.

Rund 120 Jahre ist das jetzt her, dass dieser Wagen am Hoftor zu Beginn einer Ausfahrt abgelichtet wurde. Und wie so oft auch bei späteren solcher Fotos wollte einer unbedingt mit auf’s Foto – der Hofhund!

Schauen Sie oben noch einmal genau hin, dort ist er am halbgeöffneten Tor zu sehen, neugierig und am faszinierenden Treiben „seiner“ Familie interessiert wir eh und je.

Es sind diese kleinen Konstanten im menschlichen Dasein, die aus einem Autofoto mehr machen als nur ein Dokument eines technischen Objekts – es ist Zeuge gelebten Lebens und so etwas rührt einen an, selbst wenn einem ein so früher Wagen fremdbleiben mag.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Vorkriegs-Kursus mit Carola: Wanderer W10-II

Die alten Hasen (m/w/d) in Sachen Vorkriegsautos sollten meinen heutigen Blog-Eintrag überblättern – sie werden hier diesmal vermutlich nichts Neues lernen. Zumindest als Einschlafhilfe mag ihnen bei Bedarf auch dieser kleine Essay dienen…

Beim Sichten meines noch etliche hundert Originalfotos umfassenden Bestands an unpublizierten Aufnahmen von Autos aus der Vorkriegszeit fiel mir eines in die Hände, das so unspektakulär ist, dass man sich schon etwas dazu einfallen lassen muss:

Wanderer W10-II 8/40 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Technisch nicht gerade berauschend und gestalterisch einfallslos ist dieses Dokument, so lautet das nüchterne Votum des Kenners.

Was aber, wenn sich nicht nur Kenner hierher verirren?

Vielen Zuschriften entnehme ich, dass immer wieder Zeitgenossen in meinem Blog landen, die nur eine vage Vorstellung von Vorkriegsautos haben.

Meist sind sie auf der Suche nach der Lösung eines Bilderrätsels, das ihnen verstorbene Familienmitglieder in alten Fotoalben hinterlassen haben.

In solchen Fällen helfe ich gerne weiter. Wunderbar, wie sich die Leute freuen, wenn sie erfahren, was für ein Wagen Opa einst gefahren hat oder vor welchem Schlitten sich Oma hat ablichten lassen.

Einen Motivationsschub erhalte ich aber auch dann, wenn mit dem Bildern aus meinem eigenen Fundus eine kleine persönliche Information verknüpft ist.

„Carolas Wagen“, das ist auf der Rückseite des eingangs gezeigten Abzugs von alter Hand vermerkt.

Wir wissen sonst nichts über Carola, aber wir tun heute einfach einmal so, als stelle sie uns ihr Auto als Anschauungsmaterial für einen Einführungskurs in Sachen Vorkriegsautos zur Verfügung – vielleicht hätte ihr der Gedanke gefallen.

Dafür ist die Aufnahme ganz ausgezeichnet geeignet, gerade weil man erst einmal nicht allzuviel darauf erkennt. Also beginnen wir ganz vorne und fragen uns: Woran erkennt man eigentlich, dass dies ein Vorkriegswagen sein muss?

Sicher, die allermeisten würden auch ohne Vorkenntnisse darauf kommen, aber was gibt uns eigentlich diese Gewissheit?

„Das sieht man doch“, lasse ich nicht gelten, also was ist es genau?

„Die freistehenden Kotflügel – so etwas gab es nach dem 2. Weltkrieg nicht mehr“, könnte jetzt die Antwort sein. Nun, das stimmt zwar in vielen Fällen, doch nicht immer.

Beispielsweise baute Daimler-Benz das Vorkriegsmodell 170V bis 1953 weiter. Der Wagen sah bis zum Schluss noch ziemlich genau so aus, wie auf dieser Aufnahme:

Mercedes-Benz 170V; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese prächtige Aufnahme entstand Ende der 1930er Jahre vor der prächtigen Kulisse von Budapest – wo sich das Alte Europa bis in unserer Tage erfreulich lebendig und erfrischend widerspenstig gegenüber der Bürokraten-Kreation EU zeigt.

Hier sehen wir indessen ein Detail, das sich zwar auch noch beim Nachkriegsmodell des Mercedes 170V findet, nicht aber bei „Carolas Wagen“: Die Kotflügel besitzen seitliche „Schürzen“, sind also nach unten gezogen und erlauben keinen Blick mehr aufs Chassis.

Das mag unerheblich scheinen, ist es aber nicht. Denn im Serienbau taucht dieses Element erst in den frühen 1930er Jahren auf – erstmals beim Graham „Blue Streak“ von 1933.

