Fund des Monats: Ein „Pluto“ Typ 5/30 PS

Ich sollte es nicht sagen, aber beim Fund des Monats Januar geht es heute leider abwärts.

Zwar ist in Sachen Motorleistung das Gegenteil der Fall, aber nach einem Einstieg wie dem folgenden fällt es schwer, das Niveau zu halten:

Amilcar Typ CS; Foto aus Familienbesitz (Thomas von der Bey; Enkel von August Wurring – AWD Motorradfabrik); bereitgestellt via Helmut Kasimirowicz (Düsseldorf)

„Das ist ein Amilcar!“, würde man auch ohne den Schriftzug auf dem Kühler ausrufen.

In der Tat sind der markante Kühler und die schmale hohe Front in Verbindung mit „Cycle Wings“ und Drahtspeichenrädern absolut typisch für frühe Vertreter des legendären französischen Herstellers.

Während sich Dutzende längst vergessene deutsche Fabrikate Anfang der 1920er Jahre in der Hubraumklasse bis 1 Liter mit meist austauschbaren Konzepten vergeblich um die Gunst der Käufer bemühten, waren Amilcar und einige andere französische Hersteller mit leichten und sportlichen Cyclecars und Voituretten ziemlich erfolgreich.

Das galt nicht nur für das Heimatland, sondern auch für den deutschen Markt. So wurde der oben gezeigte Amilcar von August Wurring (Gründer der AWD Motorradfabrik, Düsseldorf) und seiner Frau intensiv im Rheinland bewegt.

Die Begeisterung für die hierzulande konkurrenzlosen Amilcar-Sportwagen war so groß, dass im ersten Schritt eine eigene Vertriebsgesellschaft für Deutschland gegründet wurde. Dazu nutzte man die Reste der in Konkurs gegangenen Ehrhardt-Automobilwerke.

Der neu geschaffene Amilcar-Vertriebsarm firmierte in Berlin unter dem Namen „Pluto“. Wie es scheint, gab es Vertragspartner in weiteren deutschen Großstädten, wie diese Reklame zumindest vermuten lässt:

Pluto-Reklame; Original: Sammlung Michael Schlenger

Jedenfalls findet sich das zähnefletschende Konterfei auch auf den nach Deutschland importierten Amilcar-Wagen, die dort als Pluto verkauft wurden.

Was zu der Namensgebung und dem Emblem geführt hat – Pluto ist mitnichten der Höllenhund der antiken Mythologie, sondern der Herr der Unterwelt – das wüsste ich gern. Vielleicht hat jemand eine Erklärung.

Hier haben wir jedenfalls ein Thüringen zugelassenes Exemplar eines Pluto, das offenbar intensiven Einsatz erlebt hatte:

Pluto 4/16 oder 4/20 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Analog zu den frühen Amilcar-Typen CC, C4 und CS besaßen die ersten Pluto-Wagen Vierzylindermotoren mit rund 1 Liter Hubraum und leisteten 16, 20 oder 24 PS.

Jedenfalls finden sich entsprechende Angaben zu Pluto-Wagen der Kategorie 4 Steuer-PS. Diese vollzogen offenbar die allmähliche Leistungssteigerung der französischen Modelle nach.

Wohl bereits 1925 entschied man sich für eine Lizenzfertigung im ehemaligen Ehrhardt-Werk in Zella-Mehlis (Thüringen), eine genaue Angabe liegt mir nicht vor. Während die Motoren vermutlich weiterhin aus Frankreich kamen, verselbständigte sich allmählich die Gestaltung der Pluto-Wagen.

Neben den sportlichen Zweisitzern waren auch „Dreieinhalb-Sitzer“ erhältlich – einen davon sehen wir wahrscheinlich hier:

Pluto 4/20 oder 4/24 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Hier ist die sportliche Anmutung schon im Schwinden begriffen, wobei anzumerken ist, dass es einen ähnlichen Aufbau auch beim C4 des französischen Mutterhauses gab. Sogar eine Dreisitzer mit geschlossener Karosserie war erhältlich (vgl. Gilles Fournier, Amilcar, 1997).

Formal eigene Wege ging man bei Pluto jedoch möglicherweise mit dem folgenden Exemplar, bei dem der kastige Scheibenrahmen und das etwas plump erscheinende Heck wohl keinen Schönheitspreis erzielt hätten:

Pluto 4/20 oder 4/24 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Hier macht sich schon ein wenig Ernüchterung breit – jedenfalls fällt es mir schwer, mich für diesen klobigen Brocken zu entflammen. Auch das gab es also, bleibt hier zu konstatieren, sofern ich nicht ein sensationelles Detail übersehen haben sollte.

Und nein: Auch die sonst kaum sichtbaren Reibungsstoßdämpfer an der Hinterachse verdienen keine besondere Würdigung. Die gab es übrigens schon auf dem ersten Foto an der Vorderachse zu besichtigen, serienmäßig waren sie allerdings noch nicht.

Nachdem ich nun einige Zeilen mit eher Belanglosem gefüllt habe, biegen wir jetzt endlich auf die Zielgerade ein – an dessen Ende der eigentliche Fund des Monats auf uns wartet.

Ein bisschen zwiespältig ist die Sache schon: Auf der einen Seite wird der Schlussakkord ausgerechnet durch einen völlig austauschbar wirkenden Tourenwagen gesetzt. Auf der anderen Seite ist dieser enorm selten und zudem sehr glücklich aufgenommen:

Pluto 5/30 PS; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Da geht dem Freund von Vorkriegsmobilität das Herz auf – erheblichen Anteil daran hat indessen der flotte Motorradfahrer, der perfekt die Freude am Kraftradfahren verkörpert.

Anmerkungen zu der Maschine sind hochwillkommen – ich hatte noch keine Zeit für eine Recherche und bin in der Hinsicht auch nicht ganz sattelfest, wenngleich ich selbst das eine oder andere Vorkriegszweirad besitze.

Dafür habe ich mich eingehender mit dem Tourenwagen befasst. Der ist klar als „Pluto“ gekennzeichnet – aber was hat dieser Wagen noch mit Amilcar zu tun?

Eine Weile lang erwog ich sogar die Möglichkeit, dass hier jemand einem beliebigen Tourer einfach die Kühlerplakette eines verblichenen Pluto verpasst hatte – aus Nostalgie oder um den sonst banal wirkenden Wagen interessanter zu machen.

Dann entnahm ich aber der Literatur zu Pluto – wie üblich bei deutschen Nischenmarken sehr dürftig, angejahrt und teils fragwürdig – dass man von 1925-27 in geringen Zahlen noch einen Pluto mit 1,1 Litern Hubraum baute, der als 5/30 PS-Typ angeboten wurde.

Dieser war ausdrücklich als viersitziger Tourenwagen erhältlich, was zu obigem Foto passen würde. Ich konnte aber bislang keine Abbildung eines solchen Pluto 5/30 PS mit „zivilem“ Aufbau finden (es gab daneben auch Sportvarianten).

Sollte dieses Foto aus dem Fundus von Leser Klaas Dierks also das erste seiner Art sein, das hier das Licht der Öffentlichkeit erblickt? Dann würde man das Auto mit ganz anderen Augen sehen – und am Ende wäre das wirklich verdientermaßen der „Fund des Monats“.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Für Leute mit Markentick: Essex Modelljahr 1928

Zu den harmlosen menschlichen Macken gehört für mich der Markentick.

Während meiner Schulzeit stand den Trägern von Lacoste-Hemd und Levis-Jeans die Fraktion derer gegenüber, die sich von solchem Fetischismus frei wähnten – dabei aber nicht bemerkten, dass sie mit ihrem alternativen Look ebenso stereotyp daherkamen.

Die Uniform aus BW-Parka, Palästinensertuch und Doc-Martens-Stiefeln bei den Jungs und Mädels der Nicaragua-Front entlockte mir damals manche spöttische Bemerkung. Bei kontroversen Themen flogen verbal die Fetzen, Klassenkameraden blieben wir dennoch.

Die in den letzten Jahren wiederbelebten mittelalterlichen Kategorien von Verfehlung und Verdammnis gab es damals nicht – überhaupt war die ultraliberale Bundesrepublik der 1980er Jahre für mich in jeder Hinsicht das beste Deutschland, das es je gab.

Zu den Markenprodukten, die ich damals für mich entdeckte, gehörten beispielsweise „Diesel“-Jeans. Die waren nicht so sexy geschnitten wie andere, weckten aber die Assoziation von Werkstattleben und Schrauberei an Zwei- und Vierrädern.

Sie sehen: Ich fühlte mich schon früh zur satanischen Welt der fossilen Kraftstoffe hingezogen, als es nur für eine 50er Vespa, später eine 500er Yamaha (die legendäre SR) und einen 1200er VW reichte.

Als der wackere Käfer bei Kilometerstand 220.000 das Zeitliche segnete, war der Zeitpunkt für eine neue Markenleidenschaft gekommen: ich wurde MG-Fetischist!

Das Kürzel steht für die gut aussehenden/klingenden und bezahlbaren Sportwagen der gleichnamigen englischen Marke – in meinem Fall ein MGB GT.

Das MG-Oktagon ist zudem ein Beispiel für ein Markenemblem, das es an Einfachheit und Wiedererkennungswert mit denen von Mercedes und BMW aufnehmen kann. So abwegig es erscheint, sind wir damit fast schon bei der Vorkriegsmarke, um die es heute geht:

Essex von 1928; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Hier weist das Markenlogo nur sechs statt acht Ecken auf, ist aber ebenso markant und ein Leitmotiv für jeden Markenfetischisten in Sachen „Essex“!

Dieser Hersteller klingt zwar britisch, war aber eine Tochtergesellschaft der amerikanischen Marke Hudson. Man wollte damit auf den europäischen Markt zugeschnittene Fahrzeuge anbieten.

Dass Essex in Großbritannien nicht gerade den Ruf genießt, zu den reizvollsten Regionen zu zählen (für weniger verwöhnte Festlandsbewohner lohnt dennoch ein Besuch), entging den US-Markenstrategen.

Aber mit dem Auto trafen sie ins Schwarze. Es gibt nur wenige amerikanische Marken, die einem in den 1920er Jahren dermaßen oft auch in deutschen Landen begegnen.

Um das zu erkennen, bedarf es schon eines gewissen Markenfetischismus. Dazu werfen wir nochmals einen Blick auf einen 1928er Essex, wie wir ihn oben schon kennengelernt haben:

Essex von 1928; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Erkennen Sie die marken- und modelljahrtypischen Elemente?

Wieder weist der Kühler senkrechte Lamellen auf und trägt das sechseckige Essex-Logo, wieder besitzt die Doppelstoßstange dasselbe Emblem und wieder sind die Parkleuchten auf einer Zierleiste hinter der Motorhaube angebracht, die sich so nur beim 1928er Essex findet. Bei der Gelegenheit seien auch die optisch zweigeteilten Kotflügel und die von der Wölbung des Wagenkörpers abweichende Krümmung der Frontscheibe erwähnt.

Mit entsprechend geschärftem Markenfokus lässt sich auf einmal selbst ein schlecht wiedergegebener Wagen wie dieser auf Anhieb korrekt ansprechen:

Essex von 1928; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Na, was meinen Sie? Ein 1928er Essex natürlich. Das habe ich aber auch erst dieses Wochenende herausgefunden, als ich mich näher mit dieser Ausführung beschäftigt habe.

Hat man einmal den Bogen heraus, finden sich entsprechende Fahrzeuge allerorten. Gewohnheitsmäßig kaufe ich möglichst billige Fotos von Vorkriegswagen an, die nicht auf den ersten Blick erkennen lassen, was darauf zu sehen ist.

Manches schöne Zeugnis würde sonst im Ausschuss landen, wenn man nicht die Brille des Markenfetischisten auf der Nase hätte. So wäre es doch wirklich ein Verlust, wenn eine so schöne Szene für alle Zeiten in Vergessenheit geräte:

Essex von 1928; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Normalerweise wäre ein Foto wie dieses ein hoffnungsloser Fall, da mag sich die junge Dame noch so intensiv die Lektüre der Wegbeschreibung zum Ziel vertieft geben.

Nur die Gestaltung des Halters der Parkleuchten hinter der Motorhaube verrät, dass auch diese Limousine ein weiterer in Deutschland zugelassener Essex des Modelljahrs 1928 war.

„Ach, diese Ami-Limousinen sehen doch irgendwie alle gleich aus“, mag jetzt ein von meinen langatmigen Ausführungen ermüdeter Leser seufzen. „Bleiben Sie noch einen Moment wach!“, möchte ich ihnen entgegenrufen.

„Speziell die Herren interessieren sich doch bestimmt für Geschäftsangelegenheiten, nicht wahr? Wäre da nicht ein Essex in der Ausführung als Business Coupé reizvoll?“

„Mmh, schon. Aber das war doch auch bloß Massenware“, mögen Sie jetzt denken. Stimmt, doch selbst das schnödeste US-Fabrikat wird durch eine schöne Frau geadelt. Und das will man sich doch wirklich nicht entgehen lassen:

Essex von 1928; Originalfoto: Sammlung HG Becker

Versuchen Sie es ruhig: So oft Sie den Blick auf die Essex-typischen Elemente zu fokussieren versuchen, so oft holt sie der Sex-Appeal dieses Fotomodells wieder ein.

Sie müssen deshalb kein schlechtes Gewissen haben – wir sind schließlich eine Art Selbsthilfegruppe nicht nur in Sachen altes Blech auf antiken Fotos. Wir wollen ja auch unseren Altvorderen begegnen und ihren Stil studieren, der in den besten Fällen solcher wunderbaren Zeugnisse der Symbiose von Mensch und Maschine ermöglicht.

Ich könnte an dieser Stelle abbrechen und ich bin sicher, die meisten von Ihnen wären glücklich damit. Doch ich kann noch einen draufsetzen, nicht nur was das menschliche Element angeht, sondern auch das eigentliche Thema des Markenticks.

Denn ohne Markenfetischismus und den damit einhergehenden Sinn für Symbolik wäre es nicht einfach gewesen herauszufinden, was das für ein Auto war, das auf diesem Foto zu sehen ist, welches mir Andreas Friedmann zur näheren Bestimmung zugesandt hat:

Essex von 1928; Originalfoto aus Familienbesitz (via Andreas Friedmann)

Natürlich ist das auch ohne Kenntnis des als Staffage dienenden Wagens ein wunderbares Dokument – inszeniert zwar, doch zugleich spontan und hinreißend charmant.

Eine der jungen Damen auf der Stoßstange des Autos war vermutlich die Großmutter der Frau von Andreas Friedmann, ganz sicher ist das nicht.

Auch über den Aufnahmeort gibt es nur Mutmaßungen – vielleicht erkennt ein Leser die Situation mit der Fabrikanlage vor dem Hintergrund eines Hügelrückens. Leider lässt sich zum Kennzeichen nur sagen, dass es auf eine Zulassung im Raum Brandenburg verweist.

Den Wagen konnte ich anhand des mittig auf der Stoßstange angebrachten Essex-Markenemblems als einen weiteren „Super Six“ von 1928 identifizieren.

Rätselhaft bleibt indessen die Kühlerfigur – eventuell besteht laut Andreas Friedmann ein Zusammenhang mit der Baufirma von Heinrich Meyer aus Arzberg. War das vielleicht ein privates Markenzeichen?

Jetzt sind Sie an der Reihe, liebe Leser, das ist ein klarer Fall für Leute mit Markentick! Und noch etwas: Hat vielleicht irgendein Markenfetischist in Deutschland einen dieser einst so verbreiteten 1928er Essex-Wagen in die Gegenwart gerettet?

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Viel heiße Luft unter der Haube: Piccolo von 1907/08

Heiße Luft produzieren – das können nicht nur aufgeblasene Zeitgenossen, denen es zwar aber an Substanz in der Sache, nicht aber am Selbstbewusstsein mangelt.

Im Hessischen spricht man dann gern von Dummschwätzern. Um die geht es aber heute nicht. Heißluftproduzenten gab es es nämlich auch zuhauf bei Vorkriegsautos – und die sind bei manchen Macken meist sympathischer.

Im deutschen Sprachraum denkt man in dem Zusammenhang vor allem an zwei Marken – MAF aus Markranstädt und Piccolo aus Apolda. Nicht zufällig gibt es eine enge Verbindung zwischen den beiden.

So führten die MAF-Wagen die luftgekühlte Piccolo-Konstruktion fort, die bei Ruppe & Sohn im Jahr 1904 entstanden war und dort bis 1910 im Programm blieb. Einer der drei Ruppe-Söhne namens Hugo gründete 1907 MAF – siehe meinen kürzlichen Blog-Eintrag dazu.

Zurück zu Piccolo: Die ersten unter diesem Namen verkauften Modelle besaßen einen freiliegenden Zweizylinder-V-Motor und hatten optisch nur wenig mit einem Auto gemein:

Piccolo 5 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

In dieser Erscheinungsform blieb der Piccolo bis 1907 im Programm und erfreute sich einiger Beliebtheit – übrigens auch im Ausland (speziell in skandinavischen Ländern).

Doch schon bald war weder die geringe Leistung noch das maschinenhafte Aussehen der Frontpartie der Kundschaft vermittelbar.

So war der Piccolo bei weitgehend gleicher Grundkonstruktion ab 1907 mit nunmehr 7 PS Leistung verfügbar – und vor allem mit einer Motorhaube!

Sogar an eine Kühlerattrappe hatte man gedacht, dabei oblag es zwei Ventilatoren, die viele heiße Luft unter der Haube nach außen zu schaufeln. Unterstützt werden sollte das durch eine nach oben zu öffnende Klappe, welche hier sehr gut zu erkennen ist:

Piccolo 7 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Wenn ich es richtig sehe, sind die breiten – kiemenartigen“ Haubenschlitze ein Merkmal früher Piccolos dieses Typs – später wichen sie schmaleren und zahlreicheren.

Jedenfalls fand auch diese überarbeitete Ausführung des Piccolo eine Weile guten Absatz – tatsächlich gab es damals kaum Autos, die preisgünstiger waren und dabei einen gewissen Mindestkomfort in Form von Windschutzscheibe und Verdeck boten.

Man darf nicht vergessen, dass es kurz vorher noch Einsteiger-Automobile ohne jeden Wetterschutz gegeben hatte – das bekannteste war vielleicht das Oldsmobile „Runabout“, das im Original und in Lizenz („Ultramobile“) auch in Deutschland verkauft wurde:

Oldsmobile „Runabout“; Originalreklame aus Sammlung Michael Schlenger

Demgegenüber stellte der Piccolo bereits einen achtbaren Fortschritt dar – jedenfalls im Segment einfacher Zweisitzer, das vor allem von Ärzten bevorzugt wurde.

Gleichwohl musste man auch bei Ruppe & Sohn mit den steigenden Anforderungen des Markts Schritt halten – sowohl in punkto Motorleistung als auch das Platzangebot betreffend.

So nahm man parallel zur Version mit 2-Zylindermotor ab 1907 einen Vierzylinder in das Programm auf. Dieser war ebenfalls luftgekühlt, leistete jetzt aber rund 12 PS.

