Fund des Monats: Ein Faun Typ K2 6/24 PS von 1925

FAUN – das weckt sicher ganz unterschiedliche Assoziationen.

Die einen denken an den altrömischen Hirtengott Faunus (griechisch: Pan) oder das gleichnamige Mischwesen aus Mensch und Ziegenbock (griechisch: Satyr).

Wer weniger in antiker Mythologie, dafür aber im historischen deutschen Fahrzeugbau bewandert ist, wird sich eher an die Nutzfahrzeuge der Fahrzeugfabriken Ansbach und Nürnberg AG – kurz: FAUN – erinnern.

Bloß mit Personenwagen werden wohl die allerwenigsten diesen traditionsreichen Namen verknüpfen. Dabei hat es genau das einst gegeben – angeblich sind unter dem Markenamen Faun rund 1.500 PKW entstanden.

Solche runden Zahlen sind mir bei obskuren Vorkriegsmarken suspekt – meist dürften sie aus der Luft gegriffen sein oder es wird einfach weitererzählt, was irgendwann ein sogenannter Experte in die Welt gesetzt hat.

Die Evidenz für die ab 1921 gebauten Autos der Faun-Werke AG ist äußerst dürftig. Die mir zugängliche Literatur liefert ganze drei Fotos und zwei Prospektabbildungen.

Wie dünn die Überlieferung ist, erkennt man auch daran, dass nicht einmal Einigkeit dahingehend herrscht, wann die Produktion endete:

  • Nick Georganos „Complete Encyclopedia of Motorcars“ schlägt 1927 vor,
  • Werner Oswald plädiert in „Deutsche Autos 1920-45“ für 1928,
  • Hans-Heinrich von Fersen nennt in „Autos in Deutschland 1920-39“ in seinem Beitrag zu Faun-PKW gleich zwei Enddaten: 1927 und 1929

Dieser kuriose Befund ist typisch für die in weiten Teilen veraltete, unvollständige und widersprüchliche markenübergreifende Literatur zu deutschen Herstellern.

Da ich kein Automobilhistoriker mit Zugang zu besonderen Quellen oder Spezialisten bin, sondern mich bestenfalls als Amateurforscher verstehe, kann ich zwar nicht viel mehr bieten.

Doch immerhin kann ich mit dem folgenden Foto ein weiteres Puzzlestück zur Dokumentation der einstigen PKW-Produktion von Faun beitragen:

Faun_6-24_PS_1925_Galerie

Faun Typ K2 6/24 PS von 1925; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

So scharf und kontrastreich diese Aufnahme auch ist, lässt sie auf den ersten Blick kaum Spezifisches erkennen.

Der Flachkühler erinnert von der Form zwar an italienische Modelle um die Mitte der 1920er Jahre. Der Aufbau ist jedoch von einer formalen Schlichtheit geprägt, die vielen deutschen Wagen jener Zeit zueigen war – das gilt speziell für den hinteren Teil.

Bei näherem Hinsehen lassen sich dann aber doch einige Details erkennen, die diesem Tourenwagen einen Hauch von Sportlichkeit geben, der ihn von zeitgenössischen Konkurrenten wie dem Adler 6/25 PS abhebt:

Zu nennen wären folgende Eigenheiten:

  • die glattflächige Verkleidung zwischen den beiden vorderen Rahmenauslegern (ähnlich wie beim Presto Typ D 9/30 PS),
  • die schräggestellte, leicht v-förmige Frontscheibe,
  • die weit nach hinten ausschwingenden, nicht der Radform folgenden Vorderschutzbleche

Ein weiteres überraschendes Detail ist die seilzugbetätigte Klappe hinter dem Auspuffkrümmer – damit ließ sich außerhalb von Ortschaften ein kernigerer Auspuffklang gepaart mit mit etwas besserem Durchzug genießen.

Es überrascht ein wenig, so etwas an einem zunächst unauffällig daherkommenden Tourenwagen zu finden. Ich komme noch darauf zurück.

Zunächst noch einige Worte zur Identifikation des Autos als Produkt der Faun-Werke. Diese war nur möglich, da ich im Netz an anderer Stelle auf das Emblem der Marke gestoßen war, das mit dem auf meinem Foto identisch war:

Auf dem Originalabzug erkennt man auf dem Kühleremblem in der oberen Hälfte vier Buchstaben – wenn auch nicht leserlich. Wichtiger war das darunter befindliche grob dreieckige Element.

Dabei handelt es sich um den stilisierten Kopf eines Fauns – des eingangs erwähnten Fabelwesens. Ein Abgleich mit den ganz wenigen im Netz verfügbaren Fotos von Faun-PKWs lieferte dann die Bestätigung.

Doch um welchen Typ und welches Baujahr handelt es sich genau? Nun, hier half die Literatur in Verbindung mit einigen Prospektabbildungen:

Faun Typ K2 6/24 PS; Abbildung aus Faksimile-Prospekt (Archiv-Verlag) aus Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir einen Faun Tourenwagen des ab 1924 gebauten Typs K2 6/24 PS. Nebenbei: Der 1921 vorgestellte Vorgängertyp K1 6/22 PS wurde entweder gar nicht oder nur in sehr geringer Stückzahl gebaut. Auch im Netz ist er bislang nicht greifbar.

Zwar ist obiger Prospekt auf 1925 datiert, doch besitzt der darin abgebildete Wagen noch einen moderaten Spitzkühler. Der Faun auf meinem Foto verfügt jedoch über einen Flachkühler, wie er sich im deutschen Sprachraum allgemein 1925 durchsetzte.

Ich vermute daher, dass der Prospekt noch den Typ K2 6/24 PS mit dem Kühler des Vorjahresmodells zeigt. Denkbar ist auch, dass der Übergang zum Flachkühler im Lauf des Jahres 1925 erfolgte.

Nun mag einer fragen: Wieso sollte der Faun auf meinem Foto nicht erst 1926 oder noch später gebaut worden sein?

Sofern die eingangs erwähnte, grundsätzlich kritisch zu sehende Literatur in diesem Punkt richtig liegt, erhielt der Faun Typ K2 6/24 im Jahr 1926 serienmäßige Vorderradbremsen – diese fehlen aber bei dem Wagen auf meinem Foto.

Übrigens waren Vierradbremsen auf Wunsch schon 1925 erhältlich und das ist angesichts der sportlichen Charakteristik des Faun K2 6/24 PS auch naheliegend.

Wer an dieser Stelle stutzt, weiß vermutlich nicht, dass die Faun-Werke ihrem einzigen PKW im Fahrzeugprogramm einen ganz feinen Motor verpassten, der sich mit ein paar Anpassungen sich zu einem sehr agilen Triebwerk modifizieren ließ.

So unglaublich es auch klingt: Das nur 1,4 Liter messende Vierzylinderaggregat besaß eine obenliegende Nockenwelle zur besonders akkuraten und drehzahlunempfindlichen Steuerung von Ein- und Auslassventilen.

Damit nicht genug – den Antrieb der Nockenwellen besorgte eine Königswelle! Das war an sich Rennsporttechnik und man fragt sich, welcher Techniker sich hier selbstverwirklicht hatte.

Vermutlich dachte man sich auch an der Unternehmensspitze, dass Faun ruhig zeigen kann, wozu man imstande war, da die Nischenproduktion eines solchen PKW von vornherein ein Verlustgeschäft werden musste.

Im Lauf des Jahres 1926 legte Faun nach und stellte den Nachfolgertyp K3 6/30 PS mit auf 1,6 Liter vergrößertem Motor vor:

Faun Typ K3 6/30 PS; Abbildung aus „Die Motorfahrzeuge“ von Paul Wolfram (1928), Originalausgabe aus Sammlung Michael Schlenger

Die hier zu sehende Limousine des Typs kostete unglaubliche 7.300 Reichsmark! Zum Vergleich:

  • gleichstarke Viertürer von Chevrolet und Ford kosteten nur 4.600 bzw. 4.300 Mark,
  • den Opel 7/34 PS mit Sechszylinder gab es als Limousine für 4.900 Mark und
  • selbst der weit stärkere Brennabor Typ AK10/45 PS war mit 6.250 Mark billiger.