Das spricht stark dafür, dass „Carolas Wagen“ früher zu datieren ist, also nicht bloß allgemein in die Vorkriegszeit, sondern sogar auf die Zeit vor 1933. Das ist natürlich etwas vage und wir wollen am Ende ja genau wissen, was für ein Auto Carola einst fuhr.

Also werfen wir einen zweiten Blick auf die Vorderpartie ihres Wagens:

Die robusten Speichenräder finden sich nach 1930 kaum noch, sodas wir uns hier offenbar in den 1920er Jahren bewegen. Dass Carolas Wagen nicht noch früher entstanden sein kann, das verrät ein weiteres Detail.

Hinter den Radspeichen erkennt man ein dunkles rundes Gebilde, das deutlich größer als die Radnabe mit den fünf Radschrauben ist – das ist eindeutig eine Bremstrommel.

Vorderradbremsen tauchen im Serienbau zuerst nach dem 1. Weltkrieg auf, zunächst bei besonders starken und fortschrittlichen Wagen, dann ausgehend von den USA auch in der Massenproduktion. Bei deutschen Fabrikaten sollte es bis 1924/25 dauern, bis sich diese Verbesserung gegenüber den bis dato üblichen Getriebe- und Kardanbremsen durchsetzte.

Woher wissen wir aber , dass wir es mit einem deutschen Fabrikat zu tun haben?

Nun, eine amerikanische Limousine hätte als Viertürer keinen solchen Aufbau besessen und bei französischen oder englischen Modellen findet sich die markante Aufteilung der Luftschlitze in der Motorhaube meines Wissens nirgends.

Von dieser Arbeitshypothese ausgehend sind Hersteller und Typ rasch eingegrenzt, denn so viele Fabrikate gab es ab Mitte der 1920er Jahre hierzulande nicht mehr, die für eine solche Mittelklasse-Limousine in Frage kamen – vielleicht ein Dutzend Hersteller.

Da ist es eine reine Fleißaufgabe, bei den gängigen deutschen Autoherstellern zu schauen, ob sich Vergleichbares findet – ich empfehle dafür selbstlos meine eigenen Galerien.

Unter der sächsischen Traditionsmarke „Wanderer“ stößt man rasch auf dieses Fahrzeug:

Wanderer W10-II 8/40 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

„Das ist doch Carolas Wagen!“, möchte man hier spontan ausrufen. Tatsächlich sieht der Wagen fast genau so aus – nur die Haubenschlitze sind hier nicht dunkel gehalten.

Dafür lässt sich anhand der Form des Kühleremblems das Fabrikat genau benennen. Denn dieses Emblem wurde von Wanderer verwendet.

Auf folgender Aufnahme aus dem Fundus von Leser Matthias Schmidt (Dresden) erkennt man es besser – wiederum an einem Wanderer desselben Typs wie Carolas Wagen, hier bloß als offener Tourer:

Wanderer W10-II 8/40 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Man sieht außerdem, dass die vermeintlichen Parklichter auf den Vorderkotflügeln etwas anderes sind – nämlich Fahrtrichtungsanzeiger.

Diese blinkten zwar nicht, leuchteten aber erkennbar auf, wenn man abbiegen wollte – vielleicht die einzige Innovation der sonst sehr konservativen Marke Wanderer.

Da das Kühleremblem 1930 verändert wurde, kommt für Carolas Wagen letztlich nur ein Wanderer von 1925-29 in Betracht.

Ein kurzer Bildabgleich führt uns zum Typ 8/40 PS, der intern als W10-II geführt wurde. Dieses solide Vierzylindermodell wurde 1927/28 gebaut und erfreute sich einiger Beliebtheit.

Damit hätten wir das Auto erstaunlich genau datiert und präzise identifiziert. Was wir nicht mehr herausbekommen werden ist, wer Carola war und ob sie vielleicht auch auf diesem zweiten schönen Foto zu sehen ist – der Wagentyp scheint jedenfalls identisch zu sein:

Wanderer W10-II 8/40 PS Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Moment einmal, das Heck ist hier doch anders gestaltet und die Lackierung erscheint dunkler – so könnten Sie jetzt einwenden.

So ist es, und wenn man anfängt, auf solche Dinge zu achten und hektisch Bilder zu vergleichen, dann ist man auf dem besten Weg, sich in der Welt der Vorkriegsautos zu verlieren und damit eine wunderbare Ablenkung von den Miseren der Gegenwart zu finden.

Dafür danken wir Carola, deren Wagen sicher längst nicht mehr existiert, der für uns aber in einem kleinen Fotokursus in Sachen Vorkriegsautos fortlebt.