Das mag einem heute immer noch sehr wenig anmuten, galt aber damals als noch ausreichend auch für größere Aufbauten. So boten die renommierten „Adler“-Werke vollwertige Tourenwagen mit einer Motorisierung von lediglich 8-9 PS an:

Adler 4/8 oder 5/9 PS um 1908; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Daran gemessen war der Piccolo mit dem neu entwickelten Vierzylindermotor zumindest rein leistungsmäßig betrachtet das bessere Angebot in der Einsteigerklasse.

Auch äußerlich konnte sich der Piccolo nun erst recht sehen lassen – mit dem primitiv anmutenden Erstling von 1904 hatte dieser Wagen fast nichts mehr gemeinsam. Eine bemerkenswerte Entwicklung binnen nur drei Jahren.

Dennoch scheint sich der Erfolg in Grenzen gehalten zu haben, vielleicht war einfach zuviel heiße Luft unter der Haube. welche dem Motor nicht zuträglich war.

Denn während sich Fotos der Zweizylinder-Piccolos zuhauf finden, muss man schon viel Glück haben, um irgendwann auf eine Originalaufnahme (nicht nur Prospektabbildung) eines der Vierzylindermodelle zu stoßen.

Doch eines Tages schickte mir Leser und Sammlerkollege Matthias Schmidt dieses Foto zu, das einen ihm bis dato unbekannten Wagen zeigt:

Piccolo 12 PS von 1907/08; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

„Mein erstes Auto“ – so war unter dem Bild vermerkt, das ich oben ausschnitthaft zeige.

Mehr Informationen waren zwar nicht mitüberliefert. Doch brachte mich das Fehlen eines Einfüllstutzens auf dem „Kühler“ und die Ausführung der Luft“kiemen“ darauf, dass dies ein großes Schwestermodell des zweizylindrigen Piccolo sein musste.

Dummerweise konnte ich zunächst keine Vergleichsaufnahme finden, die genau einen solchen Piccolo mit acht breiten Luftschlitzen zeigt, lediglich Prospektabbildungen ähnlicher Fahrzeuge in der Standardliteratur.

Doch dann nahm letztes Jahr Wolfang Spitzbarth Kontakt mit mir auf und wies mich darauf hin, dass ich meine Kenntnisse in Sachen Piccolo (und später Apollo) auf seiner Website zu den Kreationen von Karl Slevogt aufbessern kann.

Slevogt als einer der wichtigsten deutschen Automobilkonstrukteure des frühen 20. Jh. hatte zwar keinen direkten Bezug zu den Piccolo-Wagen, sorgte aber im Rahmen seiner Anstellung bei Ruppe & Sohn in Apolda dafür, dass diese durch moderne und leistungsfähige Konstruktionen abgelöst werden – die bekannten Apollo-Wagen.

Apollo-Reklame von 1912; Original: Sammlung Michael Schlenger

Bei der Dokumentation von Slevogts Wirken, das sich keineswegs auf Apollo beschränkte, arbeitete Wolfgang Spitzbarth nebenbei (aber ebenso akribisch) auch die Historie der Piccolo-Wagen auf.

Ich darf sagen, dass es keine Quelle gibt, die auch nur annähernd an die Breite und Tiefe der Materialien herankommt, die Wolfgang Spitzbarth zu Piccolo (und den mit Slevogt in Verbindung stehenden Automarken) auf seiner Website bietet.

Wenn Ihnen also einmal langweilig sein sollte, dann lassen Sie sich auf die schiere Masse und Qualität der dort verfügbaren Informationen und Abbildungen ein. Man kommt dabei leicht vom „Hölzchen auf’s Stöckchen“, wie man so schön sagt – ich habe Sie gewarnt!

Das war es für heute in Sachen Piccolo – vielleicht weiß Herr Spitzbarth zu dem Vierzylinder-Modell auf dem Foto von Matthias Schmidt noch etwas ergänzen oder korrigierend beizusteuern…

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Tradition, Technik & Trend: Benz-Trio um 1920

Den „Benz Trio“ kannte ich noch nicht gar nicht – das mögen jetzt Leser denken, die meinen Blog vielleicht mit ernsthafter Automobil-Archäologie verwechseln.

Dabei soll die Beschäftigung mit den Vorkriegswagen ja vor allem Spaß machen – mir und Ihnen. Das erklärt manchen Kalauer, manchen erfundenen Dialog, manche spöttische Bemerkung (die nicht jedem gefällt, aber so ist das mit der Toleranz, nicht wahr?).

Manchmal wird schon die Überschrift Opfer meines Übermuts. Dabei trifft sie diesmal recht gut, worum es geht – wenngleich Sie keinen „Benz Trio“ erwarten dürfen. Ein Benz-Trio dagegen schon – dergleichen Unterscheidungen machen die deutsche Sprache aus.

Das Benz-Trio hat ganz von selbst zueinander gefunden, keine Casting-Show und kein Manager war dazu erforderlich. Wenn sich die Dinge beim abendlichen Sichten des Fotofundus plötzlich von alleine ordnen, dann weiß ich: Das ist ’ne Story, los geht’s!

Zur Marke Benz – vor dem Zusammenschluss mit Daimler – liegen mir Dutzende interessante noch unpublizierte Aufnahmen vor, teils aus meiner eigenen Sammlung, teils aus dem Fundus von Sammlerkollegen.

Das Material ist so umfangreich, dass ich meist davor zurückschrecke, eine Auswahl zu treffen. Doch heute war ich wild entschlossen, dass wieder einmal Benz an der Reihe ist. Da über diese Marke alles gesagt und alles publiziert ist (kleiner Scherz), ist es nicht einfach, den über etliche Motorisierungen hinweg sehr ähnlichen Autos etwas Neues abzugewinnen.

Doch heute will ich’s wagen! Also: Bekanntlich taucht bei Benz (wie bei Daimler und anderen deutschen Automarken) ab 1913/14 der modische Spitzkühler auf, den wir auf dieser Reklame aus dem 1. Weltkrieg besichtigen können:

Benz-Reklame aus: Der Motorfahrer, Dezember 1917; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Der Spitzkühler blieb bis in die frühen 1920er Jahren typisch für Benz, wenngleich konservative Kunden weiterhin auch den weniger auffälligen Flachkühler ordern konnten.

Wie vielschichtig sich der Stil dieser Benz-Wagen kurz nach dem 1. Weltkrieg unter dem Einfluss von Tradition, Technik und Trend darstellen konnte, das will ich heute anhand eines entsprechenden Trios illustrieren.

Dabei bleibt ausnahmsweise außen vor, um welche Typen es sich jeweils handelt – das zu sagen ist oft auch nur näherungsweise möglich (Ausnahmen bestätigen die Regel). Vor allem bieten die Mitglieder meines heute präsentierten Benz-Trios weit Interessanteres.

Beginnen wir mit Nr. 1 – was nicht als Rang zu verstehen ist:

Benz Tourenwagen, aufgenommen 1928; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Der Fahrer dieses Tourenwagen mag vielleicht tief im Sitz versunken oder schlicht sehr klein gewesen sein – so oder so war das ein ziemlich imposantes Auto.

Die Länge der Frontpartie, die fast die Hälfte des Wagens auszumachen scheint, wird durch die durchgehend gerade Linie von Motorhaube und Windlauf akzentuiert. Das findet man nach meinem Eindruck so konsequent bei Benz-Wagen erst ab 1918.

Die nach innen abgeschrägte Oberkante des übrigen Aufbaus – die sogenannte Schulter – ist ebenfalls ein typisches Merkmal deutscher Automobile jener Zeit.

Erst etwas später setzt ein radikaler Wandel ein – die „Schulter“ verschwindet völlig und weicht einer radikal reduzierten Kante. Bevor wir uns gleich ein Beispiel dafür anschauen, sei auf die vorne nachträglich angebrachte Stoßstange verwiesen.

Während der Spitzkühler nach dem 1. Weltkrieg die Tradition verkörpert und die „Schulter“ einen kurzlebigen Trend, ist die Stoßstange das Einzige, was den Fortschritt in der Technik repräsentiert, denn Benz-Wagen boten nach dem 1. Weltkrieg sonst kaum Neues.

So, jetzt aber zum nächsten Mitglied unseres Benz-Trios, welches nicht nur auf den ersten Blick kaum etwas mit dem eingangs gezeigten Wagen gemein hat:

Benz Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Ist doch irre, dieses Auto, oder? Hier kommt alles in einer wiederum völlig anderen Mischung zusammen: Tradition, Technik, Trend.

Beginnen wir mit letzterem: Der wannenformig gestaltete Passagierraum ist aufs Äußerste reduziert, jedenfalls was die reine Architektur betrifft. So extrem simpel kamen viele deutsche Tourenwagen ab Mitte der 1920er daher.

Der Besitzer bzw. Auftraggeber wollte der vollkommenen Beliebigkeit dieser Blechpartie jedoch offenbar dadurch entrinnen, indem er ein traditionelles Korbflechtmuster aufbringen ließ – eigentlich ein Gestaltungskonzept aus der Zeit weit vor dem 1. Weltkrieg.

Die sich daraus ergebende lebendig wirkende Fläche macht diese Partie nicht nur erträglich, sie lässt den Wagen geradezu exzentrisch erscheinen.

Dass hier jemand etwas ganz Eigenes haben wollte, ist auch daran ersichtlich, dass der als Basis dienende Benz höchstwahrscheinlich noch aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg bzw. dessen Ende stammte. Dafür spricht die Gestaltung der Luftschlitze.

Solche Neuaufbauten auf hochkarätigen Automobilen waren weder selten noch ein aus Kostengründen eingegangener fauler Kompromiss. Ein derartiger Manufakturaufbau war enorm zeitaufwendig und entsprechend kostspielig.

Gleichzeitig legte der Besitzer Wert auf technische Innovation im Detail. Denn hier sehen wir nun die modernste damals verfügbare Stoßstange überhaupt:

Ganz offensichtlich gab diese Stoßstange bei „Feindberührung“ etliche Zentimeter nach und absorbierte über einen Federmechanismus einen Teil der Aufprallenergie, den Rest verkraftete im Regelfall der in Längsrichtung hochfeste Rahmen.

Genial, nicht wahr? Darauf war aber keiner der nach dem 1. Weltkrieg überwiegend im Tiefschlaf verharrenden etablierten deutschen Autobauer gekommen, sondern irgendein findiger Entwickler von intelligentem Zubehör.

Wenn ich mich recht entsinne, wurden ohne Verformung stoßabsorbierende Stoßstangen in den USA irgendwann in den 1980er Jahren Standard, was hektische und hässliche Umbauten bei deutschen Exportmodellen nach sich zog (dabei gab es das doch längst).

Nun mag manchem die Nr. 2 in unserem Benz-Trio zu exaltiert erscheinen und die Nr. 1 zu bieder. Daher kommt jetzt Nr. 3 ins Spiel, und zumindest für mich ist hier eine besondere Harmonie aus Tradition, Technik und Trend realisiert worden:

Benz Tourenwagen; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Ein geräumiger Tourenwagen mit trendiger Bootsheckkarosserie, die „Schulter“ nach hinten ansteigend und breiter werdend, am Vorderwagen noch viel Tradition mit den alten Luftschlitzen und dem Spitzkühler der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg, und nicht zuletzt wiederum neue Technik in Form der Stoßstange – hier findet das Benz-Trio für mich seinen harmonischsten Ausdruck.

Was meinen Sie? Welcher Benz aus diesem Trio wäre Ihr Favorit? Und was fehlt Ihnen oder stört Sie daran? Vielleicht findet sich ja etwas im Fundus für das nächste Mal – denn Benz-Automobilen lässt sich auch nach 100 Jahren noch manche Facette abgewinnen…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Gelungene Restaurierung: Neues vom Peugeot 201

Konservieren oder Restaurieren – das ist bei erhaltenen Vorkriegsautos eine Frage, die immer wieder die Gemüter erhitzt. Ich meine, dass beide Ansätze ihre Berechtigung haben – je nach Ausgangszustand.

Ein unvollständiges oder vielleicht durch Unfall oder Feuer stark mitgenommenes Fahrzeug sollte im Regelfall wieder in den Ursprungszustand gebracht werden, so gut das möglich ist.

Dabei kann man durchaus versuchen, sich in einigen Bereichen der einstigen Optik anzunähern, in denen heutige Verfahren meist zu anderen Ergebnissen führen, die das Bild verfälschen. Mit Glück und Geduld lassen sich speziell für den Innenraum Stoffe und Leder auftreiben, deren Muster bzw. Oberflächenstruktur dem historischen Original nahekommen.

Auch ein neuer Kabelbaum lässt sich mit korrekter Optik (also stoffummantelt) wiederherstellen, und moderne Reifen sind mit historischem Profil verfügbar.

Im Motorraum muss nicht alles partout in Fabrikzustand gebracht werden, dort kann man durchaus einige Partien zur Dokumentation im dort oft noch erhaltenen Originalzustand belassen, etwa die Lackierung der Schottwand.

Dann gibt es aber Autos, die auf einzigartige Weise die Spuren ihres langen Lebens tragen, anhand derer sich ihre Geschichte erfahren und erzählen lässt. Mein Peugeot 202 „Pickup“ ist so ein Fall:

Peugeot 202 UH; Bildrechte: Michael Schlenger

Sein Leben begonnen hat das Fahrzeug als Armeefahrzeug, die mattgrüne Lackierung ist an einigen Stellen noch komplett erhalten (insbesondere im Innen- und Motorraum).

Später kaufte ein Bauer in der Champagne den Wagen, ließ ihm bei einem lokalen Schreiner einen Holzaufbau verpassen, von dem sich die Seitenwände erhalten haben. Den Boden musste ich erneuern lassen, da das Auto mit 400 kg Transportlast eingetragen ist.

Die vom neuen Besitzer aufgetragene Lackierung entsprach vom Grundton der Armeefarbe, glänzte aber etwas mehr. An vielen Stellen ist sie ausgeblichen, abgeblättert bzw. mit einem dritten Grünton „ausgebessert“ worden. Einige Jahre Aufenthalt unter einem nicht ganz dichten Dach haben zudem auf der Haube für Rostansatz gesorgt.

In diesem Zustand, mit vermutlich originalen 30 tkm Laufleistung erwarb ich das Fahrzeug vor rund 10 Jahren von einem sympathischen Vorbesitzer, welcher den Peugeot auf der Veterama gekauft hatte. Nach „Besichtigung“ in einer spärlich beleuchteten Tiefgarage kaufte ich das Auto, ohne auch nur den Motor laufen gehört zu haben.

Viel zu tun gab es auch nicht: Die Kompression war gut, der Tank sauber, alles funktionsfähig, wie sich herausstellte. Nur die hydraulischen Bremsen mussten überholt und neue Reifen aufgezogen werden – von Michelin in Originaloptik.

Irgendein passender Auspufftopf fand sich und kleine Löcher an der Schwellerpartie waren zu schweißen (nicht tragendes Blech, aber der TÜV bestand darauf…) – das war’s.

Mir ist noch keiner begegnet, der gesagt hätte, dass diese Zeitmaschine „ordentlich restauriert“ gehört. Es ist bei aller Patina ein veritables Schmuckstück, dessen Erhalt zwar Arbeit, aber auch glücklich macht – mich und andere:

Peugeot 202 UH beim Aero Club Bad Nauheim, 2017; Bildrechte: Michael Schlenger

Das war eine lange Vorrede, aber sie war notwendig – hätte ich sie sonst geschrieben? Wie immer geht es in meinem Blog bekanntlich vollkommen rational zu…

Und was läge näher, sich nach dieser Einführung nun dem Vorgänger meines Peugeot zu widmen – dem Typ 201 der frühen 1930er Jahre?

Auch wenn dieser formal völlig anders daherkam als der 1938 eingeführte 202, geht es nämlich wieder um die Frage: Konservieren oder Restaurieren?

Diesmal plädiere ich für eine solide Restaurierung, denn die Schönheit mancher Dinge ist mitunter durch den Zahn der Zeit, Missachtung und Verfall bis zur Unkenntlichkeit entstellt.

Manchmal genügt schon das ernüchternde Umfeld der sogenannten Moderne (faktisch ein 100 Jahre alter Hut), um einem die Freude an den attraktivsten Erscheinungen zu nehmen:

Peugeot 201; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Nein, das ist keine Fotomontage: Irgendein unbegabter oder bösartiger Mensch meinte in den 1930er Jahren, diesen Peugeot 201 mitsamt elegant gekleideter Dame partout an dieser Stelle und in diesem Moment ablichten zu müssen.

Die Einbeziehung eines Baumstamms im Vordergrund ist ja bereits eine reife Leistung. Aber die damals keineswegs mehr neue Bauhaus-Stapelarchitektur und der misanthropisch dreinblickende Herrn (könnte glatt der Architekt gewesen sein…) stellen einen Kontrast dar, der nicht ernsthaft beabsichtigt gewesen sein kann – oder doch?

Wie auch immer, heute kann ich genau so einen Peugeot in einer erbaulicheren Situation präsentieren, wenngleich sich das auf den ersten Blick nicht erschließen mag:

Peugeot 201; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Wenn ich hier entgegen meinen sonstigen Gepflogenheiten den vergilbten Originalabzug zeige, dann nur damit deutlich wird, dass in solchen Fällen eine Restaurierung der reinen Konservierung des Zustands vorzuziehen ist.

Das gilt nicht nur für die Aufnahmesituation als solche, sondern auch für die arg schäbig wirkende historische Fassade im Hintergrund. Auf vielen Fotos der Zwischenkriegszeit sieht man die verbreitete Vernachlässigung von Bauten, die an sich gut für Jahrhunderte waren.

Die modernistische Ideologie hatte schon damals viel Schaden in den Köpfen angerichtet. Die Zeit der großen Wertschätzung und Restaurierung historischer Bausubstanz (wenn auch oft sehr freizügig) hatte mit der Zäsur des 1. Weltkriegs vorerst geendet.

So ist zu erklären, dass ich zwar dem Foto als solchem und dem Peugeot nebst seinen Insassen durch eine behutsame Restaurierung zumindest einen Teil der ursprünglichen Würde zurückgeben konnte, nicht aber dem Bau im Hintergrund:

Peugeot 201; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Immerhin macht der kleine Peugeot mit seinem 1,3 Liter-Vierzlinder (28 PS) im Erscheinungsbild von 1934/35 hier schon wieder ganz gute Figur. Nicht ausschließen möchte ich, dass es auch ein Typ 301 war, der praktisch genauso aussah.

Gut gefallen mir die beiden Paare vor dem Wagen – sie scheinen bestens aufgelegt zu sein. Vielleicht ist ihre Heiterkeit auch dem vorherigen Genuss eines tüchtigen Elsässer Riesling zu verdanken, den es gleich um die Ecke gab.

Woher ich das weiß? Nun, auf der Rückseite des Abzugs steht der Schlüssel: „Andlau“.

Wer sich ein wenig im Elsaß auskennt – etwa weil er jährlich zum famosen Teilemarkt in Lipsheim südlich von Straßburg pilgert – wird die liebliche Weinbaugegend am Ostrand der Vogesen kennen, wo der im frühen Mittelalter gegründete Ort liegt.