Angesichts dieser auf dem Papier aussichtslosen Konkurrenzsituation müssen die  Faun-Personenwagen irgendeine Besonderheit aufgewiesen haben, die sich nur im Betrieb bemerkbar machte.

Dafür kommt eigentlich nur die Motorencharakteristik in Frage, die sportlich veranlagte Fahrer angesprochen haben könnte. Immerhin gab es ja eine Werksportversion.

Es wäre daher interessant zu erfahren, ob das konstruktiv drehfreudig ausgelegte Triebwerk auch private Sportfahrer anzog.

Doch selbst wenn – eine gezielte Ausrichtung auf eine solche Klientel ist bei dem überlieferten Material schwer zu erkennen. Denn was nützt der schönste Sportmotor in Verbindung mit einer ab Werk angebotenen braven Karosserie wie dieser hier?

Faun Typ K2 6/24 PS; Abbildung aus Faksimile-Prospekt (Archiv-Verlag) aus Sammlung Michael Schlenger

Immerhin ließ sich ausweislich dieser Abbildung der Limousinenaufsatz abnehmen und der Wagen so in einen lupenreinen Tourenwagen verwandeln.

So hätte der Besitzer die Familie sonntags im geschlossenen Faun zur Kirche kutschieren können, um anschließend offen und ohne unnötigen Ballast eine Spritztour über Land zu unternehmen.

Doch selbst dann wäre der Preis für diesen Spaß exorbitant hoch gewesen. Mein Eindruck ist der, dass Faun es sich leisten konnte, eine solche PKW-Produktion ohne Strategie und Gewinnabsicht nebenher laufen zu lassen…

Wirtschaftlich war natürlich auch das unsinnig, doch die strenge ökonomische Rationalität der damals so erfolgreichen großen US-Autohersteller war hierzulande kaum bekannt oder wurde sogar geringgeschätzt.

Das deutsche Wesen neigt nun einmal zu einer romantischen Sicht und das erklärt aus meiner Sicht – zumindest zum Teil – die bis heute anhaltende Neigung hierzulande, nüchterne Realitäten des Daseins zu ignorieren.

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15 Jahre Fiat-Historie: Vom „Zero“ zum Tipo 520

Die Historie der Fiat-Typen bis zum 2. Weltkrieg ist für viele Altautofreunde vermutlich ein Buch mit sieben Siegeln.

Dass der legendäre Fiat 500 der Nachkriegszeit auf dem brillianten „Topolino“ der 1930er Jahre basierte, darf man zwar noch voraussetzen.

Doch dass die Turiner Marke bereits kurz nach dem 1. Weltkrieg etliche Modelle anbot, die auch im deutschen Sprachraum großen Anklang fanden, ist kaum bekannt.

Auf originalen Fotos lassen sich mühelos jede Menge Fiats der 1920er Jahre identifizieren, die über deutsche, italienische oder tschechische Kennzeichen verfügten. Fiat war damals tatsächlich bereits ein echter Großserienhersteller.

Doch kann ich mich nicht entsinnen, auf einer Klassikerveranstaltung in Deutschland jemals einem Fiat aus der Zeit vor 1935 begegnet zu sein – merkwürdig angesichts der Qualität und der einstigen Verbreitung dieser Wagen.

Schon vor dem 1. Weltkrieg – damals baute Fiat noch überwiegend Luxuswagen – unternahm man erste Versuche, sich mit dem in der Mittelklasse angesiedelten Modell „Zero“ im deutschsprachigen Raum zu etablieren:

Fiat.Reklame für das Modell „Zero“ aus der Zeitschrift „Motor“ von Januar 1914; Original aus Sammlung Michael Schlenger

Fiat baute 1914 gerade einmal etwas mehr  als 3.200 Autos – der lokale Markt war damals noch völlig unbedeutend – strebte aber bereits nach internationalem Absatzerfolg, wie diese Anzeige deutlich macht.

Im Ersten Weltkrieg baute Fiat dann in großer Zahl den Typ 3 bzw. speziell für das Militär den Typ 3 „TER“ mit kürzerem Chassis.

Folgende Aufnahme aus meiner Sammlung, die im Januar 1918 entstand, zeigt wohl einen solchen Fiat Tipo 3, hier allerdings auf Seiten der „Mittelmächte“ also dem Deutschen Reich und dem Österreichisch-Ungarischen Imperium.

Italien hatte anfangs noch zu diesem Bündnis gehört, weshalb ein Fiat Tipo 3 bei den deutsch-österreichischen Truppen nicht abwegig erscheint. Es könnte aber auch ein Beutewagen aus den jahrelangen Kämpfen im Alpenraum sein, nachdem Italien 1915 in Hoffnung auf Gebietsgewinne die Seiten gewechselt hatte:

Fiat Tipo 3 (wahrscheinlich); Originalaufnahme aus Sammlung Michael Schlenger

Trotz der mäßigen Qualität dieses über 100 Jahre alten Abzugs erkennt man hier schemenhaft den birnenförmigen Kühler, der für Fiat-Wagen noch einige Jahre typisch bleiben sollte. Auch Form und Position des Markenemblems passen zum Fiat Tipo 3.

Nach dem Ende des 1. Weltkriegs richtete Fiat seine Produktion mit am amerikanischem Vorbild geschulter Konsequenz auf Massenproduktion weniger Typen aus. Dazu gehörte die Berücksichtigung der besonderen Erfordernisse der Großserienproduktion bereits bei der Konstruktion.

Die Entwickler bekamen also nicht „lange Leine“, um sich selbst und ihre genialen Einfälle zu verwirklichen, sondern mussten sich den Anforderungen des Marktes unterwerfen – derart nüchternes Denken legte damals unter den deutschen Herstellern wohl nur Brennabor an den Tag.

Mit den neu entwickelten Vierzylindertypen 501 und 505 (1,5 bzw. 2,3 Liter) gelang Fiat ab 1919 ein Riesenerfolg: Bis 1925 entstanden fast 100.000 Exemplare dieser kaum zerstörbaren Wagen, die weltweit Absatz fanden, viele davon auch in Deutschland.

Hier eine Auswahl entsprechender Originalfotos aus meiner Sammlung, die ich bereits vorgestellt habe.

 

Neben diesen beiden Vierzylindermodellen, die 23 bzw 33 PS leisteten, bot Fiat zeitgleich mit dem 510 einen Sechszylinder an, eine Höchstleistung von 46 PS aufwies.

Dieser Wagen war optional bereits mit Vierradbremsen erhältlich, außerdem gab es eine auf 53 PS erstarkte Sportversion. Auch wenn vom Fiat 510 weniger Exemplare gebaut wurden (rund 13.500), wurden davon einige in Deutschland verkauft.

Hier haben wir so einen Fiat 510, der 1930 in Cottbus aufgenommen wurde:

Fiat 510; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Sechszylinder-Fiat 510 bekam 1922 einen leistungsstärkeren, optisch ähnlichen Bruder zur Seite gestellt, den Typ 519 mit satten 77 PS aus 4,8 Liter Hubraum.

Auch das ist ein Modell, das heute praktisch völlig unbekannt ist. Dabei handelte es sich um den ersten in Serie gebauten Fiat mit im Zylinderkopf hängenden Ventilen.

Eines dieser auch äußerlich beeindruckenden Fahrzeuge findet sich auf folgender Aufnahme, die bei einer Concours-Veranstaltung in Deutschland entstand:

Fiat 519; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Doch abgesehen von solchen stückzahlenmäßig unbedeutenden Ausflügen in die Oberklasse – selbst ein 12-Zylinder wurde in 5 Exemplaren gebaut! – blieb Fiat auf das Kleinwagensegment ausgerichtet.

Als Nachfolger der Vierzylindertypen 501 und 505 brachte man 1926 mit identischem Hubraum die Typen 503 und 507 auf den Markt, außerdem den kompakten Typ 509.