So, und jetzt können wir uns wieder spannenderen Dingen zuwenden – aber dafür müssen wir den nächsten Blog-Eintrag abwarten und auf neue Inspiration hoffen, die Arbeitswoche war ein wenig anstrengend…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Für Frühlingsverächter: Brennabor ASL Pullman

Der Frühling ist die Zeit, die mich zuverlässig vor der einsetzenden Depression bewahrt, dieses Jahr hat er arg lang auf sich warten lassen. Doch endlich lacht die Sonne, die Natur erfreut das Herz mit lang vermisster Üppigkeit und Farbigkeit.

Die Werbeleute der Firma Brennabor aus Brandenburg müssen im Mai 1929 ebenso empfunden haben – oder sie setzten auf die Empfänglichkeit ihrer Zielgruppe. Jedenfalls schufen Sie damals die wohl schönste Reklame der damals schon in Schwierigkeiten befindlichen Traditionsfirma:

Brennabor-Reklame von Mai 1929; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Vor lauter Begeisterung hatten die Werber vergessen, welchen Wagentyp sie da anpriesen. Den angegebenen Preisen nach zu urteilen, muss es sich um eines der Vierzylindermodelle mit 25 bzw. 30 PS gehandelt haben.

Doch daneben hatte man weit Attraktiveres in petto: den Sechszylindertyp AS, den es mit kurzem (Typ ASK) und mit langem Radstand (ASL) gab.

Dieser Wagen mit seinem 3,1 Liter-Motor und 55 PS Leistung sollte den Ende der 1920er Jahre am deutschen Markt enorm erfolgreichen US-Importautomobilen Paroli leisten, theoretisch jedenfalls.

Dazu bot man eine Reihe durchaus gelungener Aufbauten an – vor allem gemessen an dem optisch verunglückten Typen R 6/25 PS. Relativ häufig stößt man auf die Variante als „Faux-Cabriolet“ – also eine Limousine mit nur scheinbar zu öffnendem Verdeck (siehe auch hier):

Brennabor Typ ASK 12/55 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wirklich frühlingstauglich waren freilich eher die Ausführungen mit tatsächlich zu öffnendem Verdeck.

Davon gab es neben einem Cabriolet eine seltene Tourenwagenausführung. Ein Exemplar davon ist mir vor längerer Zeit ins Netz gegangen – mein Foto fand sogar 2019 Eingang in die Neuauflage des Klassikers „Deutsche Autos 1920-1945“ von W. Oswald.

Nachfolgend das Prachtstück, welches ich auf den Tag genau vor drei Jahren hier besprochen habe:

Brennabor Typ ASL 12/55 PS Tourer; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Nun soll es Zeitgenossen geben, die gegenüber der Sinnlichkeit des Frühlings völlig unempfindlich sind und ihr Dasein gern weiter im Dunkel von Büros und Fabriken fristen.

Die besonders Privilegierten darunter lassen sich noch heute in dunkel abgetönten Limousinen in der Gegend herumfahren – besonders gern, wenn diese mit dem Geld des Pöbels bezahlt werden, dessen unverschämten Blicken man sich entziehen möchte.

Auch an diese Herrschaften hatte man bei Brennabor gedacht und auf dem langen Chassis des Typs 12/55 PS (ASL), welches auch dem Tourer als Unterbau diente, eine ziemlich repräsentative Pullman-Limousine fabriziert.

Bislang ist mir überhaupt nur ein Exemplar davon begegnet, welches ich heute zeigen will:

Brennabor Typ ASL 12/55 PS Pullman-Limousine; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Diese stattliche Sechsfenster-Limousine ist leicht anhand des (hier waagerecht liegenden) „B“ auf der Radnabe und der „Nase“ an der Kühleroberseite als Brennabor der späten 1920er Jahre identifiziert.

Die Gestaltung der Luftschlitze in der Motorhaube und die von der A-Säule nach vorn geschwungene Linie sind klare Hinweise auf das Modell AS 12/55 PS, welches ab 1928 dem kleineren Sechszylindertyp A 10/45 PS zur Seite gestellt wurde.

Beim Vergleich mit dem weiter oben gezeigten Faux-Cabriolet, das ebenfalls viertürig war, ist klar zu erkennen, dass die Hintertür hier etwa auf Höhe des Trittbrettendes angeschlagen war – was ein deutlich längeres Chassis voraussetzte.

Somit haben wir es mit der um knapp 30 cm längeren Version ASL zu tun. Viel mehr bleibt an dieser Stelle nicht zu sagen, außer vielleicht, dass der Besitzer des Brennabor, der hier beim Einsteigen posiert, nicht sonderlich sympathisch wirkt.

Bestimmt war dieser finster dreinschauende Geselle ein Frühlingsverächter, am Ende gar ein Frühlingsleugner, pfui!

Wir sind ihm dennoch verpflichtet, hat er uns doch durch seine Entscheidung für die Pullman-Limousine zumindest ein Beweisfoto dieses raren Typs beschert…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.