Wie allgemein im Elsaß ist die historische Architektur von Andlau längst auf’s Schönste herausgeputzt. Im Speckgürtel von Frankfurt/Main ist so etwas die absolute Ausnahme, wie ich als Bewohner der an sich ebenso lieblichen Wetterau nur zu gut weiß.

Es bedurfte keiner langwierigen Recherchen, um die Stelle ausfindig zu machen, an der sich vor bald 90 Jahren unsere gut gelaunte Gesellschaft mit ihrem Peugeot ablichten ließ.

Auf dem Marktplatz war das, den das klassisch-schöne Rathaus beherrscht (so was können die Schukasterlbauer unserer Tage leider nicht mehr bzw. sie wollen es nicht). In der Mitte der hübsche Sandsteinbrunnen, der an die Gründungslegende des Städtchens erinnert:

Andlau im Elsaß; Bildquelle: Wikimedia

Den grausigen gelben Wagen ganz rechts kann ich Ihnen leider nicht ersparen – wer kauft so etwas eigentlich? – denn dahinter ist die Fassade des Wohnhauses zu sehen, vor dem einst der Peugeot zum Fotohalt abgestellt worden war.

Hier hat sich die Restaurierung gelohnt, meine ich.

Nebenbei sind diese historischen Bauten so „nachhaltig“ wie es überhaupt nur geht. Sie stiften dauerhaften Nutzen und anhaltende Freude über Generationen und Jahrhunderte hinweg. Ihr Erhalt – sei es durch Konservierung oder Restaurierung – schafft Identität, nicht die überall gleichen Funktionskisten der Moderne…

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Genug zum Glücklichsein: „Selve“-Tourenwagen

Meine Erfahrung ist: Nichts gewinnt die Herzen auf Oldtimer-Veranstaltungen so sehr wie ein sympathisch präsentiertes Vorkriegsauto.

Wenn ich mit meinem Peugeot 202 Pickup auftauche, dessen Äußeres von einem langen arbeitsreichen Autoleben erzählt, dann bleiben Frauen aller Altersklassen fasziniert davor stehen, schauen in den Innenraum, schnuppern, lassen sich davor fotografieren.

Man muss überhaupt nichts über diese Wegbereiter unserer modernen Mobilität wissen, um von ihnen angezogen sein. Die Männer begeistern sich meist für die einfache, offen vor Augen liegende Technik, während sich die Damen eher von den Formen verführen lassen.

Die Krönung ist natürlich, selbst einen Veteranen zu besitzen und zu beherrschen. Psychiater und Lebensberater hassen vermutlich Vorkriegsautos, denn die machen sie offensichtlich arbeitslos:

Veteranenausfahrt 2015; Bildrechte: Michael Schlenger

Diese schöne Situation konnte ich anno 2015 bei einer Veteranenausfahrt festhalten, an der ich als Passagier in einem Cadillac von 1912 teilnehmen durfte (Bildbericht hier).

Dennoch bedarf es keineswegs des Besitzes eines wirklich alten Automobils, um festzustellen: „Genug zum Glücklichsein“ – auch wenn Sie mit etwas Geduld für weniger als 10.000 EUR einen fahrbereiten Vorkriegs-Ford oder einen Austin 7 bekommen.

Nein, die Magie dieser Fahrzeuge überträgt sich bereits beim Betrachten, beim Schrauben daran und sogar dann, wenn man nur noch ein paar alte Familienfotos besitzt, auf denen die Altvorderen mit einem Vorkriegswagen zu sehen sind.

Heute kommt alles zusammen und ich kann versprechen: Es gibt für alle Beteiligten „Genug zum Glücklichsein“. Den Anlass dafür, dass Fortuna ihr Horn so großzügig ausschüttet, gab mir Peter Graß, der mich um die Identifizierung des Wagens auf folgendem Foto bat:

Selve Tourenwagen (wohl 6/20 PS oder 6/24 PS); Originalfoto aus Familienbesitz (Peter Graß)

Der Erste, der hier „Genug zum Glücklichsein“ fand, war ich selbst, denn ein solches Foto findet sich nicht alle Tage.

Der Spitzkühler mit dem schrägliegenden Emblem auf der „Nase“ verriet mir, dass dieser Tourenwagen ein „Selve“ sein muss – ein erst ab 1919 gebautes Fabrikat des gleichnamigen Konzerns, der vor allem für seine Motorenproduktion in Altena (Westfalen) bekannt war.

Die Automobilfertigung von Selve in Hameln währte nur 10 Jahre und die Zahl der Fahrzeuge hielt sich in Grenzen – jedenfalls sind Fotos davon eine Rarität und entsprechend überschaubar ist bislang meine „Selve“-Fotogalerie (mehr Material gibt es hier).

Anhand einiger Details wie der seitlich hinter der Motorhaube angebrachten elektrischen Parkleuchten und der kantig ausgeführten „Schulter“ der Karosserie entlang des Passagierraums würde ich diesen Selve auf Anfang der 1920er Jahre datieren.

Damals kamen nur zwei Modelle in Betracht, der 1,6 Liter-Typ (6/20 PS, später 6/24 PS) und der 2,1 Liter-Typ (8/30 PS, später 8/32 PS). Ich tendiere im vorliegenden Fall zu dem schwächeren Modell (siehe meine Selve-Galerie).

Ein ähnliches Fahrzeug dieses Typs zeigt das folgende Foto aus dem Fundus von Leser Klaas Dierks, das für uns Vorkriegsfreunde ebenfalls in die Kategorie „Genug zum Glücklichsein“ fällt – denn wo sonst findet man denn so etwas Schönes?

Selve Tourenwagen (wohl 6/20 PS oder 6/24 PS; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Als an hunderten Aufnahmen geschulter Leser meines Blogs werden Sie zwar registrieren, dass die Kühlerpartie, die beiden Griffmulden in der Motorhaube, die Position der Standlichter und die zweigeteilte Frontscheibe übereinstimmen.

Doch die übrige Karosserie ist moderner (will heißen: schlichter) gestaltet. Das gilt vor allem für die erwähnte Schulterpartie, also den oberen Abschluss der Flanke, der hier weniger akzentuiert ausgeführt ist. Der Fahrer kann nun seinen Ellenbogen lässig auflegen.

Mir gefällt der Selve auf dem Foto von Peter Graß aber ebenfalls. Mit seiner Zweifarblackierung wird er in natura markanter gewirkt haben, als es ein Schwarz-Weiß-Foto vermitteln kann.

Hinzu kommt, dass dieser Wagen zum Aufnahmezeitpunkt schon etliche Kilometer auf meist schlechten Landstraßen hinter sich hatte. Das verraten nicht nur einige durch ehrliche Arbeit erworbene Blechverformungen, sondern auch, dass sein Fahrwerk überholt werden musste.

„Woher weiß er das denn jetzt?“, mag sich mancher fragen. Nun, ich bin zwar durchaus für die eine oder andere (mehr oder wenige) plausible Annahme zu haben, aber für eine steile These in Sachen Reparaturbedarf will auch ich Evidenz.

Damit kann ich heute aufwarten, denn Peter Graß hat mir eine zweite Aufnahme des Selve in digitaler Form übermittelt, die nicht nur die gewünschte Beweiskraft hat, sondern vollkommen das Motto „Genug zum Glücklichsein“ zum Ausdruck bringt:

Selve Tourenwagen (wohl 6/20 PS oder 6/24 PS); Originalfoto aus Familienbesitz (Peter Graß)

Kann man das Glück besser zum Ausdruck bringen, das ein Vorkriegsauto vermittelt?

Dieser Mann, der hier wohl ausgeschlagene Buchsen der Vorderrradaufhängung repariert (wer es besser weiß, möge das im Kommentarbereich verraten), ist bei seiner Arbeit ganz bei sich – selten habe ich jemanden so zufrieden und freundlich schauen sehen.

Das leichte Lächeln um die Mundwinkel – der klare, selbstbewusste Blick ins Objektiv – wunderbar. Einem so sympathischen Mann hätte ich jedes Auto abgekauft.

Dieses Foto wäre für sich genommen bereits „Genug zum Glücklichsein“ und jeder geplagten Seele als Zielbild zur Meditation zu empfehlen.

Glücklich machen konnten wir jedoch mit der Identifikation des Selve-Tourers vor allem Peter Graß, dem wir diese schönen Dokumente verdanken. Denn jetzt weiß er endlich, an was für einem Auto sein Vater Hans Graß einst arbeitete!

Der ist übrigens auch auf dem ersten Foto des Selve ganz links zu sehen – dort im feinen Anzug mit Krawatte posierend. Dabei war es gar nicht sein Auto, das er einst reparierte – wem es wirklich gehörte, wissen wir leider nicht.

Aber wenn wir heute etwas gelernt haben, dann ist es die Botschaft aus einer längst vergangenen Welt: „Genug zum Glücklichsein“, das liegt vor allem in einem selbst.

Das alte Blech von annodazumal ist dann eine willkommene Zutat, aber in der genüsslichen Betrachtung liegt ebenso tiefe Zufriedenheit wie im Besitz, meine ich.

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Vor 110 Jahren: Winterfreuden im Automobil

Nun ist er da – der Winter. Nach dem üblichen Schmuddelwetter um die Weihnachtszeit fallen die Temperaturen in meiner Heimatregion – der klimatisch begünstigten Wetterau – nachts unter null Grad und morgens ist Schneeschieben angesagt.

Das weiß ich schon jetzt, während ich am Schreibtisch sitze, auf dem es sich meine Katze „Ellie“ gemütlich hat – die Banker’s Lamp mit der guten 60 Watt-Birne wärmt ihr den Pelz.

Der Wetterbericht verbreitet wie neuerdings bei jeder Gelegenheit Panik und es gibt genügend Zeitgenossen, die sich davon anstecken lassen. Heute nachmittag fuhr doch tatsächlich einer bei plus 1,5 Grad auf feuchter Landstraße mit 45-55 km/h vor mir her.

Da der Gegenverkehr ein Überholen nicht zuließ, beschloss ich, mich nicht zu echauffieren. Stattdessen genoss ich das Gleiten durch die Landschaft mit Sitzheizung und 20 Grad Innentemperatur.

Solchen automobilen Luxus gab es vor dem 1. Weltkrieg (und noch lange Zeit danach nicht). Und dennoch war schon der Besitz irgendeines Kraftfahrzeugs der reine Luxus.

Man macht sich keine Vorstellung davon, wie besch…en der Alltag der meisten Leute war, die jeden Tag zu Fuß, mit dem Pferdewagen oder bestenfalls mit Fahrrad oder Straßenbahn zur Arbeit oder zu allerlei Besorgungen unterwegs sein mussten – das ganze Jahr über.

Ja, mag jetzt einer sagen, aber war denn das Autofahren in der Vorkriegszeit nicht auch eine Plage? Auf den ersten Blick will das so scheinen – jedenfalls wenn man solche Fotos als Beweismittel heranzieht:

Brennabor Typ AL 10/45 PS Pullman-Limousine, Bauzeit: 1927-29; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Zweifellos: Ohne Schneeketten konnten überfrorene Partien schon einmal zu solchen Situationen führen, bei denen Handarbeit angesagt war. Natürlich blieben die Damen dann im Wagen, denn das war (und ist) Männersache wie ein Reifenwechsel.

Aber ganz so schlimm kann es nicht gewesen sein, denn zum einen hatte man eine Kamera dabei, um die Situation festzuhalten, zum anderen wusste man sich zu helfen und schon bald ging es weiter.

Nur weil Schnee lag, konnte man ja nicht einfach das Leben einfrieren, nicht wahr?

Wer auf ein Auto angewiesen war wie etwa ein Landarzt oder ein Geschäftsmann, für den ging der Alltag selbstverständlich weiter – für professionelle Fahrer erst recht:

Dixi Typ 6/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser junge Fahrer, der offenbar einen hohen Angestellten der Reichspost chauffierte, konnte sich kaum mit „gefährlichen Straßenverhältnissen“ herausreden – er musste unter solchen Bedingungen ebenso zuverlässig zu Diensten stehen wie sein „Dixi“ aus Eisenach.

Erst recht kein Pardon wurde bei der Armee gegeben. Im Zweifelsfall mussten mehrere Männer gemeinsam anpacken, um einen im Schnee festgefahrenen Wagen zu befreien wie diesen großen NAG irgendwann und irgendwo im Ersten Weltkrieg:

NAG Chauffeur-Limousine; originale Feldpostkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Immerhin verfügten diese Soldaten über angemessene Winterkleidung. Das war bekanntlich auf deutscher Seite im Zweiten Weltkrieg nicht immer Fall.

In der offenbar unausrottbaren Überheblichkeit von Schreibtischtätern meinte man in Berlin anno 1941 „den Russen“ leichterhand besiegen zu können – zu Weihnachten würde man wieder zuhause sein.

So sind Bilder wie das folgende zu erklären, auf dem junge Wehrmachtssoldaten an der Ostfront zu sehen sind. Sie kümmern sich um ein beschlagnahmtes Horch-Cabriolet , das einem Vorgesetzten zugeteilt worden war:

Horch-Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Natürlich war das ein für den Militäreinsatz völlig ungeeignetes Fahrzeug, nicht nur im Winter – aber Prestige war manchen Offizieren wichtiger als praktischer Nutzen. Und genügend Menschenmaterial war vorhanden, um die Fuhre bei Bedarf anzuschieben.

Bilder solcher Schinderei von Mensch und Maschine haben die Landser tausendfach nach Hause geschickt – erstaunlich, dass man mit dem aus Zivil-PKW bunt zusammengewürfelten Wehrmachts-Fuhrpark einst überhaupt soweit kam.

Leider scheinen diejenigen, die in diesen Tagen erneut meinen, dass deutsches Material nun wirklich den Sieg über den Russen bringen werde (selbst aber noch keinen scharfen Schuss abgegeben haben), nichts aus dem Fiasko gelernt zu haben, das sich aus deutscher Überheblichkeit im 2. Weltkrieg im Osten ergab.

Zurück zum Winterthema. Nachdem wir bisher überwiegend Fotos von Automobilen im Schnee gesehen haben, die aus irgendeiner Notwendigkeit unterwegs waren, wenden wir uns nun der Luxuskategorie zu.

Damit meine ich Aufnahmen solcher Fahrzeuge, die einst aus reinem Vergnügen auf verschneiten Straßen zum Einsatz kamen. Dabei lassen wir die Uhr rückwärtslaufen, was ohnehin in mancherlei Hinsicht erstrebenswert ist.

Den Anfang macht dieser Audi 225 Front, der mit seinem Vorderradantrieb einst über besonders gute Traktion im Winter verfügte:

Audi „Front“ Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dass man auch mit Heckantrieb einigermaßen sicher im Winter unterwegs sein kann, das weiß ich aus eigener Anschauung. Als Student absolvierte ich einst auch im Winter meine Wochenendtour zur Freundin nach Aachen mit dem heckgetriebenen 1200er Käfer.

Aus Kostengründen, aber auch ein wenig aus Trotz, absolvierte ich meine Touren über die A45 und die A4 auch im Winter stets mit Sommerreifen (mit reduziertem Luftdruck).

Einige Mal kam ich dabei auf verschneiter Straße im Mittelgebirge in haarige Situationen. Die unangenehmste war die, dass ich plötzlich ein Räumfahrzeug vor mir hatte, dass mit Salz um sich warf. Das wollte ich meinem Volkswagen nun auf keinen Fall zumuten.

Also wechselte ich auf die linke Spur, überholte das Gerät und fuhr über die zugeschneite Autobahn heim. Allerdings hatte ich nach dem Führerschein auch ein Sicherheitstraining absolviert, bei dem ich Fahren, Bremsen und Lenken auf glatter Fahrbahn gelernt hatte.

Jedenfalls lässt sich gerade mit schmalen Reifen mit eher großem Durchmesser im Winter auch ein Auto mit simplem Profil und primitivem Fahrwerk so verlässlich bewegen, dass man eine Vergnügungstour wie dieser Austro-Daimler ADM unternehmen kann:

Austro-Daimler ADM; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Im Alpenraum war und ist man ohnehin gewohnt, bei winterlichen Verhältnissen zurechtzukommen.

Wäre das in den 1920er Jahren mit dem damaligen Material völlig verrückt gewesen, hätten sich diese Damen kaum zu einem solchen Ausflug überreden lassen.

Hier haben wir sie nochmals aus anderer Perspektive im selben Auto bei gleicher Gelegenheit:

Austro-Daimler ADM; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Ja, natürlich fuhr man offen bei einer solchen Gelegenheit, schließlich wollte man etwas sehen. Auch das ein Aspekt, der manchem „Schneeflöckchen“ von heute, dem die Wahrung der „Work/Life“-Balance schwer zu schaffen macht, zu denken geben sollte.

Nur wenn es wirklich dicke kam und es vom Himmel herunterhaute, bevorzugten auch unsere Altvorderen die Vorzüge eines Daches über dem Kopf, wenn es im Auto auf Tour ging.

Das perfekte Beweisfoto will ich Ihnen heute zum Schluss dieser kleinen Winterreise präsentieren. Ich habe bislang nichts gefunden, was hiermit vergleichbar wäre:

Mit diesem Dokument geht es ziemlich genau 110 Jahre zurück in die Vergangenheit.

Wir schauen durch den Sucher einer Kamera, die jemand mitten im Schneetreiben betätigt hat. Schon eine Weile fegt der Wind die Flocken von links fast waagerecht durch die Luft.

Doch davon lässt sich dieses Paar – und erst recht nicht der vorbildlich posierende Hund auf dem Trittbrett – beirren. Die Skier sind auf der linken Wagenseite fest verzurrt, auf der Gepäckbrücke am Heck sind zwei große Koffer befestigt.

Hier war jemand wild entschlossen, so ziemlich das Luxuriöseste zu unternehmen, was man damals unternehmen konnte – von einer Ozeanüberquerung oder Fahrt im Orient-Express abgesehen: einen Ausflug in ein Wintersportgebiet im eigenen Automobil!

Was das für ein Auto war, dem man sich so selbstverständlich anvertraute, konnte ich bisher nicht herausfinden. Das ist aber auch ausnahmsweise nicht wichtig.

Anhand von Details wie den Gasscheinwerfern an der Front, den elektrischen Parklichtern vor der Frontscheibe und dem sanften Anstieg der Motorhaube würde ich sagen, dass dieses Fahrzeug zwischen 1912 und 1914 gebaut wurde.

Damals wusste man mit solchen Verhältnissen umzugehen, konnte ihnen sogar einen sportlichen Aspekt abgewinnen. Nicht auszudenken, wenn sich unser immerwandelndes Klima wieder einmal in diese Richtung bewegt.

Andererseits: für Kenner und Könner wären das Winterfreuden wie vor 110 Jahren!

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Nicht ganz „Standard“: Ein Packard Cabriolet von 1929

Wieso sollte ein 1929er Packard in Cabriolet-Ausführung nicht „Standard“ sein? Solche Ausführungen waren doch vollkommen gängig – sogar am deutschen Markt, oder?

Liefert nicht dieser Blog gleich mehrere Beweise dafür? Wie sieht es etwa mit diesem Exemplar aus, das einst in Berlin unterwegs war?