Ausgerechnet der kleine Typ 509 mit seinem 1 Liter-Aggregat war die modernste Konstruktion in dem Dreigestirn. Er verfügte nämlich über eine obenliegende Nockenwelle, die den Motor ohne Abstriche an der Robustheit ungemein drehfreudig machte, was für Jahrzehnte Markenzeichen der kleinen Fiats bleiben sollte.

Vom stärkeren 503 bzw. 507 ist der Fiat 509 äußerlich durch die Lichtmaschine zu unterscheiden, deren rundes Gehäuse am unteren Ende des Kühlers hervorlugt:

 

Mit dieser neuen Generation von Vierzylindern war Fiat ab 1926 auch zu einer radikal veränderten Optik übergegangen.

Der aus der Zeit vor dem 1. Weltkrieg stammende birnenfömige Kühler war einem kantigen Kühler gewichen, dessen Formgebung analog zu Rolls-Royce auf klassische Vorbilder wie die von Säulen getragenen Dreiecksgiebel antiker Tempel verwies.

Dasselbe Bild kühler Klassik findet sich in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre natürlich auch an der Frontpartie der Sechszylindertypen, hier des Fiat 512 mit 3,5 Liter Hubraum, der der Nachfolger des 510 war:

Fiat 512; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diese Aufnahme zeigt übrigens einen Fiat mit Zulassung in der Provinz Bozen, also aus dem nach 1918 von Italien vereinnahmten Südtirol. In der mehrheitlich von Österreichern bewohnten Region waren solche Fiats damals keine Seltenheit.

Vom Fiat 512 ist der Weg nicht mehr weit bis zum Fiat 520, dem Endpunkt der heutigen Betrachtung. Er wurde ab 1927 dem 512 als kleinerer Sechszylinder zur Seite gestellt (2,3 Liter statt 3,5 Liter Hubraum).

Wie alle Fiats der ab 1925 gebauten neuen Generation verfügte er über serienmäßige Vierradbremsen, allerdings waren die Motoren mit Ausnahme des erwähnten 509 weiterhin seitengesteuert und damit weniger auf Drehzahl ausgelegt.

Die eher dem amerikanischen Standard entsprechende Charakteristik, die sich auf Hubraum und entsprechende Elastizität statt Agilität stützte, machte die großen Fiat-Modelle jener Zeit zu einer reizvollen Alternative zu US-Modellen.

Tatsächlich sind wir speziell dem Fiat 520 hier schon einige Male begegnet:

 

Bei aller Ähnlichkeit lässt sich der Fiat 520 anhand zweier Elemente von den parallel erhältlichen Vierzylinder-Typen unterscheiden:

  • die Frontscheinwerfer sind von einem großen, profilierten Chromring eingefasst,
  • direkt entlang der seitlichen Kante der Motorhaube verläuft eine breite Leiste.

Außerdem ist die Kühlerfläche beim Fiat 520 größer als bei den schwächeren Typen und zumindest im Vergleich zum Fiat 509 fehlt der Dynamo unterhalb des Kühlers.

Nachvollziehen lassen sich alle diese Elemente anhand einer „neuen“ Aufnahme, die ich Leser Franz Langer verdanke:

Fiat 520; Originalfoto aus Familienbesitz (Franz Langer)

An der Identifikation des Wagens als Fiat 520 von 1927-29 besteht kein Zweifel, wie der Vergleich mit dem großen Foto in der vorherigen Bildergalerie zeigt.

Interessant ist aber, dass hier das Lenkrad in Fahrtrichtung rechts angebracht ist, obwohl der 520 der erste Fiat mit serienmäßiger Linkslenkung war.

Die Erklärung liegt im Aufnahmeort des Fotos. Das Bild ist nämlich nach Angabe von Franz Langer in Troppau entstanden, einer Stadt im mährisch-schlesischen Grenzland, das ab 1918 von Österreich an die Tschechoslowakei fiel.

Offenbar war in der Tschechoslowakei in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre noch Linksverkehr üblich, wo eine Rechtslenkung von Vorteil ist. Vielleicht kennt sich ein Leser genauer damit aus (ggf. bitte Kommentarfunktion nutzen).

Auch dieses schöne Bild zeigt, dass der über 20.000 Mal gebaute Sechszylinder-Fiat 520 in mehreren Ländern Mitteleuropa Käufer fand. Bisher konnten wir ihn in Deutschland, Südtirol, der Tschechei und in Polen dingfest machen.

Wie im Fall der wesentlich häufigeren Fiat-Vierzylindermodelle der 1920er Jahre – davon entstanden fast 140.000 Stück – fragt man sich: Wo sind sie geblieben?

Wenn jemand in Deutschland mit einem Vorkriegsfahrzeug Furore machen will, ohne sich zu ruinieren, dann würde das wohl mit einem der raren überlebenden Fiats der 1920er Jahre gelingen – verfügbar dürften diese allerdings nur noch in Italien sein…

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Einfach – spitze! Adler Typen 9/24 PS und 9/30 PS

Wer meinen Blog schon etwas länger verfolgt, hat sicher mitbekommen, dass ich den allermeisten Autos der Vorkriegszeit etwas abgewinnen kann und keinen speziellen Markenfimmel pflege.

Allerdings gibt es einen bestimmten Stil der frühen 1920er Jahre, den ich besonders mag – weil er selbst sonst simplen Wagen einen schnittigen Charakter gab, den die Vorläufer wie die unmittelbaren Nachfolger vermissen lassen.

Die Rede ist von der Spitzkühlermode, wie sie 1913/14 aufkam und sich hauptsächlich im deutschsprachigen Raum bis etwa 1925 hielt.

Heute möchte ich die aus meiner Sicht besonders schlüssige Gestaltung von Spitzkühlermodellen anhand des Adler 9/24 PS Typs und seiner stärker motorisierten Variante 9/30 PS illustrieren.

Kehren wir zunächst zum hier bereits vorgestellten Typ KL 9/24 PS zurück, den die Adlerwerke aus Frankfurt am Main noch kurz vor dem 1. Weltkrieg vorstellten:

Adler Typ KL 9/24 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser in der Mittelklasse angesiedelte Wagen – hier ein bei einer deutschen Militäreinheit als Offizierswagen eingesetztes Exemplar – verfügte über einen Vierzylindermotor, der aus 2,3 Liter Hubraum maximal 24 PS schöpfte.

Diese einfache Konstruktion besaß keine Lichtmaschine, sondern die damals noch übliche Magnetzündung sowie mit Karbidgas betriebene Scheinwerfer.

Bemerkenswert an diesem Modell ist allerdings, dass die bis dato meist noch rechts vom Fahrer außerhalb der Karosserie angesiedelten Hebel für Gangschaltung und Hinterradbremse bereits in den Fahrerraum gewandert waren.

Formal bot der Adler KL 9/24 PS noch einen Flachkühler, wenn auch garniert mit einem Markenschriftzug und einer Adler-Kühlerfigur, die als Extra erhältlich war:

Charakteristisch für Adler-Wagen der Zeit vor dem 1. Weltkrieg ist übrigens die Struktur des Kühlernetzes mit den markanten horizontalen Stegen und der leichte Abwärtsschwung des unteren Abschlusses der oberen Kühlereinfassung.

Nach Ende des 1. Weltkriegs bauten die Adlerwerke das 9/24 PS-Modell weiter. Hubraum und Leistung blieben unverändert, doch war nun eine Lichtmaschine Standard, die elektrische Beleuchtung ermöglichte.

Interessanterweise verlegte man Schalt- und Bremshebel wieder nach außen, während die Karosserie komplett modernisiert wurde. Der Flachkühler wich einem schnittigen Spitzkühler und darauf montierte man ein Adler-Emblem aus Emaille.