Packard „Roadster“, Modelljahr 1927/28; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Immer wieder eindrucksvoll, diese Aufnahme. Leider zeigt sie aber nur auf den ersten Blick ein (zweitüriges) Packard-Cabriolet.

Solche offenen Zweisitzer mit leichtem Verdeck firmierten nämlich in den Staaten meist als „Roadster“, auch wenn die Bezeichnung nicht ganz der europäischen Konvention entsprach. Auch „Convertible Coupe“ war in den USA eine weitere Bezeichnung – aber Cabriolet?

Hinzu kommt etwas anderes: Dieser Packard sieht zwar dem Modell des Jahres 1929 sehr ähnlich, aber er stammt eindeutig von 1927/28. Das ist an den trommelförmigen Scheinwerfern und Parklichtern zu erkennen.

Erst 1929 wichen sie schüsselförmigen Lampen wie an folgendem Packard, den ich ebenfalls schon einmal präsentiert habe:

Packard „Tourer“, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Marcus Bengsch

Na wunderbar, dann wird wohl das ein 1929 Packard Cabriolet sein, nicht wahr?

Wieder daneben – auch wenn vermutlich die meisten Zeitgenossen heute einen solchen offenen Viertürer als Cabrio ansprechen würden, denn eine Limousine oder ein Kombi ist es ja nicht. Bleibt doch kaum noch etwas übrig.

Nun, das war in der Vorkriegszeit anders. Damals gab es zahlreiche Karosserieausführungen mit speziellen Bezeichnungen, die längst nicht mehr gebaut werden – ein solcher Fall war der Tourenwagen.

Als solchen bezeichnete man offene Automobile mit zwei oder drei Sitzreihen, die nur über ein ungefüttertes Verdeck verfügten und keine festen Seitenscheiben besaßen. Genau so ein Tourer ist auf dem obigen Foto zu sehen.

Richtige (Kurbel)Scheiben an der Seite gab es natürlich bei geschlossenen Ausführungen wie dieser – hier hat man uns sogar freundlich die Tür zum Beweis geöffnet:

Packard „Landaulet“, Modelljahr 1928/29; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Ha, dieser Wagen hat aber noch trommelförmige Parkleuchten ruft jetzt mancher triumphierend aus! Stimmt, die schüsselförmigen Hauptscheinwerfer könnten nachgerüstet sein (oder umgekehrt).

Nebenbei sieht man an dem Beispiel, dass die Realität von einst nicht immer der reinen Lehre folgte, zumal auch die Karosserie kein Standard von Packard war, jedenfalls nicht der Part ab der Windschutzscheibe.

So ist das auch mit dem Packard „Cabriolet“ des Modelljahrs 1929 – so etwas wurde werksseitig ebenfalls nicht angeboten, wenn auch sonst (fast) alles „Standard“ an diesem Exemplar war:

Packard „Cabriolet“, Modelljahr 1929; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Nach dem Studium der zuvor gezeigten Fotos erkennen Sie gewiss auf Anhieb, dass auch dies ein 1929er Packard sein muss, daher will ich die für Marke und Baujahr typischen Merkmale wohl nicht eigens aufzählen.

Wenn dieses Auto ganz anders wirkt als die bisher präsentiertenm Schwestermodelle, dann liegt das schlicht daran, das es mit diesen nur den Vorderwagen gemeinsam hat.

Der übrige Aufbau als viertüriges Cabriolet mit versenbaren Kurbelscheiben und gefüttertem Verdeck mit Sturmstange stammt unverkennbar von einer deutschen Manufaktur.

Amerikanische Vorkriegsenthusiasten erkennen solche „fremden“ Aufbauten auf Anhieb – das gilt nicht nur für den wuchtigen teutonischen Stil wie hier, sondern auch für britische Aufbauten.

Aber werfen wir erst noch einen routinemäßigen Blick auf die Vorderpartie:

Alles „Standard“? Nein, auch hier nicht – jedenfalls scheint dieser Wagen mit einer Kühlerfigur versehen worden zu sein, die einen Vogel mit ausgebreiteten Schwingen zeigt.

Ein Wort noch zur seitlichen Haubenpartie: Hier findet man im Modelljahr 1929 statt der schmalen Luftschlitze bisweilen auch einige breite und verstellbare Entlüftungsklappen.

Diese scheinen jedoch den stärkeren Motorisierungen „Custom Eight“ und „DeLuxe Eight“ vorbehalten gewesen zu sein, für die über 100 PS Spitzenleistung angegeben wurden.

Dagegen musste sich der kleinere „Standard Eight“ mit 90 PS bescheiden – bei Packard war das nach Entfall der Sechszylinder die Basismotorisierung. Damit konnten damals selbst die legendären Horch-Achtyzlinder (1929: 80 PS) nicht ganz mithalten, jedenfalls von der reinen Papierform.

Nun aber zum Aufbau dieses speziellen Exemplars, der nicht gerade „Standard“ war:

Wie gesagt, einen solchen Cabriolet-Aufbau bot Packard nicht serienmäßig an. Da die Aufnahme in Deutschland entstand (von Hand datiert auf Sommer 1933), wird es sich um eine Manufakturkarosserie deutscher Provenienz gehandelt haben.

Leider ist keine Karosserieplakette zu erkennen, aber davon unabhängig würde ich eine der Spitzenadressen wie Gläser hier ausschließen. Der Ausführung mangelt es aus meiner Sicht an der Eleganz in der Gestaltung des oberen Türabschlusses, die man von den besten Herstellern erwarten durfte.

Vielleicht erkennt jemand Ähnlichkeiten zu anderen Cabriolet-Ausführungen bekannter deutscher Karosseriefirmen – dann bitte die Kommentarfunktion nutzen.

Kurios mutet hier der verloren auf dem Trittbrett stehende Reservekanister an, dessen Inhalt im Ernstfall die Reichweite des durstigen Wagens nur unwesentlich erhöhte. Vielleicht enthielt er aber auch Kühlerwasser für alle Fälle.

Ob er tatsächlich hier befestigt war oder bloß vorübergehend dort abgestellt worden war, muss ebenso offenbleiben.

Ein letztes Wort zum Verdeck: Hier sieht man zur Abwechslung einmal, wie das auszusehen hatte, wenn es niedergelegt war. Auffallend oft findet man nämlich Abbildungen, auf denen das Verdeck so hoch aufgetürmt ist, dass man sich den Rückspiegel hätte sparen können.

Das war es zu diesem nicht ganz „standard“mäßigen Packard. Weitere Bilder aus deutschen Landen, die Wagen dieses Oberklasseherstellers zeigen, harren der Präsentation, darunter sogar ein Zwölfzylinder!

Langweilig wird es also auch dieses Jahr nicht, selbst wenn man kein spezieller Freund amerikanischer Vorkriegsautos ist – diese waren aber einst so alltäglich in Deutschland, dass man an diesem Standard nicht vorbeikommt…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Wir kriegen Dich irgendwann! NAG D6 12/60 PS

Wenig ist für den Vorkriegsauto-Enthusiasten aufregender, als einem bisher unbekannten Modell auf die Spur zu kommen. Das Dumme daran ist, dass man sich letztlich nicht sicher sein kann, was man da entdeckt hat, denn definitionsgemäß weiß keiner etwas darüber.

Am Ende hat man es „nur“ mit einem Einzelstück zu tun, das andernorts nirgends Spuren hinterlassen hat – das folgende Foto könnte einen solchen Kandidaten zeigen:

unbekanntes Automobil vor der Berliner Siegessäule um 1920; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Eine ziemlich spannende Kreation ist das. Die Frontpartie mit dem Spitzkühler scheint auf den ersten Blick gut zum Entstehungszeitpunkt dieser Aufnahme zu passen – um 1920, das verrät uns das Erscheinungsbild der Insassen.

Die Scheinwerfer könnten aber noch gasbetrieben sein, dann würde sich in dem Kasten auf dem Trittbrett keine Batterie, sondern ein Karbidentwickler verbergen. Sicher elektrisch betrieben sind nur die Standlichter vor der Windschutzscheibe.

Die Frontpartie wäre demnach typisch für deutsche Fabrikate von 1913/1914. Dazu will jedoch etwas ganz anderes nicht passen: Der Kettenantrieb an den Hinterrädern!

Zwar findet man das kurz vor dem 1. Weltkrieg vereinzelt noch bei Daimler-Wagen mit starker Motorisierung (22/50, 28/60 bzw. 38/80 PS), aber der Kasten mit dem vorderen Kettenritzel sah dort nicht so kolossal aus.

Der Wagen bleibt somit rätselhaft, es sei denn, einer meiner Leser hat eine Idee.

Unterdessen wenden wir uns der zweitinteressanteste Kategorie zu: Vorkriegswagen, deren Existenz in der Literatur belegt ist, von denen aber bisher keine Abbildung zu finden war. Einem solchen Fall kommen wir heute zumindest ein ganzes Stück näher.

Zunächst möchte ich an meinen Blog-Eintrag mit dem Motto „So ziemlich das Letzte“ erinnern, der dem Typ D 10/45 PS der Berliner Marke gewidmet NAG war.

Ich hatte den Titel seinerzeit mit Bedacht gewählt, denn ich wusste: dieses ab 1924/25 gebaute Modell war einer der letzten NAG mit dem typischen Ovalkühler, aber noch nicht der allerletzte.

Zur Erinnerung darf ich ein zwischenzeitlich neu aufgetauchtes Foto dieses Typs vorstellen, das mir Leser René Liebers in digitaler Kopie zur Verfügung gestellt hat:

NAG Typ D4 10/45 PS; Originalfoto: Sammlung René Liebers

Von seinem 1920 eingeführten Vorgänger Typ C 10/30 PS unterscheidet sich der NAG D4 10/45 PS vor allem durch die Vorderradbremsen.

Zudem scheinen die sonst sehr ähnlichen C-Typen häufiger einen lackierten Kühler besessen zu haben; vereinzelt findet sich das aber auch beim Modell D 10/45 PS. Vielleicht konnten Käufer zwischen den beiden Varianten wählen.

Jedenfalls fand ich kürzlich in einem 1927 erschienen Buch (Joachim Fischer, Handbuch vom Auto) die folgende Abbildung eines NAG Typ D 10/45 PS:

NAG-Typentafel aus: Joachim Fischer, Handbuch vom Auto, 1927; Original: Sammlung Michael Schlenger

Neben der geschmackvollen Zweifarblackierung fiel mir auf, dass auch dieses Exemplar noch über Rechtslenkung verfügt – ungewöhnlich im Jahr 1927.

Natürlich könnte die Abbildung selbst noch von 1925/26 stammen und einen späten NAG D 10/45 PS zeigen. Interessanter ist aber etwas anderes: Obige Typentafel ist unten mit dem in Klammern gefassten Zusatz „NAG 12 PS Typ 1927“ versehen.

Das würde bedeuten, dass der gezeigte Aufbau grundsätzlich auch mit der Motorisierung 12/60 PS verfügbar war, die 1926 neu eingeführt wurde. Bei diesem Antrieb handelte es sich um einem Sechszylinder, weshalb das Modell als Typ D6 firmierte.

Nach den Daten in der Literatur war der Radstand nur geringfügig länger als beim D4, sodass man die beiden Modelle anfänglich äußerlich kaum unterscheiden konnte.

Kurz danach wurde jedoch das Erscheinungsbild des D6 modernisiert und der nunmehr als NAG-Protos 12/60 PS firmierende Wagen nerhielt einen Flachkühler, womit die traditionelle Markenoptik endgültig passé war.

Beim überarbeiteten NAG 12/60 PS findet sich dann auch der Hinweis auf Linkslenkung. Ich kann mir aber vorstellen, dass der noch traditionell mit ovalem Spitzkühler ausgestattete NAG D6 12/60 PS ebenfalls bereits linksgelenkt war.

Ein solches Exemplar, das ich bislang als D4 10/45 PS angesprochen hatte, könnten wir dann auf meiner folgenden Aufnahme sehen:

NAG D4 10/45 PS oder D6 12/60 PS; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Bis hierher bin ich auf plausible Annahmen angewiesen – bewiesen ist noch nichts.

Aber in meinem Fundus gibt es ein Dokument, mit dem wir dem NAG D6 12/60 PS noch ein ganz erhebliches Stück näherkommen. Es handelt sich um eines von zwei Glasnegativen des Instituts für Kraftfahrwesen in Dresden, die ich vor Jahren erstand.

Ich nehme an, dass es sich um Ausschussexemplare handelt, denn sie zeigen zwar zwei Karosserievarianten eines NAG D6, enthalten aber einen Fehler bei der PS-Angabe (20/60 PS statt 12/60 PS) – hier das Positiv des zweiten (besser erhaltenen) Dias:

NAG D6 als Pullman-Limousine; Abbildung von originalem Glasnegativ aus Sammung Michael Schlenger

So faszinierend dieser Fund auch ist – so ganz sind wir noch nicht am Ziel. Der Zeichner hat sich bei der Arbeit für einen Prospekt (vermute ich) hier einige Freiheiten genommen.

Sehr wahrscheinlich besaß der 1926 parallel zum D4 eingeführte NAG D6 serienmäßig Vorderradbremsen – anderes ist nach 1925 und bei dieser Motorisierung kaum vorstellbar.

Zudem dürften die sechs kleinen Luftschlitze in der Haube kaum zur Ableitung der Wärme im Motorraum ausgereicht haben – wahrscheinlicher ist eine lange Reihe hoher Schlitze wie beim D4.

Bei allen Vorbehalten lässt sich heute als vorläufiges Fazit festhalten: NAG D6 – wir kriegen Dich, irgendwann!

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Das Bild wird klarer: Brennabor Typ F 10/28 PS

Bei der Beschäftigung mit deutschen Vorkriegswagen – speziell solchen vor dem großen Markensterben ab Mitte der 1920er Jahre – registriert man immer wieder bemerkenswerte Defizite in der Dokumentation.

Während selbst französische, englische und amerikanische Nischenfabrikate in der Literatur oder im Netz eine ausführliche Würdigung erfahren – und es wird laufend Neues publiziert – herrscht im Geburtsland des Automobils weitgehend Funkstille.

Sicher, einige Enthusiasten haben sich einzelner Marken wie AGA, Röhr oder Steiger angenommen, doch in der Breite ist das Bild ernüchternd unvollständig. Das gilt sogar für Hersteller, die einst internationalen Rang hatten – beispielsweise Brennabor.

Die Autos des zuvor für Fahrräder und Kinderwagen bekannten Konzerns aus Brandenburg an der Havel erlangten in kurzer Zeit große Bekanntheit und Verbreitung, wozu auch Sporteinsätze beitrugen:

Brennabor-Wagen (wohl Typ F 10/28 PS) auf der Russischen Kaiserpreisfahrt 1911; aus: „Bilder aus dem, Sportleben 1911“, hrsg. von Continental, 1912, S. 107

An Bild- und Prospektmaterial sowie technischen Angaben zu den einzelnen Brennabor-Typen mangelt es nicht – denn ohne danach zu suchen, stoße ich ständig darauf bzw. bekomme entsprechende Dokumente zugesandt (gerade heute wieder).

Bloß scheint sich keiner der ausgewiesenen Vorkriegsexperten dafür zu interessieren. Immerhin gibt es inzwischen einen Verein, der sich der Marke angenommen hat. Seine Website ist noch im Werden, aber durchaus einen Besuch wert.

Dennoch bleibt es vorerst dabei, dass Sie die mit Abstand umfangreichste Dokumentation von Brennabor-Automobilen in meinem Blog und der zugehörigen Markengalerie finden. Das erfüllt mich allerdings nicht mit Stolz, denn eine besondere Leistung ist das nicht, bloß Fleißarbeit beim Sortieren der Masse an Evidenz.

Mich ärgert das Desinteresse an einer angemessenen Dokumentation in Wort und Bild einer der wichtigsten deutschen Vorkriegsmarken überhaupt. Gibt es denn nach der Blütezeit der 1970/80er Jahre keine schreibkundigen Autohistoriker mehr hierzulande?

Vielleicht ist aber längst etwas in Arbeit in Sachen Brennabor und ich weiß es als Hobby-Blogger bloß nicht. Dann sollten wir ja bald Ergebnisse sehen…

Unterdessen mache ich hier weiter, zumal bei mir auch immer mehr internationale Vorkriegsenthusiasten landen, die andernorts nicht fündig werden.

Genug lamentiert – wo bleibt das Positive, Genosse? Nun, damit kann ich aufwarten, nicht zuletzt aufgrund der großzügigen Bereitstellung von Bildmaterial aus privaten Archiven von Sammlerkollegen.

Einer der Fleißigsten darunter – Matthias Schmidt aus Dresden – hatte mir vor längerer Zeit diese Aufnahme zugesandt, vielleicht erinnern Sie sich an den Blog-Eintrag:

Brennabor Typ F 10/28 PS um 1912; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt

Ich hatte diesen Tourenwagen seinerzeit anhand kleiner Details als Brennabor von ca. 1912 identifiziert und aufgrund der Dimensionen als Spitzenmodell F 10/28 PS angesprochen.

Es klingt absurd, aber schon diese Aufnahme stellt einen Fortschritt in der Dokumentation der Brennabor-Automodelle aus der Zeit kurz vor dem 1. Weltkrieg dar – mehr als Prospektabbildungen findet man nämlich andernorts kaum.

Natürlich ist das kein Zustand, bei dem man es belassen kann. Also hat Matthias Schmidt noch einmal in seinem stetig wachsenden Fundus gestöbert und eine Aufnahme hervorgezaubert, mit der das Bild auf einmal klarer wird – viel klarer.

Halten Sie sich fest, denn so etwas (behaupte ich) haben Sie noch nie gesehen:

Brennabor Typ F 10/28 PS von 1913/14; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt

Besser kann ein Autofoto aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg kaum sein. Hier stimmt alles: die Perspektive, die Detailschärfe und – besonders wichtig – die Situation, welche das repräsentative Fahrzeug in den Kontext stellt, für den es geschaffen wurde.

Beginnen wir wie üblich mit einer Betrachtung der Frontpartie.

Dabei registrieren wir nicht nur den Markennamen (sicherheitshalber gleich doppelt), die Zulassung (Raum Berlin) und die m.E. erst 1912 auftauchende neue Form des Kühlers, sondern auch die elektrischen Standlichter im Windlauf vor der Frontscheibe:

Wer genau hinschaut, wird am Ende der Motorhaube dieselben Halter registrieren, die auch auf dem Foto des seitlich aufgenommenen Brennabor-Tourers zu erkennen sind.

Dort konnten bei Bedarf mit Petroleum betriebene Standlichter montiert werden. Dass die Halter trotz der modernen elektrischen Leuchten noch vorhanden sind, ist ungewöhnlich. Offenbar wollte man für den Fall, dass die Batterie leer ist, auf Nummer Sicher gehen.

Davon abgesehen stimmen die Details des Vorderwagens der beiden Autos vollkommen überein, soweit das aus den verschiedenen Blickwinkeln zu beurteilen ist. Die Einführung elektrischer Standlichter scheint mir allgemein ab 1913 erfolgt zu sein, weshalb ich die Chauffeur-Limousine geringfügig später ansetzen würde als den Tourer.