Diese Kunstgriffe ließen den braven Adler 9/24 PS wie verwandelt erscheinen:

Adler 9/24 oder 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses Foto mag nicht das beste sein, doch lässt es bereits alle wesentlichen Elemente erkennen, die kombiniert eine Identifikation nach dem Ausschlussprinzip erlauben:

  • Spitzkühler mit vertikal verlaufender Vorderkante
  • dreieckiges Adler-Emblem auf dem Kühleroberteil
  • rund 13 seitliche Luftschlitze in der Motorhaube
  • Vorderschutzbleche in der Form wie beim Vorgänger KL 9/24 PS

Der hintere Aufbau als Tourenwagen ist wenig spezifisch. Hier ist er besonders schlicht ausgeführt, was eher für das spätere Modell 9/30 PS (ab 1922) spricht.

Es gab eine nur auf den ersten Blick ähnliche Ausführung, bei der jedoch der obere Abschluss des hinteren Aufbaus schräg abgekantet verläuft:

Adler 9/24 oder 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Diesen Kunstgriff, der den Karosseriekörper dank der dadurch bewirkten Lichtbrechung plastischer erscheinen lässt, findet man bei vielen deutschen Tourenwagen jener Zeit.

Basis war wohl ein Entwurf des Multitalents Ernst Neumann-Neander, der sich damals viele solcher Karosserietypen patentieren ließ.

Aus dieser Perspektive lässt sich auch die Zahl der Luftschlitze in der Haube bestimmen – es sind 14 an der Zahl. Hier zum Nachzählen der Vorderwagen des im Sommer 1924 aufgenommenen Adler:

Die Zahl von 13 oder 14 Luftschlitzen findet man auf allen mir bekannten Abbildungen des Adler 9/24 bzw. 9/30 PS wieder.

Dazu ist zu sagen, dass die spärliche Adler-Literatur an sich gar keine Abbildungen dieses frühen Nachkriegsmodells enthält. Alle übrigen dokumentierten Adler-Typen jener Zeit weichen jedoch in der Haubenlänge und Zahl der Luftschlitze davon ab oder besitzen bereits einen Flachkühler wie das Modell 6/24 PS (ab 1923).

Dass es sich bei den Spitzkühler-Wagen mit 13 bzw. 14 Luftschlitzen auf meinen Fotos um Wagen des Typs 9/24 oder (ab 1922) 9/30 PS handelt, dafür spricht zudem, dass sie mit über 3.000 Exemplaren bis 1925 die am häufigsten gebauten Adler waren.

Da die mir zugängliche Literatur keinen einzigen dieser Adler zeigt, sind meines Erachtens Fotos umso wichtiger, die quasi eine 3D-Ansicht dieses einst gängigen Typs bieten.

Hier haben wir im Detail die Heckpartie des oben abgebildeten Adler:

Die versonnen schauende Mutter mit Kleinkind sitzt auf der üppig gepolsterten Rückbank, während sich die Passagiere in der Reihe davor mit weniger bequemen Klappsitzen begnügen mussten.

Gut zu erkennen ist hier übrigens, dass das niedergelegte Verdeck im Karosseriekörper verschwand und mit einer Persenning abgedeckt wurde – eine optisch saubere Lösung.

Nicht unerwähnt bleiben soll die bei Bedarf ausklappbare Gepäckbrücke am Heck, denn einen Kofferraum kannte man damals noch nicht.

Wer genau hinschaut, wird am unteren Heck außerdem den Benzintank erkennen, der dem Auge noch nicht verborgen wurde. Tatsächlich war die Gestaltung dieser Wagen organischer und funktionsorientierter, als dies später jemals der Fall sein sollte.

Typisch für viele deutsche Tourenwagen jener Zeit war auch die vollkommene Glattflächigkeit der Seitenpartie, die von keinerlei Zierrat gestört wurde. Selbst auf außenliegende Türgriffe verzichtete man, wie man hier erkennt:

Adler 9/24 PS oder 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch auf dieser Aufnahme von Februar 1925 finden sich wieder 14 Luftschlitze in der Haube. Wie beim zuvor gezeigten Adler ist der Werkzeugkasten teilweise im Trittbrett versenkt, was hier ein wenig unharmonisch wirkt.

„Gestört“ wird die Linie außerdem durch den mit Lederriemen befestigten Dreieckskanister – ein zeittypisches Zubehörteil, das im Handel erhältlich war.

Wie bei den übrigen bisher gezeigten Adler-Wagen war auch hier der Rahmen der Windschutzscheibe vernickelt. Zudem besaß dieses Fahrzeug eine wohl ebenfalls vernickelte Zierleiste am hinteren Abschluss der Motorhaube.

Ich habe zwar einen Verdacht, welche Elemente eine zeitliche Einordnung der Versionen des Adler 9/24 bzw. 9/30 PS erlauben, will aber erst noch weiteres Vergleichsmaterial ausfindig machen, um irgendwann eine Chronologie zu wagen.

Als (vorläufiger) Abschluss der heutigen Betrachtung des Modelles soll nun noch eine besondere Aufnahme folgen, die den Titel des heutigen Blogeintrags „Einfach – spitze“ hoffentlich verständlich macht.

Denn so sehr der Adler 9/24 bzw. 9/30 PS in technischer Hinsicht unauffällig und auch auch in der Seitenansicht schlicht gehalten war, so bestechend war seine Frontpartie:

Adler 9/24 PS bzw. 9/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auch wenn dies bereits eine außergewöhnliche Aufnahme ist, handelt es sich noch nicht um die vor längerem angekündigte, alles mir bisher Begegnete in den Schatten stellende Frontalaufnahme eines solchen Adler 9/24 bzw. 9/30 PS.

Obiges hervorragende Fotodokument wurde Mitte der 1920er Jahre von einem Amateur bei einem unbekannten Anlass erstellt. Vielleicht hat jemand eine Idee dazu.

Das Nummernschild lässt auf eine Entstehung in Westfalen schließen, möglicherweise im Raum Bochum.

Ergänzende oder auch korrigierende Anmerkungen von berufener Seite zu den hier versammelten Adler-Wagen des Typs 9/24 bzw. 9/30 PS sind wie immer willkommen.

Bei der Gelegenheit sei auch der Hinweis wiederholt, dass ich gern meine Fotos aus der Adler-Galerie in diesem Blog – mir ist keine umfangreichere bekannt – unentgeltlich jedermann zur Verfügung stelle, der eine Publikation zu dieser großen Marke plant.

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1 Zylinder und 9 PS: Lion-Peugeot Typ VC2 von 1909

Wenn man sich mit Vorkriegsautos auf alten Fotos befasst, stößt man auf eine umwerfende Vielfalt an Marken, Typen und Ausführungen, je weiter zurück man sich in die Vergangenheit bewegt.

In der Frühzeit des Automobils – also vor dem 1. Weltkrieg – rangen in Europa und den USA mehrere tausend Konstrukteure und Firmen mehr oder minder professionell um den Fortschritt.

Dieser heute unvorstellbare Wettbewerb um die beste Lösung spiegelt sich auch in meinem Fotofundus wider. Hunderte von Aufnahmen darin zeigen – häufig gestochen scharf abgebildet – Automobile, die ich bislang nicht identifizieren konnte.

Doch immer wieder kommt es vor, dass ich quasi im Vorübergehen ein Fotorätsel lösen kann, auf das ich bislang keine besonderen Mühen verwendet hatte, da die Sache aussichtslos erschien.

Heute möchte ich ein schönes Beispiel dafür vorstellen:

Lion-Peugeot Type VC2; originale Postkarte aus Sammlung Michael Schlenger

Dieses hervorragende Foto ist im Jahr 1909 als Postkarte verschickt worden. Damals konnte man solche Privataufnahmen ohne weiteres vom Fotografen als Abzug im Ansichtskartenformat bekommen.

Das ging zwar nicht auf Knopfdruck – oder Mausklick – wie heute, aber auf Bestellung. Die Idee der individualisierten Grußkarte ist also ein alter Hut und mit ein, zwei Tagen Postlaufzeit war man vor über 100 Jahren nicht wesentlich langsamer als im 21. Jh.

Auf  den ersten Blick haben wir es mit einem x-beliebigen Doppel-Phaeton aus der Zeit vor 1910 zu tun, also einem offenen Tourenwagen mit zwei Sitzreihen, der nur über ein leichtes Verdeck verfügte.

Auch ein näherer Blick auf die Frontpartie gibt dem Betrachter zunächst keinen Hinweis auf den Hersteller:

Diese Aufnahmen ganz früher Automobile wollen mit dem Blick des Archäologen betrachtet werden, der in kleinen Details Hinweise auf Herkunft und/oder Datierung zu erkennen vermag.

Halten wir auf dieser Ausschnittsvergrößerung folgende Feinheiten fest:

  • die sehr kurze Motorhaube stößt übergangslos im rechten Winkel auf die Schottwand zum Fahrerraum hin,
  • oberhalb der seitlichen Luftschlitze ist eine aufgesetzte Griffmulde zu erkennen, mit der der Haubenflügel angehoben werden kann,
  • zwei Luftschlitze befinden sich hinter dieser Mulde, zwei darunter und vermutlich zwei davor, was insgesamt mindestens sechs Entlüftungsschlitze ergibt,
  • an der Schottwand sind zwei petroleumbetriebene Leuchten angebracht, die als Positionslampen dienten; der Lampenkörper ist konisch gestaltet,
  • der Vorderkotflügel ist annähernd als Viertelellipse ausgeführt, folgt also nur näherungsweise der Radform,
  • hinter der Schottwand befindet sich ein im Winkel von 45 Grad schrägstehendes Blech, durch das die Pedalen und die Lenksäule geführt sind.

Für sich genommen liefern diese Details noch keinen eindeutigen Hinweis auf den Hersteller oder das genaue Modell dieses Fahrzeugs.

Doch in Kombination mit zwei weiteren Elementen auf der folgenden Ausschnittsvergrößerung war letztlich eine eindeutige Identifikation möglich:

Ins Auge fällt hier zunächst der oben abgerundete Kasten, hinter dem sich die vordere Aufhängung der hinteren Blattfeder befindet.

Man erkennt darauf schemenhaft ein Lochmuster, in dem sich eine mittige Aussparung befindet. Es handelte sich um ein Schutzblech auf dem als Stufe fungierenden Kasten, der den Einstieg im Heckabteil erleichterte.

Das allein würde schon die Ansprache als Fahrzeug der Marke Lion-Peugeot ermöglichen. Der Schriftzug der Marke war in der horizontalen Fläche des Lochblechs auf erwähntem Kasten erhaben ausgeführt.

Ein anderes, unscheinbares Detail liefert ebenfalls ein Indiz für den Wagentyp, um den es sich handelt. So konventionell der Aufbau als Doppel-Phaeton auch ist, so  individuell fällt die Gestaltung des oberen Abschlusses der hinteren Tür aus.

Diese endete nämlich nicht in einer simplen Horizontalen , sondern wies am hinteren Ende einen kleinen Aufwärtsschwung auf, den die parallel dazu verlaufende Zierlinie in der Fläche darunter präzise nachvollzieht.

Alles das findet sich genau so auf einer Abbildung in Wolfgang Schmarbecks deutschem Standardwerk „Alle Peugeot-Automobile 1889-1980“ wieder.

Der Titel lässt bereits erkennen, dass das Buch fast 40 Jahre alt ist, doch seither hat sich im deutschen Sprachraum niemand mehr zu einer vergleichbaren Darstellung früher Peugeots aufgerafft.

Überhaupt scheinen die Kräfte der deutschen Automobilhistoriker nach einer hochproduktiven Phase seit den 1990er Jahren – von wenigen Ausnahmen abgesehen – erlahmt zu sein, was Vorkriegsfahrzeuge angeht.

Wie auch immer: Auf Seite 94 der 1. Auflage des Schmarbeck’schen Peugeot-Werks von 1980 findet sich genau das Auto wieder wie auf dem heute vorgestellten Originalfoto.

Demnach haben wir es mit einem 9 PS-Einzylinder des Typs VC2 der Marke Lion-Peugeot zu tun, der 1909/10 gebaut wurde, angeblich in knapp 1.200 Exemplaren.

Je nach Hinterradübersetzung ermöglichte das 1 Liter-Aggregat eine Höchstgeschwindigkeit von bis zu 45 km/h. Mangels Frontscheibe war das genug, um den Insassen den Wind ordentlich durch die Haare wehen zu lassen.

Kein Wunder, dass sich die junge Dame am Lenkrad vor der Ausfahrt ein schützendes Tuch über den feschen Hut und die Haarpracht gezogen hatte, um nicht völlig zerzaust am Ziel anzugelangen:

Ob unser Fotomodell den Wagen auch tatsächlich selbst bewegte, wissen wir nicht. Sehr wahrscheinlich ist es nicht, aber auch nicht ganz ausgeschlossen.

Bereits vor dem 1. Weltkrieg schickten sich die ersten unerschrockenen Damen an, die noch in vielerlei Hinsicht kapriziösen Verbrenner-Wagen zu bändigen, während die bis dato stark verbreiteten und einfach zu bedienenden Elektroautos ohnehin gern auch von Frauen aus begütertem Haus gesteuert wurden.

Damit wäre ich fast am Ende des heutigen Automobil-Porträts, das uns 110 Jahre in die Vergangenheit zurücktransportiert, als noch offen war, wer das Rennen machen würde: Elektroautos, Verbrenner oder Dampfwagen.

Doch halt: Was hatte es eigentlich mit der ominösen Marke Lion-Peugeot auf sich?

Nun, dabei handelte es sich um eine von der 1896 gegründeten Firma Automobiles Peugeot formell unabhängige Marke, die zwischen 1906 und 1916 in Beaulieu bei Valentigney im Departement Doubs eigenständige Kleinwagen fertigte, die unterhalb der in Audincourt und Lille gebauten größeren Peugeots angesiedelt waren.

In Beaulieu wurden übrigens auch die Fahrräder und Motorräder von Peugeot gefertigt. Außerdem entstanden dort als letzte Automobile von 1913-16 die als „Bébé“ vermarkteten Kleinwagen.

Für deren Konstruktion zeichnete der junge Etttore Bugatti verantwortlich, der zuvor bei Deutz in Köln beschäftigt war und ab 1910 als selbständiger Ingenieur im elsässischen Molsheim wirkte – doch das ist eine andere Geschichte…

Vom Lion-Peugeot „Bébé“ entstanden über 3.000 Exemplare und eines davon werde ich ebenfalls gelegentlich anhand eines Originalfotos aus meiner Sammlung vorstellen.

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6-Zylinder und Gläser-Karosserie: Steyr 430 Cabrio

Zu den vielen Leerstellen in den sogenannten Oldtimer-Magazinen in Deutschland gehören aus meiner Sicht die zahlreichen VorkriegsAutomodelle österreichischer Hersteller wie Austro-Daimler, Gräf & Stift oder auch Steyr.

Ich selbst verfüge auf diesem Sektor über keine besonderen Kenntnisse oder Neigungen. Doch lasse ich mich gern von der Historie einer Traditionsmarke wie Steyr verführen, wenn sie so aufbereitet ist wie im 350 Seiten starken Werk von Hubert Schier:

„Die Steyrer Automobile-Geschichte von 1856-1945″, herausgegeben vom Ennsthaler Verlag, 1. Auflage, 2015

Ohne mit dem Verfasser oder seinem Verlag in Verbindung zu stehen, meine ich aus persönlicher Überzeugung, dass dieses Buch in die Sammlung jedes Liebhabers von Vorkriegsautomobilen aus dem deutschen Sprachraum gehört.

Bei praktisch allen bisherigen Einträgen in meinem Blog zu Wagen des in Steyr angesiedelten Waffenherstellers habe ich mich darauf gestützt. Auch im Netz gibt es aus meiner Sicht bislang keine auch nur annähernd vergleichbare Quelle.