Sicher ist aber auch diese Aufnahme noch kurz vor dem 1. Weltkrieg entstanden – zumindest sprechen die Gasscheinwerfer an der Front dafür. Das Erscheinungsbild des Besitzers und des Fahrers dagegen wäre auch anno 1919 gerade noch aktuell gewesen:

Jedenfalls hielten nicht mehr ganz junge Männer auch nach dem 1. Weltkrieg an modischen Details wie Schnauzbart oder Vatermörderkragen fest. So gesehen könnte diese Szene auch noch später entstanden sein als 1914.

Was das Auto angeht, ist das Bild jedoch klarer – nach dem 1. Weltkrieg war die Zeit solcher repräsentativer Brennabor-Wagen erst einmal vorbei.

Man buk nun kleinere Brötchen – was Leistung und Erscheinungsbild angeht – lief allerdings in anderer Hinsicht zu großer Form auf: Inspiriert von der Massenproduktion in den USA legte Brennnabor die Fertigung ebenfalls auf große Serien aus und wurde so für eine gewisse Zeit zu Deutschlands größtem Autohersteller.

Dass es über die Brennabor-Wagen nicht ansatzweise eine überzeugende und umfassende Dokumentation gibt, ist für mich ein Witz oder eine Schande – je nach Tagesform.

Für mich wird jedenfalls mit jedem dieser Fotodokumente das Bild klarer: Brennabor braucht einen Experten von Rang, der sich der Autos dieser Marke gründlich annimmt…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Entdeckung eines Meisterwerks: Lancia Dilambda

Fotos von Vorkriegswagen bergen immer wieder Überraschungen, unabhängig von ihrer technischen Qualität. Daher greife ich gern zu, wenn für kleines Geld Aufnahmen zu haben sind, die zunächst wenig bis nichts erkennen lassen.

Hat man Glück, findet sich nach einigen „Restaurierungsarbeiten“ eine Perle wie diese – ein Adler „Trumpf“ Roadster, von dem bis heute kein zweites Stück aufgetaucht ist:

Adler „Trumpf“ Roadster; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Bei einer anderen Gelegenheit tritt nach endlosen Retuschen und Anpassungen an einem völlig verblichenen und zerkratzten Abzug unerwartet deutlich ein herrschaftliches Automobil mit enormer Manufakturkarosserie aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg hervor.

Um was es sich genau handelt, konnte ich noch nicht herausfinden, jedenfalls handelt es sich hierbei um originales Werksfoto der Firma „Lohner – Wiener Aeroplan und Carosserie Werke“:

unidentifizierte Chauffeur-Limousine von 1913/14; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Vorschläge hinsichtlich des Fabrikats werden übrigens gern angenommen (bitte Kommentarfunktion nutzen).

Es kann aber auch anders kommen: Da müht man sich mit einem stark mitgenommenen und schon bei Entstehung wohl nicht besonders hochwertigen Abzug ab in der Hoffnung auf eine hübsche Entdeckung – und was bekommt man?

Einen ordinären Cadillac von 1926, an dem das Ungewöhnlichste das gemusterte Kleid der neben dem Wagen posierenden Dame ist:

Cadillac Series 314, Modelljahr: 1926; Originalfoto: Michael Schlenger

Hatte ich den Cadillac gerade als „ordinär“ abqualifiziert? Dabei genießen doch speziell die ausgezeichneten US-Wagen der späten 1920er Jahre in meinem Blog die ihnen zukommende Wertschätzung.

Nun, diese Hochnäsigkeit erlaube ich mir heute mit gutem Grund.

Denn wie im Titel angekündigt, kann ich mit einem Fahrzeug aus derselben Epoche aufwarten, das im Vergleich zu den damals auch hierzulande gängigen Oberklasseautomobilen eine Klasse für sich darstellte.

Die Rede ist von dem Cabriolet auf der folgenden Aufnahme:

Lancia Dilambda Sport-Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Toll, nicht wahr? Ein Meisterwerk – ohne Zweifel.

Es bedarf tatsächlich besonderer Könnerschaft, ein elegantes Sport-Cabriolet und seine Insassen dermaßen unglücklich abzulichten. Dabei haben Sie das Original noch nicht gesehen: Schief und verwackelt, ziemlich vergilbt – trotzdem hat es jemand aufgehoben.

Zum Glück wurde dieser Abzug zusammen mit einem weiteren angeboten, der allerdings zunächst auch nicht ahnen ließ, was darauf zu sehen ist.

Erst dieser Bildausschnitt lässt nach Bereinigung der schlimmsten Schäden erkennen, dass wir es mit einem besonderen Auto zu tun haben, wie ich es in meinem Blog noch nicht vorgestellt habe:

Lancia Dilambda Sport-Cabriolet; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Gedrungen und nah am Boden kauernd, mit Drahtspeichenrädern und kräftig wirkender Bereifung steht der Wagen mit klassischer Kühlerform da.

Wer unter Ihnen, verehrte Leser, erkennt auf Anhieb, um was für ein meisterliches Automobil es sich handelt?

Sicher tippt der eine oder andere auf Lancia, denn das Kühleremblem erinnert trotz des vorgeblendeten Steinschlagschutzes an die Marke, die ab Anfang der 1920er Jahre legendären Ruf erlangte – mit dem wohl innovativsten Auto überhaupt: dem Lambda!

Vincenzo Lancias grandioser Wurf ist in meinem Blog bereits ausgiebig gefeiert worden, daher ist heute ein anderes seiner Meisterwerke an der Reihe.

Bei aller Genialität des Lambda erkannte man bei Lancia nämlich, dass man für den anvisierten Sprung in die Oberklasse zweierlei bieten musste:

Das eine war ein konventionelles Chassis, das gegenüber der selbstragenden Konstruktion des Lambda mehr Freiheiten für individuelle Aufbauten bot Das andere war ein Achtzylindermotor mit Leistung satt nach US-Vorbild.

Lancia ließ sich nicht lumpen und konstruierte für den ab 1928 gebauten Dilambda ein kompaktes V8-Aggregat, das die damals gängigen Reihenachtzylinder alt aussehen ließ.

Nehmen wir zum Vergleich den ikonischen Achtzylinder des Horch 350 vom Ende der 20er: Aus 3.950 ccm schöpfte der hochfeine, kultivierte Motor 80 PS – genug für Tempo 100 km/h.

Lancias Dilambda leistete bei gleichem Hubraum enorme 100 PS und der Wagen lief zwischen 120 und 130 km/h Spitze. Immerhin gab es damals in Italien auch schon die erste Autobahn der Welt, wo man das ausfahren konnte – wenn man wollte.

Wie auch die Alfas jener Zeit war ein solcher Lancia Dilambda ein Fahrzeug für Gourmets, denen deutsche Wagen oft zu wuchtig und schwerfällig waren. Die auch optisch sportlich wirkenden Fahrzeuge fanden in England guten Absatz, wo man diesen Stil schätzte.

So verwundert es nicht, dass das aus meiner Sicht beste Buch über klassische Lancias von einem Engländer verfasst und mit vielen Bildern englischer Exemplare illustriert wurde: Michael Frostick, Lancia, Verlag: Dalton Watson, 1976.

Für Hinweise auf hochwertige Lancia-Bücher aus jüngerer Zeit bin ich dankbar – mir scheint aber die deutsche Automobilschreiberzunft auch hier eher gehemmt zu sein.

Knapp 1.700 Lancias des Typs Dilambda wurden bis Anfang der 1930er Jahre gebaut und erfreuen sich bei Kennern international großer Wertschätzung.

Was aus dem heute gezeigten Sport-Cabriolet wurde, das einst in Mecklenburg zugelassen war? Vielleicht hat es den Krieg überstanden und wurde dann von den Besatzern einkassiert oder später ins Ausland verkauft.

Es würde mich wundern, wenn es noch hierzulande existierte – dabei wäre es großartig, ein solches Meisterwerk auf einer der raren deutschen Vorkriegsveranstaltungen zu entdecken.

Übrigens: Das abgebildete Auto ähnelt stark einem Sport-Cabriolet von Pinin Farina, welches im erwähnten Lancia-Opus auf Seite 49 abgebildet ist. Das Karosseriemblem entspricht aber nicht dem damals üblichen der Manufaktur. Was sagen die Experten?

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Zurück zur Kutsche!? Ein Daimler-Taxi um 1897

„Zurück zur Kutsche? Bloß nicht!“, ruft der passionierte Verbrenner-Fahrer. Jetzt haben wir doch endlich Autos, deren Abgase im Idealfall sauberer sind als die Stadtluft in der Heizsaison, zudem flüsterleise, preisgünstig und nahezu wartungsfrei.

Diese Pferdekutschen dagegen – ein irrer Aufwand für den meist untätigen vierbeinigen Antrieb und dessen Betreuer, zwangsläufig nur etwas für Bessergestellte, dann die Straßen voller Dreck und: ständiger Lärm von Hufgetrappel und Peitschenknallen!

Man sieht: Zurück zum friedlichen Idyll führt die Abkehr vom Verbrenner-Automobil keineswegs, jede Zeit hat ihre Plagen. Auch die sich sündenfrei dünkende Elektrofraktion ist ruhiger geworden, seitdem sie weiß, dass sie ihre Gefährte nicht nur bei Flaute und bei Dunkelheit mit fossil erzeugter Elektrizität lädt – oder gar mit „Atomstrom“!

Wie immer ist es ratsam, die ideologische Brille abzusetzen und eine pragmatische Sicht einnehmen. Was wirklich überlegen ist, wird sich schon von selbst durchsetzen – wie alle Annehmlichkeiten unseres Daseins, von denen keine einzige ein Politiker erfunden hat.

Alles hat seine Vor- und Nachteile – diese vernünftig abzuwägen, darf man ruhig dem sonst in Sonntagsreden gern beschworenen mündigen Bürger anvertrauen.

Bei gutem Wetter mit dem klassischen Stahlrahmenrad zum Einkaufen, ein andermal mit der Elektro-Vespa (China-Plagiat…) zur Post, dann mit einem alten Vergaser-Auto der Wahl eine Feierabendrunde durch’s Wettertal und nach Italien bequem im modernen SUV.

So sieht mein für Ideologen wohl verwirrendes Mobilitätsprofil aus. Nur zwei Fortbewegungsmittel kommen nicht darin vor: die Staatsbahn und die Kutsche.

Was die Kutsche angeht, will ich heute aber eine Ausnahme machen und stelle diesen Blog-Eintrag unter das Motto „Zurück zur Kutsche!?“

Mein stärkstes Argument dafür ist auf folgender Ansichtskarte zur bewundern, die anno 1909 ein gewisser Hermann aus Gelsenkirchen nach Herborn sandte:

Postkarte von 1909; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Der gute Hermann outet sich auf dieser Aufnahme als Kutscher, seine überaus charmante Passagierin ist mit „Mimmi“ bezeichnet. Ob das den Tatsachen entsprach oder ob es sich um einen Spaß handelt, sei dahingestellt.

Auch habe ich keine große Zeit auf die Entzifferung der Handschrift verwendet – leicht zu lesen ist für mich nur am Ende „Es grüßt Dich herzlich Dein Bruder Hermann“ sowie der anschließende Gruß an die übrige Familienbande inkl. des unvermeidlichen Fritz.

Nachtrag: Die Auflösung findet sich in den Leserkommentaren:

Spannender finde ich den Aufbau – offenbar ein Coupé mit hinten zu öffnendem Dach, also eher noch ein Landaulet. Alles schönste Kutschbautradition.

Aber was ist von dem „Kutscher“ zu halten? Können wir sicher sein, dass er Zügel in den Händen hält und ein oder zwei Pferde vor sich lenkt? Nun, das können wir bei genauer Betrachtung ausschließen, denn die Gestaltung des ausschnitthaft zu erkennenden Vorderkotflügels passt nur zu einem frühen Automobil.

Tatsächlich lebte die jahrhundertealte Kutschbautradition nach 1900 nur noch in der äußerlichen Gestaltung der Aufbauten für die Passagiere fort – immerhin bemerkenswert, wie lange sich solche Elemente hielten.

Im Hinblick auf die Konstruktion der technischen Komponenten dagegen hatte man früh die Lösungen aus dem Kutschbau als untauglich erkannt und sich in anderen Feldern bedient.

In vier Bereichen fanden sich Konstruktionsdetails, Bearbeitungstechniken und Materialien, die sich für’s Automobil nutzen ließen: Eisenbahn, Fahrrad, Feuerwaffen und Feinmechanik.

So ist es kein Zufall, dass es nicht selten Unternehmen mit entsprechender Kompetenz waren, die nach der Erfindung des Autos in großem Stil in die Produktion einstiegen. Die Pionierarbeit wurde aber interessanterweise durchweg von Einzelerfindern geleistet.

Karl Benz etwa kommt nicht nur das Verdienst zu, das erste wirklich einsatzfähige Automobil gebaut zu haben – was ihm allerdings erst seine resolute Frau Bertha mit der legendären Fernfahrt beweisen musste, die sie 1888 mit ihren Söhnen absolvierte.

Benz ignorierte auch richtigerweise die technischen Lösungen aus dem Kutschbau und nutzte vor allem im Fahrradbau bewährte Details wie Rohrrahmen, Drahtspeichenräder, Kugellager und Kettenantrieb. Konkurrent Daimler beschritt 1889 mit dem von Wilhelm Maybach konstruierten Quadricycle denselben Weg.

Wenn man nun aber meint, dass von dort ein gerader Weg unter Umgehung der Kutschentradition in die Zukunft wies, irrt.

Zwar ergriffen französische Firmen sofort die Gelegenheit, um auf Basis der Vorarbeit von Benz und Daimler das Automobil weiterzuentwickeln. Panhard baute schon 1891 den ersten Wagen fortschrittlicher Konzeption mit vornliegendem, blechverkleidetem Motor.

Doch bei Benz und Daimler gab es nochmals ein erstaunliches „Zurück zur Kutsche!“ Illustrieren lässt sich das kaum besser als mit diesem Foto, das mir Leser und Veteranen-Enthusiast Gottfried Müller zur Verfügung gestellt hat:

Daimler Riemenwagen um 1897; Originalfoto: Sammlung Gottfried Müller

Da ich von den Automobilen vor 1900 nur eine begrenzte Vorstellung habe, hat es eine Weile gedauert, bis ich herausfand, was dieses Foto zeigt.

Nach meinen Recherchen handelt sich um einen Daimler mit Riemenantrieb, wie er um 1897 gebaut wurde – hier offenbar genutzt als Taxi. Wer es genauer oder besser weiß, möge das bitte über die Kommentarfunktion mitteilen.

Jedenfalls ist mir noch kein Auto begegnet, was besser dem Bild der „Horseless Carriage“ entspricht, das die Engländer für die Kutsche ohne davorgespanntes Pferd geprägt haben.

Wenn ich es richtig sehe, besitzt dieses Gefährt nur eine Schwenkachslenkung, wie man sie seit Urzeiten an Pferdewagen findet. Auch die übrige Konstruktion mit großen Rädern und hoch angebrachtem Aufbau, in den man im Wortsinn noch ein“steigen“ musste, entspricht sehr weitgehend der Kutschentradition.

Fast zeitgleich boten andere Hersteller bereits niedrige und mit minimalistischem Aufbau versehene Fahrzeuge an wie etwa 1899 die Firma Cudell aus Aaachen:

Cudell-Reklame von 1899; Original: Sammlung Michael Schlenger

Gewiss erwies sich auch diese Konstruktion letztlich als Sackgasse, da der Motor hier noch im Heck lag (was neben den in der Reklame genannen Vorteilen auch Nachteile hat).

Aber immerhin wird doch deutlich, dass man auf dem Weg zu einer vom Kutschbau völlig unabhängigen Chassiskonstruktion war.

Wenn Daimler mit dem Riemenwagen – und auch Benz mit dem Typ „Viktoria“ kurz vor 1900 – noch einmal die Devise „Zurück zur Kutsche!“ ausgaben, dann ist das wohl damit zu erklären, dass eine gewisse sehr wohlhabende Käuferschicht weiterhin auf das gewohnte Erscheinungsbild herrschaftlich wirkender Kutschen nicht verzichten wollte.

So erklärt das jedenfalls für mich überzeugend Erik Eckermann in seinem über 800 Seiten starken und anschaulich bebilderten Opus „Auto und Karosserie“ (Verlag Springer Vieweg, 2. Auflage 2015), auch sonst eine großartige Quelle wertvoller Informationen und Gedanken zur Genese des Automobils.

Natürlich wissen wir, dass auch Benz und Daimler später noch die Kurve gekriegt haben, nachdem zwischenzeitlich die Konkurrenz aus Frankreich und Belgien an die Spitze der Autoentwicklung gerückt war.

Daimlers 35 PS-„Mercedes“ von 1901 gilt mit seinen innovativen Lösungen in konstruktiver wie gestalterischer Hinsicht zurecht als der Urahn des modernen Autos.

Doch viele Elemente und ganze Karosserievarianten aus der Kutschbautradition sollten sich noch über Jahrzehnte halten. „Zurück zur Kutsche“, das dachte sich Anfang der 1920er Jahre offenbar auch der Hersteller dieses US-Fabrikats mit „Victoria“-Aufbau:

unidentifizierter US-Wagen; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Unter der Haube dieses großzügigen, aber bis unidentifizierten Automobils verbarg sich ein hubraumstarker Motor (einen „Daniels V8“ würde ich trotz gewisser Ähnlichkeit ausschließen), doch am Heck entschied man sich für eine Reminiszenz an die Zeit, in der man auch in den Staaten noch mit dem flotten Einspänner unterwegs war.

Gestern und heute vertragen sich durchaus – Kutsche und Automobil haben beide ihren Reiz, wie übrigens auch das Spazierengehen. Für letzteres Thema dürfte mir aber auf Dauer das zum Blog passende Bildmaterial fehlen – das müssen Sie also schon selbst tun.

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Polizist müsste man sein: Dürkopp P12 10/45 PS

Hatten Sie schon einmal Besuch von der Polizei? Mir ist das vor einigen Jahren passiert, und ich muss sagen: Es fühlt sich merkwürdig an, wenn ein Polizeiauto direkt vor dem Haus hält und es kurz darauf klingelt.

Zwar „vergesse“ ich es meistens, Parkscheine zu ziehen, und interpretiere Tempolimits außerhalb von Ortschaften gern als Empfehlung, aber ansonsten habe ich nichts auf dem Kerbholz – so dachte ich.

Nun stand eine eindrucksvoll bewaffnete Polizistin in meinem Büro und teilte mir mit, dass auf der Bad Nauheimer Parkstraße mit einem Auto Fahrerflucht begangen worden sei, das eventuell auf mich zugelassen sei – der Zeuge sei sich beim Kennzeichen nicht ganz sicher.

Zum Glück war das fragliche Fahrzeug aus meiner Sammlung – mein heißgeliebter 1974er MGB GT – zu dem Zeitpunkt in einer Scheune im Nachbarort abgestellt und längere Zeit nicht bewegt worden.

Ich war gerade umgezogen und hatte die Fahrzeugpapiere nicht parat – die Ordnungshüterin schenkte meiner Beteuerung, ich könne das nicht gewesen sein, aber Glauben. Offenbar machte ich einen überzeugenden Eindruck auf die Dame in Uniform.

Ich war froh, als sie wieder fort war – auch wenn sie vorbildlich freundlich war. „Polizist müsste man sein“, dachte ich mir, zumindest auf dem Land. Den lieben langen Tag in der Gegend herumfahren und irgendwelchen banalen Blechschäden hinterherforschen…

Mancher wackere Wachtmeister hatte auf dem platten Land aber in den 1920er Jahren noch ganz andere Privilegien – etwa mit einem teuren und raren 6-Zylinder-Auto auszufahren und nach Belieben Weibspersonen in Gewahrsam nehmen.

Wenn Sie jetzt denken: „So ein Unsinn, das denkt er sich nur aus“, dann sind Sie auf dem Holz- oder Radweg. Ich kann das alles belegen!

Für eine wasserdichte Beweisführung hinsichtlich des Tatfahrzeugs ziehe ich erst einmal die zeitgenössische Literatur heran:

Dürkopp P12 12/45 PS; Typentafel aus: Joachim Fischer, Handbuch vom Auto, 1927 (Original: Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir den größeren von zwei Automobiltypen, die von Dürkopp anno 1927 gebaut wurden, bevor man diese zunehmend unrentable Nebenlinie im Konzern wieder einstellte.

Neben dem ab und zu anzutreffenden Vierzylindermodell P8 8/32 PS (siehe meine Dürkopp-Galerie), fertigte man in sehr kleinen Stückzahlen auch ein eindrucksvoll dimensioniertes Sechszylinderfahrzeug – den oben illustrierten Typ P12 12/45 PS.

Im Programm war der technisch konventionelle Wagen mit 3,1 Litern Hubraum bereits seit 1923. Daher kann es gut sein, dass die tatsächliche Leistung zuletzt mehr als die meist angegebenen 45 PS betrug. Gut 50 PS sollten standfest möglich gewesen sein.

Gestalterisch entsprach dieses Dürkopp-Spitzenmodell prinzipiell dem Vierzylindertyp P8 – es besaß also einen Spitzkühler und hohe schmale Luftschlitze ohne jede weitere Eigenheit. Nur die Haube war deutlich länger, der Reihensechser brauchte mehr Platz.

Ein Exemplar dieses eindrucksvollen Modells P12 12/45 PS habe ich bereits hier vorstellen können:

Dürkopp Typ 12 12/45 PS, aufgenommen 1928; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Bemerkenswert ist, dass dieses Auto zur Hälfte aus der Motorhaube zu bestehen scheint. Ich meine, dass hier bewusst ein kurzer Radstand gewählt wurde, um eine gewisse sportliche Charakteristik zu kreieren – und sei es nur optisch.

Das Fehlen von Vorderradbremsen ist ein Hinweis auf eine Entstehung vor 1925. Festzuhalten ist außerdem, dass das Dürkopp-Emblem wie bei den Spitzkühlermodellen üblich beiderseitig angebracht war.

Wie es scheint, erhielten ganz späte Dürkopp-Wagen statt des Spitzkühlers der allgemeinen Tendenz folgend einen Flachkühler, vielleicht war dieser aber auch wahlweise verfügbar.

Jedenfalls findet sich in der fallweise noch hilfreichen älteren Literatur (Hans-Heinrich von Fersen: Autos in Deutschland 1920-1939, 4. Aufl. 1975, S. 131) die Abbildung eines Dürkopp P8 mit Flachkühler, datiert auf 1926.

Was mir indessen noch nirgends begegnet ist, ist ein Dürkopp mit Vorderradbremsen, Spitzkühler und dort mittig angebrachtem Markenemblem. Leser Matthias Schmidt konnte aber genau so etwas aus seinem Fundus hervorzaubern:

Dürkopp Typ 12 12/45 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Von den wohl optionalen Trittschutzblechen am Schweller abgesehen, entspricht dieser mächtige Tourer sehr weitgehend dem auf der eingangs gezeigten Typentafel gezeigten Dürkopp P12 12/45 PS.

Allerdings besitzt dieser keine Vorderradbremsen, weshalb die Abbildung in dem 1927 veröffentlichten Buch damals schon veraltet gewesen sein muss. Denn ab 1925 werden die Dürkopp-Wagen wie praktisch alle deutschen Wagen von Rang auch Vorderradbremsen erhalten haben.

Altmeister von Fersen bestätigt das in seinem Opus, während in der unter anderem auch darauf basierenden Neuauflage von Werner Oswalds Klassiker („Deutsche Autos 1920-1945, 2019) diese Information merkwürdigerweise fehlt.

Und, wie gesagt, ein mittig auf dem Spitzkühler angebrachtes Dürkopp-Emblem findet man andernorts ebenfalls nicht – für mich ein Hinweis auf eine seltene und späte Ausführung:

Leider ist das genaue Reifenformat nicht lesbar, es scheint jedenfalls voluminöser zu sein als beim zuvor gezeigten Dürkopp P12 12/45 PS ohne Vorderradbremsen.

Angesichts dieses Befunds möchte ich nicht ausschließen, dass sich unter der Haube dieses Dürkopps ein noch stärkerer Motor verbarg, als er offiziell zuletzt erhältlich war. Bis 1922 hatte es ja ein 70 PS leistendes weiteres Sechszylindermodell gegeben.

So oder so lässt dieses großartige Automobil die Feststellung zu: „Polizist müsste man sein„, denn wenn ich mich niht irre, waren die beiden lederbejackten Herren Fahrer bei den Ordnungshütern der Weimarer Republik.

Sie waren am Tag dieser Aufnahme ohne den offiziellen Stander unterwegs, der sonst wohl am Vorderkotflügel flatterte. Hatte man sich den Dienstwagen gar für eine Landpartie ausgeliehen und die beiden Damen quasi als Zivilstreife aufgegabelt?

Schwer zu sagen. Die vorne sitzende Beifahrerin schaut mit Pokerface in die Ferne – sie scheint fest entschlossen zu sein, zu schweigen. Ihre Genossin auf der Rückbank hat sich schon gefügt und das Gesicht aufgesetzt, das für das anstehende Polizeifoto gewünscht ist.

Die beiden Ordnungshüter scheinen halbwegs zufrieden zu sein mit dem Ertrag ihrer Fahndungsbemühungen. Ja, so eine Uniform öffnet einem Tür und Tor – einen dicken Dienstwagen darf man fahren, das Benzin blecht der Bürger. Polizist müsste man sein!

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Eleganter geht’s nicht: Chevrolet von 1925/26

Einige Leser konsumieren meinen Blog noch des Nachts kurz nach Erscheinen des neusten Eintrags, andere schätzen die Lektüre zum Frühstück, wiederum andere kommen erst abends dazu.

Sie alle eint das Vergnügen an einer im deutschen Sprachraum einzigartigen Auseinandersetzung mit der Welt des Vorkriegsautomobils – sehr subjektiv, aber mit dem Anspruch, der Vielfalt an Herstellern, Konstruktionen und Gestaltungsformen einigermaßen umfassend (und unterhaltsam) gerecht zu werden.

Mal geht es dabei weit in die Frühzeit zurück, dann steht die „Nietenzählerei“ im Vordergrund (keine Anspielung auf die Regierung, übrigens). Ein andermal wird genüsslich eine rare Ausführung mit Manufakturkarosserie zelebriert. Bisweilen – eher die Ausnahme – wird auch technischen Besonderheiten Raum gegeben.

Meine bevorzugte Disziplin ist eine andere: Mich begeistert beim klassischen Automobil nichts so sehr wie das Miteinander von Mensch und Maschine. Im Idealfall findet beides in schönster Weise zusammen wie hier:

unbekanntes Automobil um 1920; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das Besondere daran, ein Auto zu besitzen, es zu beherrschen – auch dann, wenn es besondere Zuwendung braucht – Freude wie Missgeschicke damit gemeinsam zu erleben, das lässt sich kaum besser illustrieren bringen als so.

Meine Damen, wenn Sie sich schon immer gefragt haben, warum manche Männer so ein lustvolles Verhältnis zum Auto haben, dann sehen Sie sich diese beiden Herren an: Die sind hier vollkommen in ihrem Element und brauchen keinen Psychiater.

Es gibt aber auch Aufnahmen, bei denen das Auto nur eine Statistenrolle spielt oder allenfalls Teil des Bühnenbilds ist, während im Vordergrund die menschliche Komponente alles überstrahlt – erst recht die ewiggleiche Sachlichkeit moderner Architektur:

Adler Trumpf vor dem Kurhaus Warnemünde; Originalaufnahme von 1935 aus Sammlung Michael Schlenger

Das Kurhaus in Warnemünde hat die Zeiten überdauert; heute fotografiert man sich in sogenannter Funktionskleidung aus mehr oder minder höheren Poylester-Derivaten davor. Die Autos sind vollkommen, bloß interessant sind sie meistens nicht mehr.

Wie die beiden Ladies allem die Schau stehlen, finde ich phänomenal, wo man doch sonst gleich herausfinden möchte, was das für ein Fahrzeug im Hintergrund ist. Hier ist es völlig egal.

Letztlich ist der Mensch für uns das Bemerkenswerteste, Anziehendste oder Abstoßendste – jedenfalls das, was die stärkste Reaktion in uns hervorruft. So, das war ein langer Vorspann.

Meine Begleitmusik ist verklungen, doch ich lasse sie einfach vorne spielen:

Bach-Kantaten Nr. 88, 93 und 131, eingespielt in der Blasiuskirche Mühlhausen am 23. Juli 2000 von den English Baroque Soloists mit dem Monteverdi Choir unter John Eliot Gardiner.

Man braucht kein bisschen gläubig zu sein, um sich von der Schönheit dieser Musik ergreifen zu lassen. „Meine Seele wartet auf den Herrn„, die Nr. 4 aus BWV 131 kann jeder für sich auslegen als Erwartung der Erlösung von den Scheußlichkeiten des Alltags, den Widerwärtigkeiten mancher Mitmenschen, des Daseins überhaupt.

Die schiere Eleganz der Kantate lässt – wie so oft bei Meister Bach – völlig vergessen, dass es sich um ein geistliches Werk handelt. Sich in irgendeiner Form der Schönheit zuzuwenden und darin Erbauung zu finden, sich gegen die Zumutungen des Hier und Jetzt zu wappnen, das ist aus meiner Sicht Lebenskunst.

Solches geht – und das ist eine steile These, aber immerhin bringt sie mich zum Thema zurück – sogar mit einem banalen Chevrolet von anno 1925.

Der war damals der schärfste Konkurrent des Ford Model „T“ und wie dieses musste er robust, leistungsfähig und leicht zu reparieren sein – vor allem aber: für jedermann erschwinglich, einschließlich der Männer, die ihn bauten.

Eleganz war das letzte, woran man bei der Konstruktion dieser Gefährte dachte, die mehr für die Freiheit des Einzelnen geleistet haben als alle politischen Parteien zusammen.

Ford Model „T“ um 1925; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

In den Weiten des nordamerikanischen Kontinents mussten solche Autos auch noch geländegängig sein, denn mit befestigten Straßen war nur ausnahmsweise zu rechnen.

Das erklärt, weshalb der Chevy wie der Ford so „breitbeinig“ und „hochbeinig“ daherkamen und über enorme Federwege verfügten. Schön konnte das Ergebnis nicht sein und so waren auch die Standardaufbauten optisch anspruchslos.

Immerhin bot Chevrolet Mitte der 1920er technisch einiges, was das Ford Model T vermissen ließ: Beispielsweise war der Vierzylindermotor bereits kopfgesteuert (ohv) und leistete trotz gleichen Hubraums 26 statt bloß 20 PS wie der Ford.

Insgesamt war der Chevy das anspruchsvollere – wenn auch etwas teurere – Auto und man findet ihn daher auch öfters in Europa zu jener Zeit, als der Besitz eines Wagens dort noch eine exklusive und nicht jedermann zugängliche Sache war.

So konnte um die Mitte der 1920er Jahre in Luxemburg das folgende Foto entstehen:

Chevrolet von 1925/26; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Hier übersieht man glatt den kurz und kastig daherkommenden Wagen mit seiner kolossalen Bodenfreiheit.

Nichts gegen die grundsoliden Besitzer des Model T auf dem vorherigen Foto, die sich für selbiges in Schale geworfen haben. Doch wenn man dagegen die Aufnahme dieses ebenso vierschrötig wirkenden Chevrolet betrachtet, muss man einfach feststellen:

„Eleganter geht es nicht!“. Das ist keineswegs das Verdienst des Herstellers, sondern einzig und allein von Ilse, Rudi und Helene Buse, die sich auf diesem Foto von ihrer besten Seite zeigten und den proletarischen Chevy quasi in den großbürgerlichen Stand erhoben…

„Sing, bet und geh auf Gottes Wegen“ heißt es gerade in Nr. 7 von BWV 88. Das mag ein jeder für sich auslegen, wie er will. Für mich heißt es: Beharrlich fortschreiten auf der Suche nach Schönheit, Frieden und Vollkommenheit – rare Güter in unseren Tagen.

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Einer für alle: Zwei „Metallurgique“ um 1911

Die ab 1900 gebauten Automobile der belgischen Firma „Metallurgique“ scheinen in Deutschland heute nur noch Spezialisten zu kennen, obwohl sie bis Anfang der 1920er Jahre hierzulande ähnliche Verbreitung fanden wie in anderen europäischen Ländern.

Es fand ab 1909 sogar eine Lizenzfertigung bei Bergmann in Berlin statt.

Dabei nahm man nicht nur in technischer Hinsicht Maß an den belgischen Wagen – es gab auch einen Berliner Ableger der Karosseriefabrik Van den Plas, welcher ein wichtiger Lieferant von Aufbauten für Metallurgique war.

Mit solch‘ einem in Berlin mit Van den Plas-Karosserie gebauten Bergmann-Metallurgique haben wir es mit dem Wagen auf folgendem Foto sehr wahrscheinlich zu tun:

Bergmann-Metallurgique Tourer um 1911; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Jedenfalls ist diese Aufnahme einst als Postkarte innerhalb Deutschlands gelaufen, nach Vienenburg im Harz, und auf dem Original ist „Van den Plas“ auf der Plakette zu lesen.

Der Aufbau ist ein bemerkenswertes Beispiel für den gestalterischen Umbruch ab 1910, der in Deutschland binnen kürzester Zeit erfolgte, sich in anderen Ländern aber teils bis zum 1. Weltkrieg hinzog.

Das erschwert die genaue Datierung in solchen Fällen ausländischer Aufbauten. So sind hier noch einige recht archaische Elemente zu sehen wie die Unterteilung des Aufbaus in einzelne Bausteine, die noch kein harmonisches Ganzes ergeben.

Man erkennt ansatzweise zwei „Sitzwannen“, die jeweils optisch von der zugehörigen Türpartie abgesetzt sind. Die „Sprünge“ des oberen Karosserieabschlusses weisen Entsprechungen an der Unterseite zum Rahmen hin auf.

Eher an frühen Fahrzeugen findet man außerdem die nur notdürftig kaschierte Lücke zwischen Rahmen und Trittbrett – sie wurde später mit einem durchgehenden Blech verschlossen, hinter dem dann auch die senkrechten Trittbretthalter verschwanden.

In Kombination mit der Gestaltung der Kotflügel würde man einen solchen Aufbau auf etwa 1908 datieren. Ein formales Detail spricht jedoch dagegen:

Auch wenn es nicht ganz leicht zu erkennen ist, besitzt dieser Metallurgique – übrigens am markanten Kühlergehäuse als solcher zu erkennen – bereits eine strömungsgünstige gestaltete Blechpartie vor der Frontscheibe – den sogenannten Windlauf.

Dieses Element findet sich erstmals ab 1910 im Serienbau bei deutschen Fabrikaten – ausländische Hersteller hatten es mit der Modernisierung dagegen nicht so eilig.

Bei Metallugique-Wagen findet sich genau diese Ausführung nach meinem Eindruck erst ab 1911 – wobei ich mir bewusst bin, dass die Datierung vieler Aufnahmen in der Literatur und im Netz oft auch nur geschätzt ist.

Bei der Gelegenheit möchte ich Sie noch bitten, sich die Proportionen der Motorhaube einzuprägen, insbesondere deren Höhe im Vergleich zu Kotflügeln und Windlauf.

Wir sind heute nämlich in der komfortablen Lage, einen zweiten Metallurgique studieren zu können, der einen nahezu identischen Aufbau besaß, sich aber als stärkeres Modell erweist.

Zudem ist diese Aufnahme aus dem Archiv von Klaas Dierks von weit besserer Qualität:

Metallurgique Tourer um 1911; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Ist das nicht ein prächtiges, geradezu herrschaftlich anmutendes Automobil?

In der Tat mischten einige der damals sehr zahlreichen belgischen Autohersteller in der europäischen Oberklasse mit. Dieses Exemplar wurde der Überlieferung nach in London aufgenommen, wo wahrlich kein Mangel an Repräsentationsautomobilen herrschten.

Hier können SIe nun besser erkennen, wie das erwähnte ansteigende Blech vor der Winschutzscheibe den Luftstrom auf diese lenkte und wie man sich die Verstellmechanik der auf meinem eingangs gezeigten Foto nach vorne umgeklappten Scheibe vorstellen muss.

Ich bin sicher, Sie werden beim Aufbau ab der Frontscheibe keine wesentlichen Unterschiede zu dem obigen Wagen feststellen – dennoch wirkt dieser Metallurgique deutlich harmonischer und „erwachsener“. Den Grund dafür sehen wir hier:

Die Motorhaube erscheint nicht nur länger, sie ist vor allem deutlich höher und schließt auf einer Ebene an den Windlauf an – so wirkt die Frontpartie aus einem Guss, obwohl die Gestaltungslemente als solche weitgehend dieselben sind.

Den etwas moderneren Eindruck macht dieses Fahrzeug aber auch aufgrund des gerundeten Querschnitts der Vorderkotflügel – diese weisen bei meinem „Metallurgique noch das kantige Profil auf, das man von früheren Fahrzeugen kennt.

Überbewerten darf man das aber nicht, denn auch hier existierten beide Formen speziell bei ausländischen Fabrikaten noch einige Jahre parallel zueinander.

Von der Motorhaube abgesehen deutet ansonsten nichts darauf hin, dass es sich bei diesem Metallurgique um ein stärkeres Modell gehandelt haben muss.

Wie gesagt, ist der übrige Aufbau vollkommen identisch. Es galt also „Einer für alle“ – vor dem 1. Weltkrieg war die Verwendung gleich gestalteter Karosserien bei unterschiedlicher Motorisierung nämlich eher die Regel statt die Ausnahme.

Nur ein technisches Detail erinnert an der Heckpartie daran, dass der in London beheimatete Metallurgique ein wesentlich leistungsfähigeres Modell gewesen sei muss:

Vergleichen Sie einmal den Durchmesser dieser Bremstrommel mit dem am eingangs gezeigten Wagen – der Unterschied ist ziemlich groß!

Das bringt uns zur letzten Frage, ob sich denn die Motorisierung dieser sonst so gleichgekleideten Schwestermodelle ungefähr angeben lässt.