In meinem letzten Blog-Eintrag, der sich mit einem Vorkriegswagen von Steyr befasste, ging es um den Typ XVI von 1928/29 (Bildbericht).

Steyr Typ XVI; Originalfoto aus Sammlung Jason Palmer

Zwischen diesem noch auf einer Konstruktion von Hans Ledwinka basierenden 6-Zylinder-Modell und dem Auto, um das es heute geht, liegen weniger als fünf Jahre.

Beide Fahrzeuge markieren Ende und Anfang einer Epoche. Mit dem Typ XVI baute Steyr ein letztes Mal einen Vertreter des sachlichen Stils der späten 1920er Jahre.

Nach den Turbulenzen der Weltwirtschaftskrise 1929, in der die Pkw-Produktion bei Steyr fast zum Erliegen kam, tat sich die Marke 1930 mit einem neuen Sechszylindermodell hervor, das auf einem Entwurf von Ferdinand Porsche basierte, dem 2-Liter-Typ XXX.

In Verbindung mit hinterer Pendelachse und hydraulischer Vierradbremse war dieses 40 PS leistende, auch innen gut ausgestattete Modell auf der Höhe der Zeit.

Bislang ist mir vom Steyr Typ XXX nur die folgende Aufnahme ins Netz gegangen:

Steyr Typ XXX; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Hier haben wir drei gut gelaunte Soldaten der deutschen Luftwaffe, die sich mit einem Steyr Typ 30 haben ablichten lassen. Die Tarnüberzüge auf den Frontscheinwerfern verraten, dass das Foto nach Kriegsbeginn 1939 entstanden sein muss.

Viel sieht man von dem matt überlackierten Steyr nicht, doch lässt er sich anhand der Form des Kühlers, der Scheibenräder und der Luftschlitze in der Motorhaube als Typ 30 ansprechen, wie er bis 1933 in wenigen tausend Exemplaren entstand.

Wie immer freue ich mich auch in Bezug auf dieses Modell über bessere Belegfotos von Lesern, die helfen die Dokumentation von Vorkriegswagen im deutschen Sprachraum zu vervollständigen – denn die gedruckte Literatur bietet nur einen Bruchteil davon.

Kommen wir nun zum eigentlichen Gegenstand des heutigen Blog-Eintrags, dem ab 1933 gebauten Steyr-Typ 430. Sein Motor basierte noch auf der Konstruktion von Ferdinand Porsche für den Vorgänger Typ XXX oder 30.

Doch in gestalterischer Hinsicht begann damit auch bei Steyr eine neue Ära:

Steyr Typ 430 Cabriolet; Originalfoto aus Sammlung Marcus Bengsch

Hier haben wir ein Steyr-Cabriolet des Typs 430 mit Karosserie von Gläser aus Dresden, einem der renommiertesten deutschen Karosseriebaubetriebe der Vorkriegszeit überhaupt.

Vorbei war hier die Herrschaft der strengen Sachlichkeit, der sich die Gestaltung des Automobils zumindest im deutschen Sprachraum um 1925 unterordnete.

Mit einem Mal begannen sich organische, gerundete und spannungsreiche Formen zu etablieren, die den Fahrzeugen der 1930er Jahre oft eine skulpturenhafte Anmutung verliehen.

Man muss sich schon bemühen, an diesen Fahrzeugen irgendeine gerade Linie zu finden. In der Natur, aus der wir stammen, verhält es sich ganz ähnlich. Die Gerade ist dort die absolute Ausnahme und den rechten Winkel hat man dort noch nie gesehen.

Aus meiner Sicht ist dies Teil der Erklärung dafür, weshalb gerade Automobile der 1930er Jahre wohl von jedermann instinktiv als formal harmonisch empfunden werden, ganz gleich was man von ihren sonstigen Qualitäten halten mag.

Wer das übertrieben findet, dem sei folgende Aufnahme ans Herz gelegt, die das Nachfolgemodell des Steyr 430 zeigt, den größeren, stärker motorisierten Typ 530:

Steyr Typ 530; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Selbst Besitzer der heute leider in Deutschland üblichen immergleichen Bauhaus-Bunker mit Blaubasalt-Schutt im Vorgarten dürften solche Blech-Kreationen kaum als optische Beleidigung empfinden.

Ich wage die Behauptung, dass kein modernes Automobil imstande ist, eine derartige raumgreifende Präsenz zu entwickeln und das Auge in vergleichbarer Weise zu fesseln wie die beiden Wagen, die auf diesem über 80 Jahre alten Foto abgelichtet sind.

Nicht auszuschließen ist dabei, dass ein Teil der Faszination gar nicht vom 6-Zylinder-Steyr Typ 530 ausgeht, sondern von dem daneben zu sehenden Horch Achtzylinder.

Für heute lasse ich es bei der Betrachtung des für sich bereits vollkommenen Steyr Typ 430 auf dem Foto von Leser Markus Bengsch bewenden. Doch zu dessen Nachfolger 530 und vor allem dem Nachbarn aus dem Hause Horch kehre ich gewiss zurück…

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Deutscher Sonderweg: DKW-Hecktriebler 1930-40

Weshalb die Volksmotorisierung im Deutschland der Vorkriegszeit nicht annähernd das Niveau der Nachbarländer wie Frankreich und England erreichte, darüber kann man trefflich und kontrovers diskutieren.

Eine Rolle spielten sicher die erdrosselnden Auflagen des Versailler „Vertrags“ sowie die Auswirkungen der Hyperinflation und schließlich der Weltwirtschaftskrise auf die Einkommens- und Vermögenssituation hierzulande.

Vor diesem Hintergrund war der Markt für volkstümliche Automobile strukturell bedingt deutlich kleiner als in den Siegerstaaten. Doch kommen aus meiner Sicht zwei weitere Faktoren hinzu:

Zum einen fällt bei Traditionsfirmen wie Adler, Opel oder auch Dixi auf, dass das Können ihrer Konstrukteure in den Zwischenkriegsjahren hinter den Stand ihrer Zeit zurückfiel.

Anders ist kaum zu erklären, dass alle drei angesichts der immer drängenderen Konkurrenz des Auslands in der zweiten Hälfte der 1900 zwanziger Jahre auf Kopien oder Lizenznachbauten gängiger amerikanischer, französischer oder englischer Modelle angewiesen waren, um Anschluss an die Tendenzen ihrer Zeit zu gewinnen.

Zum anderen gab es daneben zahlreiche Konstrukteure, die ihr Talent auf entlegene Lösungen verwendeten, um nicht zu sagen: verschwendeten. Oft verlegten sie sich auf Konzepte, die von vornherein nicht massenmarkttauglich waren, da sie

  • sich hinsichtlich Leistung, Geräuschentwicklung und Wetterschutz nicht genügend vom Motorrad abgegrenzten,
  • keinen ausreichenden Platz für eine Familie boten,
  • von der Konstruktion her nicht für eine Fließbandproduktion geeignet waren
  • im Alltag nicht akzeptable Zuverlässigkeitsmängel aufwiesen,
  • formal nicht den Kundenvorstellungen entsprachen und/oder
  • für den Durchschnittsbürger zu teuer waren.

Kurz: sie genügten den Anforderungen an ein überzeugendes Alltagsfahrzeug nicht.

Dabei sollten genau diese den Ausgangspunkt für eine marktorientierte Konstruktion darstellen und nicht etwa vermeintliche Probleme wie der Luftwiderstand, die in der damaligen Praxis nachrangig waren.

Sinnbildlich für solche marktfernen Ansätze steht der Tropfenwagen von Rumpler:

Dagegen gelang es speziell in den USA einst Dutzenden Herstellern, auf Grundlage nüchterner, am Bedarf, den eigenen Möglichkeiten und an der Konkurrenz orientierter Überlegungen auf Anhieb großserientaugliche Autos zu entwickeln.