Ausgangspunkt ist dabei meine These, dass wir es in beiden Fällen mit Metallurgique-Wagen um 1911 zu tun haben – mit maximal einjähriger Abweichung nach oben und unten.

Dann kommen zwei Motorenklassen in Betracht – einmal die kleineren Monoblock-Aggregate mit 12 bzw. 16 französischen Steuer-PS – und einmal die weit größeren Zweiblockmotoren der Kategorien 26 bzw. 40 CV.

Je ein Exemplar aus diesen beiden Leistungsklassen haben wir heute kennengelernt, das ist mein Fazit, welches bei so frühen Automobilen wie immer vorläufig ist.

Bei Van den Plas hatte man anno 1911 einen solchermaßen gestalteten Aufbau für alle diese Typen im Programm – daneben natürlich auch andere Varianten, die aber ebenfalls wieder weitgehend identisch ausgeführt wurden, unabhängig von der Stärke des Wagens.

An sich eine Selbstverständlichkeit zu jener Zeit. Ich meine aber, dass man selten einen so direkten Vergleich zwischen zwei Fahrzeugen mit so eindeutig unterschiedlicher Leistung anstellen kann – noch dazu mit identischer Farbgebung und spiegelbildlicher Perspektive.

Die alten Hasen und die Experten unter den Vorkriegsauto-Enthusiasten wissen das zwar alles schon.

Aber ich muss mir die Dinge quasi einmal selbst erklären – außerdem soll mein Blog eher die ansprechen, die vielleicht erst damit begonnen haben, sich diese geheimnisvoll anmutende Wunderwelt zu erschließen.

„Einer für alle“, das ist letztlich auch das Motto meines Blogs im Sinne einer eher populären und lässigen Aufarbeitung des Themas, auch wenn die Spezialisten sicher das eine oder andere Mal die Stirn runzeln oder heftig den Kopf schütteln.

Aber bitte, meine Damen und Herren: Auch für die mir stets willkommenen Kommentare gilt: „Einer für alle (Leser)“! Diesen Spleen sollte man nicht für sich reservieren, sondern ihn großherzig mit allen teilen, die sich gerne davon anstecken lassen…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Verkannte Größe: Wanderer W6 6/18 PS Tourer

Heute bietet sich in meinem Blog eine ganz ähnliche Konstellation wie am Vortag – ein auf den ersten Blick unscheinbar wirkender Wagen kommt bei näherer Betrachtung groß heraus.

Allerdings ist die Sache relativ zu sehen – denn diesmal geht es nicht um ein schweres Achtzylinder-Automobil, sondern um ein Vierzylinder-Gefährt vom anderen Ende der Leistungsskala.

Die Art der Annäherung ist indessen erst einmal dieselbe:

Wanderer W6 6/18 PS; Originalfoto aus Familienbesitz

Die Besitzerin dieser Aufnahme – der ich ein weiteres sehr schönes Dokument verdanke, welches demnächst folgt – wusste hierzu mitzuteilen, dass das Foto 1925 vor einer Villa im sächsischen Borna entstand.

Das Haus im klassischen Stil des 19. Jh. existiert leider nicht mehr; immerhin können wir aber noch einige Details studieren, die bei vielen überlebenden Bauten jener Zeit dem Modernisierungswahn der Nachkriegszeit zum Opfer gefallen sind.

Im vorliegenden Fall darf ich auf die bemalten Blechblenden aufmerksam machen, welche den oberen Fensterabschluss schmückten und die Strenge des sonst rein klassizistischen Baus abmildern:

Wanderer W6 6/18 PS; Originalfoto aus Familienbesitz

Solche dekorativen Elemente wurden auch in meiner Heimatstadt Bad Nauheim, die fast völlig von Bombardierungen im 2. Weltkrieg verschont geblieben war, später zusammen mit prachtvollen Balkongittern und Zäunen sowie massiven Eingangstüren haufenweise demontiert und fortgeworfen.

„Ersetzt“ wurden sie – wenn überhaupt – durch primitiv anmutende und materialmäßig minderwertige Teile. Motiv war eine Mischung aus Fortschrittsbesoffenheit, Bildungsmangel sowie Hass auf das Großbürgerliche, Elegante und Repräsentative der Vergangenheit.

Diese Zerstörungen durch sich für modern haltende Zeitgenossen mit zuviel Geld und keinem Geschmack gehen bis heute weiter.

Vor einigen Jahren wurde ich Zeuge, wie in einer sonst gut erhaltenen Villa die historischen Flügeltüren und Holzvertäfelungen des späten 19. Jahrhunderts im Bauschuttcontainer landeten. Als ich diese vor der Vernichtung bewahren wollte, wurde mir mit der Polizei gedroht.

In ihrer extremen Ausprägung scheint dieses Wüten gegen die Werke der Vorfahren eine neudeutsche Krankheit zu sein.

Ich vermute als Ursache die Erkenntnis der deutschen Nachkriegsgeneration, dass sie nicht mehr imstande ist, etwas Hochwertiges und Dauerhaftes außerhalb des zuvor im Krieg optimierten technischen Sektors zu schaffen – dort ist der Dampf inzwischen ja auch ‚raus…

Zurück zu dem eben noch kompakt anmutenden Wagen vor der Villa in Borna, der im Folgenden groß herauskommt:

Wanderer W6 6/18 PS; Originalfoto aus Familienbesitz

Der Vorkriegskenner wird das Auto anhand der Kühlerplakette sofort als Fabrikat der sächsischen „Wanderer“-Werke identifizieren können.

Das Fehlen von Vorderradbremsen und jedweden Glanzteilen sowie die Rechtslenkung sind dabei typisch für die frühen 1920er Jahre.

In dieser Zeit kommen nur zwei Wanderer-Modelle in Frage. Das eine ist der Typ W8 5/15 PS, welcher 1921 als Weiterentwicklung des legendären „Puppchens“ (W3 5/15 PS) auf den Markt kam.

Er ähnelte anfänglich noch sehr dem Vorgänger, wurde aber 1923 modernisiert, sodass seine Frontpartie stark derjenigen des Wagens auf dem Foto aus Borna ähnelte:

Wanderer W8 5/15 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Die Gestaltung der Vorderkotflügel und des Kühlers stimmt fast vollständig überein. Allerdings fällt bei näherer Betrachtung auf, dass die Motorhaube deutlich kürzer ist.

Hinzu kommt, dass beim Wanderer W3 5/15 PS offensichtlich der Radstand nicht dafür ausgereicht hätte, die Ersatzräder mittig anzubringen und dennoch ausreichend Platz für einen hinteren Einstieg zu lassen, wie er auf dem ersten Foto zu erkennen ist.

Tatsächlich gab es beim Wanderer W3 5/15 PS auch nie eine hintere Tür auf der rechten Seite – weder beim hier zu sehenden Dreisitzer, noch beim erst 1924 eingeführten Viersitzer.

Somit verbleibt als einziger Kandidat das bereits 1920 auf den Markt gebrachte, etwas größere und stärkere Schwestermodell W6 6/18 PS. Dessen Antrieb entsprach der Konstruktion nach dem des W3 5/15 PS, nur der Hubraum war größer (1,6 statt 1,3 Liter).

Eine wesentliche Neuerung stellte jedoch die Cantilever-Federung der Hinterachse dar, welche der Fahrtstabilität bei flotter Fahrweise zugutekommen sollte.

Die angegebene Höchstgeschwindigkeit von 80 km/h ist bei solcher Auslegung in der Leistungsklasse realistisch. Schneller war man 10 Jahre später im Kleinwagensegment übrigens auch nicht.

Dennoch scheint es am deutschen Markt kurz nach dem 1. Weltkrieg kaum Nachfrage nach dem Wanderer W6 6/18 PS gegeben zu haben. Laut Literatur war zudem das Werk nicht in der Lage, eine betriebswirtschaftlich sinnvolle größere Produktion dieses Modells neben dem Basismodell W3 5/15 PS zustandezubringen.

So entstanden keine 200 Exemplare des Wanderer W6 6/18 PS – eines davon haben Sie heute kennengelernt (ein zweites finden Sie in meinem Blog hier).

Einmal mehr gilt: Auch kleine Details verdienen in der Welt der Vorkriegsautos unsere Aufmerksamkeit und lassen manche verkannte Schöpfung nach 100 Jahren noch groß herauskommen…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

2 von 280: Stoewer Typ M12 „Marschall“

„Mer muss och jünne künne“ sagt der Kölner Volksmund. Als Angehöriger der Übersetzer-Profession und Hochdeutsch-Experte kann ich Ihnen versichern, dass sich dahinter nichts Fragwürdiges verbirgt wie hinter manch anderer Kölscher Weisheit.

Vielmehr wird hier im Dialekt der alten Colonia am Rhein etwas gesagt, was hierzulande eher selten ist und was ich entschieden vertrete: „Man sollte seinen Mitmenschen neidlos gönnen, was ihnen Gutes widerfährt oder was sie besitzen“.

Mich freut es, wenn jemand eines der berüchtigten „leistungslosen“ Einkommen bezieht – etwa weil er im Lotto gewonnen, unverhofft ein Vermögen geerbt oder mit seinen Aktienanlagen unverschämtes Glück gehabt hat.

Mir ist noch keiner begegnet, der solche „windfall profits“ – wie der Engländer sagt – empört ausschlagen und dem gefräßigen Staat abtreten würde. Umgekehrt ist es für mich ein Gebot der Fairness und eine Stilfrage, großzügig mit dem Glück zu verfahren, das einem selbst widerfährt, und andere daran teilhaben zu lassen.

Wenn Sie in meinem Blog mitlesen, dessen Erstellung mich einen vierstelligen Betrag pro Jahr kostet (inkl. Fotokäufen, aber ohne Arbeitszeit), dann weil es mir Vergnügen bereitet, diesen Spleen mit anderen teilen zu können und weil es der in unseren Tagen naheliegenden Verbiesterung entgegenwirkt, sich mit schönen Dingen zu beschäftigen.

So kommen Sie heute wieder einmal in den Genuss, etwas ziemlich Exklusives vorgeführt zu bekommen – und ich profitiere dabei einmal wieder von der Großzügigkeit anderer, die ihre Schätze ebenfalls mit uns Verrückten teilen.

Na, was sagen Sie hierzu?

Stoewer M12 „Marschall“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ähm, ja. Ein typischer Backsteinbau des 19. Jh., prinzipiell unkaputtbar (solange die Royal Air Force danebenlag) und selbst bei Funktionsgebäuden von einer gestalterischen Qualität, die sich mit über Jahrhunderten gewachsenen historischen Stadtbildern verträgt.

Irgendein öffentlicher Bau dürfte das gewesen sein, eine Schule, ein Amt, eventuell auch ein Hospital. Budget- oder Bauzeitüberschreitungen waren dabei seinerzeit die Ausnahme.

Von mir aus könnte man sich heute noch an einem der Baustile orientieren, die es in den letzten 2.500 Jahren in Europa gab; nach 100 Jahren Bauhaus ist das immergleiche Betonkartonschema doch auch von gestern – warum keine Neuauflage des Jugendstils?

Egal, wir haben heute etwas anderes im Blick, nämlich das auf den ersten Blick unscheinbar wirkende Cabriolet auf obigem Foto. Der Wagen wirkt aufgrund der großzügigen Proportionen des Baus im Hintergrund unverdient kompakt.

Wir nähern uns dem Auto mit den waagerechten Luftschlitzen in der Motorhaube und haben bereits den Verdacht, dass es sich um eines der Achtzylindermodelle von Stoewer aus Stettin handeln könnten, denn die Kühlerfigur scheint ein Greif zu sein:

Verflixt, das kann doch nicht sein, dass solch ein großer Wagen hier so harmlos wirkt. Vielleicht war der Bau im Hintergrund doch eher eine Fabrik mit extrahohen Fenstern, um ganzjährig viel Licht hineinzulassen. Leider fehlt hier der menschliche Maßstab.

Dennoch haben wir allen Grund elektrisiert zu sein. Das ist einer der legendären Stoewer-Achtzylinder, wie er Ende der 1920er Jahre gebaut wurde.

Die unter chronischer Kapitalknappheit leidender Manufaktur hatte sich ab 1928 binnen kürzester Zeit in eine Kunst eingearbeitet, in der Marktführer Horch ab Mitte der 1920er Jahre Millionen versenkt hatte. Mercedes verschlief den Trend unterdessen erst einmal.

Hier haben wir beispielsweise ein Exemplar des 80 PS starken Stoewer Achtzylindertyp G15, von dem 1928/29 rund 650 Stück entstanden.

Stoewer G15; Originalfoto aus Sammlung eines Lesers

Man erkennt die Ähnlichkeit der Kühlerpartie und auch die horizontalen Haubenschlitze, ebenso den Greif als Kühlerfigur.

Aber die Scheinwerferstange ist hier waagerecht ausgeführt, bei dem eingangs gezeigten Wagen ist sie nach oben gebogen. Außerdem reichten die Luftschlitze in der Motorhaube dort weiter nach oben.

Was ist davon zu halten? Nun, einfach dass wir heute unverschämtes Glück haben, denn offenbar ist uns einer der nur 280mal gebauten Stoewer-Achtzylinder des Typs M12 „Marschall“ ins Netz gegangen, den es nur 1930 gab.

Dieser 60 PS-Wagen wurde neben einem 100 PS leistenden und längeren Schwestermodell angeboten, von dem bloß rund 25 Stück entstanden. Da wir es mit einem zweitürigen Cabriolet zu tun haben, plädiere ich im vorliegenden Fall für die schwächere Version.

Ja, ist ja schön und gut, aber irgendwie wirkt das Auto immer noch nicht ganz so großartig, wie es die Bezeichnung „Marschall“ erwarten lässt. Keine Sorge, Ihnen wird gleich geholfen.

Denn nicht nur ich, auch einige geschätzte Sammerkollegen, deren Funde ich hier immer wieder präsentieren darf, hängen dem Grundsatz nach: „Man muss auch gönnen können“.

Diesmal ist es so gemeint, dass man nicht ängstlich auf seinen Schätzen hocken sollte, auch wenn man sie redlich und gegen wohlverdienten Zaster erworben hat. Das Leben ist kurz, und früher oder später landet aller Besitz bei lachenden Dritten oder auf dem Müll.

Also raus aus den Archiven mit den Zeugen von einst, so lange diese noch Bewunderung, Staunen oder Leidenschaft wecken. Das ist meine Philosophie, um den überstrapazierten Begriff zu bemühen, und ich bin offenbar nicht allein damit:

Stoewer M12 „Marschall“ Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

So sah er also aus – ohne Gründerzeit-Riesenbau im Hintergrund und in sommerlich freundlicher Farbgebung – der Stoewer M12 „Marschall“ als grandioses zweitüriges Cabriolet, hier mit Zulassung Berlin statt Bochum wie oben.

2 von 280 Stoewer dieses Typs kennen Sie jetzt schon, keine schlechte Quote würde ich sagen. Das lässt sich aber noch verbessern. Denn so wie Leser Klaas Dierks uns hier Einblick in sein Archiv gibt, können das auch andere tun.

„Man muss auch gönnen können“, ein gutes Motto und Rezept gegen Missgunst, nicht nur wenn es um Fotos von Vorkriegsautos geht…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Seiner Linie treu: MAF Zweisitzer 1908-1914

Nach (zu) langer Pause ist heute wieder einmal die Marke MAF aus Markranstädt bei Leipzig an der Reihe.

Sie entstand nach dem Ausscheiden von Hugo Ruppe aus dem väterlichen Betrieb Ruppe & Sohn in Apolda, wo er das Modell „Piccolo“ mit luftgekühltem Motor konstruiert hatte und wo später die bekannten „Apollo“-Wagen nach Entwurf von Karl Slevogt entstanden.

Hugo Ruppe blieb seiner Linie treu und entwarf 1908 für seine neue Automobilfabrik eine Reihe von Kleinwagen mit luftgekühlten Vierzylindermotoren, hauptsächlich in der Hubraumklasse zwischen 1,2 und 1,8 Litern.

Auf die Vielfalt der Motorisierungen, die laufende Leistungssteigungen bei ähnlicher Grundkonstruktion widerspiegelt, will ich mich nicht einlassen. Man sah einem MAF wohl kaum an, was genau sich unter seiner Motorhaube und hinter der Kühlerattrappe verbarg.

Mich interessiert bei diesen frühen MAF-Wagen vor dem 1. Weltkrieg (die Marke existierte bis 1921, als sie von Apollo übernommen wurde) etwas ganz anderes.

Hugo Ruppe blieb nämlich zumindest bei der Zweisitzerversion seiner Automobile auch äußerlich seiner Linie erstaunlich treu, wenngleich das Erscheinungsbild der allgemeinen Tendenz am deutschen Markt folgend behutsam modernisiert wurde.

Dies lässt sich sehr schön anhand der Fotos dokumentieren, die ich nachfolgend zusammengestellt habe. Den Anfang macht dieser ganz frühe Zweisitzer:

MAF Zweisitzer von 1908/09; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Dieses Fahrzeug habe ich schon einmal ausführlich besprochen, es handelt sich sehr wahrscheinlich um eines der von Hugo Ruppe neu konstruierten Modelle aus dem ersten Jahr 1908, spätestens aber 1909.

Die Grundform dieses Zweisitzers sollte in den folgenden Jahren bis 1914 im wesentlichen die gleiche bleiben.

Wir halten fest: nach hinten ansteigender Karosseriekörper, vor der Hinterachse endender Innenraum, schwingenartige Vorderkotflügel und damit korrespondierender Aufschwung des Hinterkotflügels, entsprechend kurzes Trittbrett, insgesamt sehr reduzierter Aufbau.

Dieses sportliche Erscheinungsbild findet man ab 1910 wieder, auch wenn nun die damals obligatorisch werdende „Windkappe“ zu sehen ist, welche die Luft ab der Motorhaube nach oben lenkt:

MAF Zweisitzer von 1910; Originalfoto: Sammlung Stefan Rothe (Berlin)

Denkt man sich den noch wie aufgesetzt wirkenden „Windlauf“ weg, hat man es praktisch mit derselben Konstruktion zu tun, nur dass man jetzt auch die damals runde MAF-Kühlerattrappe erkennen kann.

Dieses Foto veranschaulicht wieder einmal die gestalterische Zäsur, welche mit der Übernahme des Windlaufs aus dem Sport (dort ab 1907/08 gebräuchlich) bei Automobilen aus dem deutschen Sprachraum einherging.

Im nächsten Schritt wurde der Windlauf harmonisch an die Haube angepasst – damit war ein großer Schritt weg von der Kutsche mit davorgesetztem Motor hin zum Auto mit eigenständig gestalteter Frontpartie getan.

Mit einem Mal erkennt man etwas, was bis heute prinzipiell unverändert geblieben ist. Schauen Sie einfach einmal bei Ihrem Wagen nach, auch er sollte vor der Frontscheibe noch einen Windlauf haben, wenngleich viel kürzer als hier:

MAF Zweisitzer um 1912; Originalfoto: Sammlung Klaas Dierks

Erstaunlich, was die überarbeitete Frontpartie ausmacht, nicht wahr? Aber davon abgesehen ist auch dieser MAF-Zweisitzer von ca. 1912 ganz seiner Linie treu geblieben.