Mir scheint, dass dieser pragmatische, berechnende Ansatz der deutschen Mentalität widerstrebt, die zu kompliziertem und idealistischem Denken neigt. Das führte zu entlegenen, kaum praxisgerechten Lösungen bzw. zu nicht endenden Kaskaden von Problemen, aus denen man nicht mehr herausfindet.

Ich spare mir naheliegende Anspielungen auf entsprechende Phänomene der Gegenwart und möchte die von 1930-40 gebauten Heckantriebsmodelle von DKW als weiteres Beispiel für irrationale deutsche Sonderwege anführen.

Die Geschichte beginnt 1930 mit dem bereits vorgestellten DKW 4=8 V800, im Unterschied zu den erfolgreichen 2-Zylinder Fronttrieblern der Marke ein Wagen, der Heckantrieb mit einem V-Vierzylinder-Zweitakter mit Ladepumpe vereinte.

Auf dem Papier war die Idee genial: Ein Vierzylinder in V-Anordnung bietet bei moderater Baulänge genug Platz für Ladepumpen, die als dritter Kolben in den beiden Zylinderbänken untergebracht waren.

Eine grafische Darstellung sowie eine nähere Erläuterung des Prinzips findet sich in meinem Blog-Eintrag zum ab 1930 gebauten Modell DKW V800.

Die Konstruktion barg in der Praxis etliche Tücken, die DKW in zehn Jahren Produktionsdauer nicht in den Griff bekam bzw. die zu einem immer komplexeren Aufbau führten, der die Vorteile des Zweitaktmotors ins Gegenteil verkehrte, nämlich: wenige bewegte Teile, einfache Ölversorgung und geringer Verbrauch

An den Aufbauten hat es dagegen nicht gelegen, dass nur rund 1.700 Exemplare des DKW V800 verkauft wurden, denn diese waren durchaus konventionell:

DKW 4=8 V800; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Vom DKW-Erstling Typ P 15 PS (ab 1928) unterscheidet er sich insbesondere durch die senkrechten Luftschlitze. Ansonsten ist der Aufbau sehr ähnlich, dasselbe gilt für das Farbschema der Karosserie.

Die doppelte Stoßstange nach US-Vorbild war ein Extra, ebenso die Radkappen.

Ab 1931 entstand der etwas stärkere Nachfolger DKW V1000 mit 25 statt 22 PS. Er sah auf den ersten Blick fast genauso aus, trug aber auf dem Kühlergehäuse nun ein dreieckiges Emblem in den sächsischen Landesfarben Grün und Weiß.

Auf der folgenden Aufnahme, die wir Leser Volker Wissemann verdanken, sehen wir einen solchen DKW V1000:

DKW V1000; Originalfoto aus Sammlung Volker Wissemann

Ein weiteres Exemplar der Cabrio-Limousine des DKW V1000 steuerte Leser Rolf Ackermann aus dem Familienalbum bei.

Hier sehen wir praktisch dasselbe Modell, aber ohne die aufpreispflichtigen Radkappen und mit kunstlederner Kühlermanschette für den Betrieb in der kalten Jahreszeit:

DKW V1000; Originalfoto aus  Familienbesitz von Rolf Ackermann

Beide Aufnahmen lassen gut erkennen, dass der heckgetriebene DKW V1000 ein erwachsenes, familientaugliches Fahrzeug darstellte und keine Verlegenheitslösung.

Nur der Ladepumpenmotor machte auch in der von 800 auf 1000 ccm vergrößerten Version jede Menge Probleme. Überliefert sind: Neigung zur Überhitzung,  und eine weiterhin nicht angemessene Benzinkonsum.

Die Literatur nennt Verbrauchswerte von bis zu 15 l auf 100 km, was in krassem Gegensatz zu den sparsamen Frontantrieblern von DKW, aber auch vergleichbaren Modellen anderer Hersteller wie Opel oder Hanomag stand.

Gewisse Fortschritte in dieser Hinsicht gelangen erst beim 1932 vorgestellten Nachfolger, der als DKW Sonderklasse firmierte.

Diese Bezeichnung hatte sich das völlig neu gestaltete Modell in formaler Hinsicht vollkommen verdient. Ein Exemplar davon habe ich hier bereits vor längerer Zeit Anhand dieser Aufnahme aus meiner Sammlung präsentiert:

DKW Sonderklasse Typ 1001; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die leicht geneigte Kühlerpartie, die großen Chromscheinwerfer, die nicht länger an amerikanischen Vorbildern orientierte einteilige, ebenfalls verchromte Stoßstange sowie die filigranen Drahtspeichenräder mit Chromradkappe lassen diesen Wagen nun deutlich höherwertiger erscheinen.

Unter dem Blech hatte sich auch einiges getan: Zum einen war das Federverhalten der Hinterachse war dank einer Neukonstruktion deutlich verbessert worden.

Zum anderen ermöglichte die Montage eines neuartigen Getriebes, dass der Motor im Schiebebetrieb (d. h. nach Wegnehmen des Gases) nur mehr mit Leerlaufdrehzahl lief. Dadurch ließ sich der übermäßige Kraftstoffverbrauch etwas reduzieren.

Weitere effizienzsteigernde Maßnahmen (wie die Verwendung der neuartigen Umkehrspülung) scheiterten dagegen trotz aufwendiger Versuche an dem eigenwilligen Konzept des Motors.

So hielt sich – nicht zuletzt aufgrund des relativ hohen Preises – auch der Erfolg des formal so ansprechenden DKW Sonderklasse in Grenzen. Von Anfang 1933 bis Frühjahr 1935 konnten lediglich etwas mehr als 6000 Exemplare abgesetzt werden.

Bevor wir uns dem wiederum äußerlich völlig anderen Nachfolgemodell zuwenden, sei hier noch ein Foto von Leser Klaas Dierks präsentiert, das ein Modell Sonderklasse aus der nur selten festgehaltenen Heckperspektive zeigt:

DKW Sonderklasse; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Ausgangspunkt der Identifikation war übrigens der Wimpel am Kühler des Wagens, auf dem schemenhaft das DKW-Emblem zu erahnen ist.

In Kombination mit den Drahtspeichenrädern und der markanten Gestaltung des Heckkoffers war die Ansprache des Typs dann eine Kleinigkeit.

Auf den klassisch-eleganten DKW „Sonderklasse“ folgte dann im Spätsommer 1934 das in formaler Hinsicht radikal neue Modell „Schwebeklasse.“:

DKW „Schwebeklasse“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Bei dieser Ausführung vermag auch die adrette Beifahrerin nicht darüber hinweg zu täuschen, dass der von der kurzlebigen Stromlinienmode beeinflusste Aufbau ziemlich verunglückt wirkt.

Abgesehen davon, dass der Versuch der Verringerung des Luftwiderstands bei einem damals im Alltag mit kaum mehr als 80 km/h bewegten Fahrzeug übertrieben anmutet, überzeugt auch die formale Ausführung kaum.

Die einzelnen Elemente der Frontpartie wirken aneinandergestückelt. Speziell das Nebeneinander der nach innen gewölbten Kühlermaske und der nach außen gewölbten Schutzbleche macht einen unharmonischen Eindruck.

Unter der Haube arbeitete grundsätzlich immer noch der Vierzylinder-2 Takt-Motor mit Ladepumpe, wenn auch nun auf bis zu 30 PS gesteigert.

Die Neigung des Aggregats zu häufigen Defekten, die insbesondere auf eine konstruktiv bedingte unzureichende Ölversorgung zurückzuführen war, bekam DKW aber weiterhin nicht in den Griff.

Dies sorgte nicht nur für Verdruss beim Kunden, sondern auch für hohe Garantie- und Kulanzkosten. Dementsprechend enttäuschend waren die Absatzzahlen auch dieser Variante des DKW-Heckantriebsmodells.

Knapp 7.000 Stück davon konnten mit Mühe über den Zeitraum von drei Jahren bis Frühjahr 1937 verkauft werden.