Aufmerksame Betrachter werden dennoch einige weitere Nuancen bemerken:

Die Kotflügel sind zwar nach wie vor so elegant geschwungen wie zuvor, doch der vordere schließt jetzt direkt ans das Trittbrett an. Zudem ist der Aufbau jetzt aus einem Guss geformt und die zuvor gerundete Motorhaube ist stärker konturiert.

Der sportlich-leichte Stil als solcher ist aber erhalten geblieben, wenngleich der Rahmen hinten nun etwas massiver ausgeführt zu sein scheint – das mag der gestiegenen Leistung geschuldet sein.

Übrigens ließ sich so ein MAF-Zweisitzer durchaus flott bewegen – je nach Motor waren 70m/h Spitze erreichbar – das machen Sie einmal mit so einem filigranen Auto und dieser hohen Sitzposition, das dürfte Ihnen halsbrecherisch vorkommen!

Der Motorenklang dürfte sein übriges dazu getan haben, dass man sich in solch einem MAF beinahe wie ein Rennfahrer vorkam. Möglicherweise war es die Geräuschentwicklung, welche der adretten Dame im nachfolgend abgebildeten Zweisitzer MISSfiel:

MAF-Zweisitzer von 1913/14; Originalfoto: Sammlung Michael Schlenger

Man meint zu wissen, was die junge Dame mit der feschen Lederkappe gerade dachte: „Eine gute Partie ist er schon, mein August, und liebt mich von Herzen, was will man mehr. Dass er meine Mitgift in ein Automobil investiert hat, war auch ausgemacht – er braucht den Wagen ja als Landarzt. Aber musste es denn so ein lärmiger MAF sein? Ich hätte ihm ja zum Opel-Doktorwagen geraten, aber so sind die Männer…“

Nun, unser Mitleid hält sich mit der Dame aus gutem Hause in Grenzen, denn als Automobilistin gehörte sie auf jeden Fall zu den oberen Zehntausend im Deutschen Reich.

1913 oder 1914 dürfte dieses schöne Dokument entstanden sein, und es ist damit das letzte in der heutigen Reihe.

Erkennen Sie in dieser letzten Variante noch den MAF-Zweisitzer von 1908/09 wieder? Ich meine schon, dass es sich im Kern um dieselbe Konstruktion handelt. Bloß die andersartige Kühlerattrappe irritiert auf den ersten Blick.

Mir scheint es eine Version zu sein, die sich an den kurz vor dem 1. Weltkrieg aufkommenden Spitz- oder Schnabelkühlern orientierte. Ob dies eine von MAF selbst angebotene Variante oder ein Teil aus dem damals bereits blühenden Zubehörhandel war, sei dahingestellt.

Eine Modifikation dürfte auch das am Heck angebrachte Gepäckabteil darstellen. Eine genaue Entsprechung habe ich zwar noch nicht gefunden, dennoch bin ich sicher, dass wir es auch hier mit einem der leichten MAF-Zweisitzer zu tun haben, die etliche Jahre ihrer Linie treu blieben und damit offenbar Erfolg beim Kunden hatten.

Auch ich will im Neuen Jahr meiner Linie im Blog treu bleiben, und bisweilen solche rein formalen Betrachtungen anstellen, wenn es das Material hergibt – gern garniert mit einigen erdachten „Originalzitaten“, sofern mich die Situation dazu inspiriert.

Und wie immer freue ich mich über sachkundige, auch kritische Kommentare, gern gewürzt mit etwas Witz und die eine oder andere Abschweifung enthaltend. Wenn auch sonst alles in Bewegung kommt, wollen wir hier doch unserer Linie treu bleiben…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Geheimnis gelüftet!? Ein Opel 21/50 PS Tourenwagen

Wer sich mit Automobilen der Vorkriegszeit beschäftigt – speziell solchen, die heute praktisch ausgestorben sind – muss mitunter einen langen Atem haben, bis sich eine Vermutung bestätigt oder auch nicht.

Heute kann ich solch‘ einen Fall präsentieren. So stellte ich vor bald sieben Jahren hier den folgenden Opel vor, welcher 1921 bei Reutter in Stuttgart eine Landaulet-Karosserie erhielt:

Opel 21/50 PS Landaulet (Karosserie Reutter); Originalabzug: Sammlung Michael Schlenger

Ich hatte den Wagen seinerseit als Exemplar des ab 1919 gebauten großen Sechszylindertyps 21/55 PS (später 21/50 PS) identifiziert, das war aber nur eine auf Indizien basierende Einschätzung.

Es gibt kaum Bilder dieses großen Opel-Modells (und des noch eindrucksvolleren Schwestertyps 30/75 PS), das bis 1924 im Programm blieb, aber nur in geringen Stückzahlen gebaut wurde.

Klar war, dass das Fahrzeug zu lang war, um den weit häufiger anzutreffenden Vierzylindertyp 8/25 PS zu repräsentieren. Das Fehlen von Vorderradbremsen und der ausgeprägte Spitzkühler ließen letzlich nur die beiden Sechszylinder in Frage kommen.

Auch die sechs Radbolzen und die zwölf Radspeichen sprachen für ein besonders leistungsfähiges Opel-Modell. Die weit schwächeren Vierzylindertypen (Ausnahme: 14/38 PS) besaßen nach meiner Wahrnehmung stets vier Radbolzen und zehn Radspeichen.

Was mir der damaligen Betrachtung verborgen bleiben musste, war ein weiteres Detail, das eine entscheidende Rolle bei der Identifikation spielt, aber quasi „under cover“ blieb. Das ist sogar im Wortsinn der Fall – Sie sehen das am Ende, wenn ich das Geheimnis lüfte.

Ermöglicht hat mir meine heutige Enthüllungsgeschichte Leser Matthias Schmidt aus Dresden, der mir kürzlich diese Aufnahme aus seinem Fotofundus digital übermittelte:

Opel 21/50 PS; Originalfoto: Sammlung Matthias Schmidt (Dresden)

Für die Freunde von Opel-Veteranen zählen die schnittigen Spitzkühlermodelle vor Mitte der 1920er Jahre ganz klar zu den Favoriten.

Diese Wagen sahen nicht nur sportlich aus, sie waren auch gemessen an den gängigen Mittelklasseautos von Brennabor, NAG, Presto und Protos überdurchschnittlich motorisiert. Nur Stoewer spielte mit dem Typ D6 19/55 PS Anfang der 20er Jahre in derselben Liga.

Mit diesen souveränen Sechszylinderwagen ließen sich bei guten Straßenverhältnissen durchaus über 100 km/h erreichen. Zeitgenössische Reiseberichte verraten, dass man davon auch schon einmal Gebrauch machte, wenngleich die eigentliche Stärke in der Laufkultur und der enormen Elastizität der großvolumigen Aggregate lag.

Unterstrichen wurde die sportliche Note im Fall des Opel 21/50 PS durch die schrägstehende und mittig gepfeilte Windschutzscheibe:

Die serienmäßige Ausstattung mit zwei Ersatzrädern findet man indessen durchweg auch bei den damaligen Vierzylinder-Opels des Typs 8/25 PS – sie spiegelten damalige Erfahrungswerte schon bei normalem Alltagseinsatz ohne Fernreisen wider.

Sicher ist Ihnen die dünne Stoßstange aufgefallen, die etwas unterdimensioniert wirkt. Sie war ein Nachrüstteil und repräsentiert eine noch ganz frühe Erscheinungsform dieses erst später unter dem Einfluss der US-Konkurrenz auch dekorativ gestalteten Bauteils.

Eine letzte Sache fällt (mir) hier noch auf: die trotz zwölf Radspeichen überraschenderweise nur fünf Radbolzen; ich hätte wie beim eingangs gezeigten Opel 21/50 PS sechs erwartet.

Was ist davon zu halten? Sollte es sich doch um eines der schwächeren Vierzylindermodelle – vor allem den verbreiteten Typ 8/25 PS- handeln? Dagegen spricht ganz klar ein weiteres Detail, das sich nun in aller Deutlichkeit darbietet.

So hat bei diesem Wagen nämlich die Blattfeder der Hinterachse ihr bisheriges „under cover“-Dasein aufgegeben und erweist sich als sogenannte Cantilever-Ausführung, die es wohl nur bei den beiden Opel-Sechsylindertypen gab:

Bei einer solchen Cantilever-Ausführung ist die Hinterachse am hinteren Ende des halbelliptischen Blattfederpakets schwingend aufgehängt.

Man findet diese spezielle Variante meist nur bei Wagen mit einer gewissen sportlichen Charakteristik, weshalb manche Besitzer bei der Karosseriegestaltung Wert darauf legten, dass man die Federn sah (analog zu den rot lackierten Bremssätteln unserer Tage).

Laut Literatur (Werner Oswald: Deutsche Autos 1920-1945, Motorbuch-Verlag, Neuauflage 2019) besaßen die Opel-Typen 21/50 PS und 30/75 PS seinerzeit eine solche besondere Hinterradfederung, bei anderen Modellen wird sie zumindest nicht erwähnt.

Daraus ziehe ich folgenden Schluss: Auch der Opel-Tourer auf dem Foto von Matthias-Schmidt war ein Sechszylindertyp, und zwar einer der Kategorie 21/50 PS. Das Landaulet mit sechs statt fünf Radbolzen könnte dann sogar ein 30/75 PS-Modell gewesen sein, dessen Besitzer nicht mit den frei sichtbaren Cantilever-Federn angeben wollte.

Damit könnte man das Geheimnis dieses Wagens als gelüftet betrachten, wäre nicht trotzdem ein Rest an Vorsicht geboten, solange es nicht mehr Evidenz in dieser Richtung gibt. Aber wie gesagt: Wir Vorkriegsautofreunde haben von Haus aus Geduld…

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Das fängt ja gut an: Ein Renault Landaulet um 1912

Dass das Jahr 2023 gut angefangen hat – und bei allen Höhen und Tiefen des Daseins ein ebensolches Ende nehmen wird, wünsche ich allen Lesern!

Für einen guten Anfang kann ich heute zumindest in meinem Blog sorgen. Denn wir steigen gleich auf hohem Niveau ein und betreiben Automobil-Archäologie an einem besonders lohnenden Exemplar.

Dabei kann auch der gerade erst zu uns gestoßene Hobbyforscher seinen Scharfsinn beweisen, denn den Veteranen unserer Profession hilft das über Jahre angesammelte Wissen in Sachen altem Blech beim heutigen Fundgegenstand wenig.

Das hat mit der Marke zu tun, um die es geht: Renault. Französische Hersteller schlugen ohnehin in vielen Fällen andere Wege ein als die Konkurrenten auf der anderen Rheinseite, doch Renault fiel in dieser Hinsicht besonders aus dem Rahmen.

Ein erstes Mal herausgearbeitet habe ich die Schwierigkeiten einer genauen zeitlichen Einordnung seinerzeit hier bei der Besprechung dieses prachtvollen Coupés:

Renault Coupé von ca. 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Nicht nur hielt man bei Renault an der Position des Kühlers hinter dem Motor bis in die 1920er Jahre fest; man schien auch sonst nicht am allgemeinen Trend in der Automobilgestaltung interessiert zu sein.

Während es bei Fabrikaten aus dem deutschsprachigen Raum bestimmte Karosseriedetails gibt, die zu einem bestimmten Zeitpunkt bei fast allen Herstellern auftauchen und ebenso abrupt wieder verschwinden, findet man bei frühen Renaults ein schwer zu entwirrendes Nebeneinander archaischer und moderner Elemente.

Viel hing vom Geschmack des Käufers und vom Stil des Karosserielieferanten ab, wobei weniger nach der Mode geschielt, denn auf ein eigenständiges Ergebnis abgezielt wurde.

Das hat die reizvolle Folge, dass – noch weniger als bei anderen Fabrikaten – kaum ein Renault aus der Zeit vor 1920 dem anderen glich. Daher muss man lernen, den Blick auf die Elemente zu konzentrieren, die wirklich typisch waren.

Der erste Schritt besteht darin, radikal alles zu ignorieren, was sich hinter der Windschutzscheibe, zumindest aber hinter dem Fahrerabteil abspielte. Wir setzen dazu kühn das Messer an und können nun ungestört die Frontpartie sezieren:

Wenn das Auge noch etwas verwirrt von der – für mich faszinierenden – Andersartigkeit der Linienführung ist, hilft zunächst der Fokus auf die Haubenpartie.

Die Motorhaube liegt vorn plan auf dem Rahmen auf und besitzt dort einen kleinen Griff zum Anheben nach hinten – wie bei heutigen Autos und ganz anders als damals üblich.

Nach hinten steigt die Haube zunächst steil und dann flach an, was ihr die Form einer umgekehrten Kohleschaufel gibt. Sie weist an den Kanten ein komplexes Profil an, die Herstellung darf man sich einigermaßen anspruchsvoll vorstellen.

Am hinteren Ende ist sie waagerecht mit einem Scharnier am Kühlergehäuse befestigt, dessen Oberteil schön nach oben geschwungen ist, dort füllte man das Wasser auf. Die Kühlerfläche ging über die ganze Breite und schaut beiderseitig der Haube hervor.

Das gewölbte Lochblech an der äußeren Kühlerkante scheint erst ab 1910 aufzutauchen, vorher war diese Partie rechtwinklig ausgeführt.

Ein Wort zu den Kotflügeln. Diese sind hier zweiteilig ausgeführt; an die das Rad umschließende Partie ist ein Blech angesetzt, das die Frontpartie vor Verschmutzung schützte. Dieser Innenkotflügel bestand anfänglich oft aus Leder, später verschmolz er mit dem Oberteil zu einem harmonischen Ganzen aus Blech.

Einprägen sollte man sich zuletzt noch die gebogenen Halter der beiden Scheinwerfer, die einfach von oben auf diese aufgesteckt wurden.

Haben Sie sich das alles gut gemerkt? Oje, das fängt ja gut an mit der Schulmeisterei, mögen Sie vielleicht denken, aber glauben Sie mir: Das alles muss man parat haben, wenn man ein echter Veteranenkenner sein oder werden will.

Bereit zum Test des Erlernten? Dann kann es ja losgehen, und ich bin sicher, diese Prüfung wird das reine Vergnügen!

Renault Coupé von ca. 1912; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Habe ich zuviel versprochen? Das fängt doch gut an, unser bunter Bilderreigen in Schwarz-Weiß im Neuen Jahr!

In dieser Aufnahme ist alles drin, was sich der Liebhaber des wirklich alten Blechs wünscht: Ein prachtvolles Automobil, technisch perfekt wiedergegeben, echte Persönlichkeiten, die auch nach über 100 Jahren lebendig auf uns wirken, und ein aufmerksamer Vierbeiner.

Ja, alles wunderbar, denken sie jetzt vielleicht, aber der Wagen sieht irgendwie verwirrend aus, ganz anders als der zuvor gezeigte, nicht wahr?

Bevor die Prüfungsangst sich durchsetzen kann, atmen wir durch und erinnern uns an Veteranenauto-Regel Nr. 1: Sich nicht ablenkenlassen und den Blick ganz auf den Vorderwagen konzentrieren:

Am besten, man fängt wieder von vorne an: Die Scheinwerfer sind nicht montiert, dafür sieht man jetzt die gabelfömigen Halter besser und kann sich vorstellen, wie die Montage funktionierte.

Fuhr man nur bei Tag, ließ man die empfindlichen und teuren Bauteile gern zuhause, eine Alternative waren Überzüge aus Segeltuch, auch das sieht man bisweilen.

Von der Motorhaube sieht man nicht viel, aber genug, um sie als einem Renault zugehörig zu erkennen. Auch die Kühlerpartie entspricht ganz derjenigen des eingangs gezeigten Wagens und ist hier sogar noch besser zu studieren.

Man sieht die Konstruktion aus vernieteten und verlöteten Elementen, auch das oben erwähnte gewölbte Lochblech entlang der Kühlerkante findet sich wieder.

Wer bisher alles wiedererkannt hat, hat bestanden und könnte diesen Wagen ebenfalls als Renault aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg einordnen. Es geht auf diesem Foto aber noch weiter:

Zwar sitzt der Fahrer hier nicht mehr im Freien wie im Fall des edlen Coupés ganz oben, aber sein Arbeitsplatz hat sich ansonsten nicht geändert.

Zu seiner Rechten in Griffweite befindet sich vorn die Handbremse – hier in gelöster Position (oben: angezogen), übrigens mit vollkommen identischem Griff. Dahinter befindet sich vertikal stehend der Hebel für die Gangschaltung.

Zum Schluss folgt der Ballen der Hupe. Hier ist ein anderes Exemplar verbaut – es gab unzählige Varianten davon. Nennenswert ist noch die lederne Abdeckung der Einstiegsöffnung, die sich auf der ersten Aufnahme nicht findet – sie ließ sich bei Bedarf einfach abknöpfen.

Wenn Sie sich nach dem Sinn der beiden Halter am Trittbrett bzw. neben dem Kühler fragen, dann finden Sie die Antwort auf dem Dach liegend in Form eines Ersatzreifens bzw. -schlauchs. Der aufmerksame Betrachter wird dort noch bemerken, dass das vordere Ende der Dachreling in einem klassischen Mäander ausläuft, sehr hübsch.

War doch gar nicht so schlimm, dieser kleine Test zum Jahresauftakt, oder? Die Frage, wann genau dieser Renault gebaut wurde, erspare ich Ihnen, ich kenne die Antwort selbst nicht.

Während sich der eingangs gezeigte Renault auf wahrscheinlich 1912 datieren ließ, fehlen hier einige kleine Details, die eine engere Einordnung erlauben.

So ist hier leider das Datum der Postkarte nicht entzifferbar, auf der dieses Foto einst von Frankreich nach München gesandt hatte. Zudem ist die Schwellerpartie hier noch unverkleidet, was bei Renault erst ab 1912 der Fall gewesen zu sein scheint.

So bleibt aus meiner Sicht als Lösung nur: ca. 1910-14. Wer das unbefriedrigend findet, kann sich selbst an dem Fall versuchen oder es sein lassen und sich durch die menschliche Komponente auf diesem Foto kompensieren:

So fremdartig dieser Wagen mit seinem Landaulet-Aufbau – also mit nur über den Passagieren zu öffnendem Dach – auf uns Menschen des 21. Jh. wirkt, so nahe ist uns dieser freundliche junge Mann, der in diesem Moment ganz mit sich im Reinen war.

Er hatte nicht nur seinen kleinen vierbeinigen Freund auf dem Arm, er war auch von Kopf bis Fuß für die anstehende Ausfahrt gewappnet. Das kann man von seinem Gegenüber nicht ganz behaupten, der daher auch ein wenig kariert dreinschaut.

Haben Sie bemerkt, warum? Er trägt zwar ebenfalls Reisemantel und sportliche Mütze, aber er steht noch in Hausschuhen dar, als sei er zu spät zu dem Foto gekommen.

Das fängt ja gut an – da hat man seinen Silvester-Kater noch nicht ganz ausgeschlafen, schon rufen gesellschaftliche Pflichten und Bruderherz ist wie immer früher fertig als ich…“

Michael Schlenger, 2023. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.