Wer glaubt, dass DKW aus dem Debakel der letzten sieben Jahre gelernt hätte und das Nachfolgemodell endlich mit einem unproblematischen Standardaggregat ausgestattet hätte, unterschätzt das teutonisch-sture Festhalten der Verantwortlichen an einem Sonderweg, der sich längst als Sackgasse erwiesen hatte.

Zwar konnte DKW ab 1937 endlich wieder ein formal sehr gelungenes neues Heckantriebsmodell vorstellen, das dann so aussah:

DKW Sonderklasse; Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Auch diesen charmanten Schnappschuss verdanken wir Leser Klaas Dierks.

Die beiden Insassen freuen sich vermutlich weniger darüber, dass ihr DKW immer noch mit dem unsäglichen Vierzylinder-Ladepumpenmotor ausgestattet war, als vielmehr darüber, dass sie überhaupt über ein Fahrzeug verfügten.

Denn zum Zeitpunkt der Aufnahme tobte der Zweite Weltkrieg, wie die ab 1939 im Deutschen Reich vorgesehenen Tarnüberzüge auf den Frontscheinwerfern verraten. Hier sind sie sogar kombiniert mit einem Notek-Tarnscheinwerfer, wie er bei Militärfahrzeugen üblich war.

Das Auto befand sich aber eindeutig weiterhin in Privathand, wie die zivile Zweifarblackierung, die nicht lackierten Chromteile und das Fehlen einer militärischen Kennung auf den Vorderkotflügeln belegen.

Wer genau hinschaut, erkennt hinter der Frontscheibe auf der Beifahrerseite ein Schild mit der Aufschrift „Arzt“. Diese Berufsgruppe gehörte 1939 zu den wenigen, die ihre privaten Fahrzeuge behalten durften.

Wer kein solches unabweisbares Bedürfnis nachweisen konnte, musste seinen Pkw an die Wehrmacht abliefern und bekam ihn in der Regel nie wieder zu sehen.

Das Paar in dem hübschen DKW hatte also in doppelter Hinsicht Grund, sich glücklich zu schätzen. Denn der Herr Doktor wurde sicher in der Heimat dringender gebraucht, als an einer der zahllosen Fronten, an denen Millionen von deutschen Soldaten ab spätestens 1942/43 einen aussichtslosen Kampf führten.

Übrigens endete die Produktion des DKW Sonderklasse in der formalen sehr gelungenen Version wie auf dem Bild von Klaas Dierks erst 1940. Bis dahin hielt man an dem zehn Jahre alten und an sich gescheiterten Motorenkonzept fest.

Zwar hatte man die Zuverlässigkeit des Aggregat verbessert und unternahm nochmals Versuche, durch Abschaltung von zwei Zylindern im Freilauf den enormen Kraftstoffverbrauch des Motors zu reduzieren, dennoch kam es nochmals zu einer Häufung von Reklamationen, die vor allem den Antrieb betrafen.

Dass bis Produktionsende dennoch immerhin rund 10.000 Stück der letzten Ausbaustufe der DKW Sonderklasse einen Käufer fanden, dürfte der gelungenen und geräumigen Stahlkarosserie sowie dem modernen Fahrwerk mit vorderer Einzelradaufhängung zu verdanken gewesen sein.

Erst nach Kriegsende kam es bei überlebenden Fahrzeugen dieses Typs zu einem Sieg des gesunden Menschenverstands, und zwar bei den Besitzern selbst, so vielleicht auch bei diesem in der amerikanischen Besatzungszone Bayern zugelassenen Exemplar:

DKW Sonderklasse; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Viele Nachkriegsbesitzer solcher DKW ersetzten nämlich den mängelbehafteten originalen Zweitakter mit Ladepumpe kurzerhand durch ein ordinäres Viertakt-Vierzylinderaggregat.

Kurioserweise hatte man im Auto-Union-Verbund bereits vor dem Krieg erwogen, die malade DKW Sonderklasse einfach mit dem kleinsten Viertaktmotor der Schwestermarke Wanderer auszustatten.

Davon sah man letztlich aus Gründen der Markenabgrenzung ab; diese Innenperspektive erschien wichtiger als das Interesse der Kunden.

Man glaubte tatsächlich, dass sich DKW-Kunden eher mit einem unzuverlässigen und unwirtschaftlichen Zweitaktmotor abfinden werden, als ein bewährtes Viertakt-Aggregat aus dem angesehenen Auto Union-Konzern zu akzeptieren.

So kam es, dass man über Jahre im wohl renommiertesten Auto-Verbund der Welt an einem gescheiterten Motorenkonzept festhielt, dass dem Kunden nur Nachteile und dem Hersteller unnötigen Entwicklungsaufwand und hohe Kulanzkosten bescherte.

Die Lösung der Nachkriegsbesitzer dieser Fahrzeuge zeigt, wie einfach der Ausweg an sich war. Dazu hätte aber bei den Verantwortlichen von DKW die nüchterne Einsicht gehört, dass man mit der Sonderklasse antriebstechnisch auf dem Holzweg war…

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Ein Sportwagen aus Berlin: NAG C4B „Monza“

Der desolate wirtschaftliche Zustand Berlins, das trotz Hauptstadtstatus heute ein Pro-Kopf-Einkommen unter dem Landesdurchschnitt aufweist, lässt kaum noch erahnen, dass die Spree-Metropole einst ein florierendes Industriezentrum war.

Dutzende Auto- und Karosseriehersteller waren in der Vorkriegszeit dort beheimatet, und so gesehen verwundert es kaum, dass in Berlin auch Sportwagen entstanden – bloß kennt sie heute kaum noch jemand.

Die Rede ist vom Sportmodell C4b „Monza“ der ehrwürdigen Nationalen Automobil-Gesellschaft (NAG), die als „Neue Automobil-Gesellschaft“ 1901 gegründet worden war.

Vor dem 1. Weltkrieg nahm NAG kaum an Sportveranstaltungen teil. Die sorgfältig konstruierten, zuverlässigen Wagen verkauften sich auch so in unterschiedlichsten Leistungsklassen sehr gut – und das international.

Nach Kriegsende beschränkte sich NAG im PKW-Segment auf nur noch einen Typ – den C4 mit seitengesteuertem 2,6 Liter-Vierzylinder und 30 PS Leistung:

NAG Typ C4 10/30 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Dieser Tourer wurde bei einer spätwinterlichen Ausfahrt in Pommern aufgenommen. Dazu passend trägt er auf dem Kühler das Wappentier der Provinz – einen Greif.

Wer nun an Stoewer denkt, liegt zwar falsch, ist damit aber nicht allein. Auch ich habe diesen ab 1920 gebauten NAG C4 erst für einen D-Typ der Marke aus Stettin gehalten. Es handelt sich aber eindeutig um einen NAG des damals recht verbreiteten Typs.

1921 setzte NAG zwei auf dem C4 basierende Rennwagen anlässlich der Eröffnung der AVUS in Berlin mit großem Erfolg ein.

Die gegenüber dem Serienmodell deutlich leichteren und mit „frisierten“ Motoren ausgestatteten Wagen errangen gegenüber der Konkurrenz von Adler, Dürkopp, Horch, Opel und Stoewer den ersten und vierten Platz.

1922 belegte NAG mit der Rennausführung des C4 sogar die ersten drei Plätze auf der AVUS. Hier sehen wir Konstrukteur Christian Riecken höchstselbst am Steuer, während er auf regennasser Fahrbahn die Nordkurve der AVUS durcheilt.

NAF C4 Rennversion auf der AVUS; Fotoquelle: Automobilhistorischer Bilderdienst (Reproduktion durch den Archiv-Verlag), Exemplar aus Sammlung Michael Schlenger

Dank der auf 60 bis 70 PS gesteigerten Motorleistung des NAG C4 konnte Riecken in seinem Renner Durchschnitte von über 130 km/h auf der AVUS herausfahren.

Beinahe noch wichtiger als die erzielbare Geschwindigkeit war damals die Zuverlässigkeit – eine Kategorie, in der NAG von Anbeginn her brilllierte.

So siegte NAG 1923 – nun auch gegen internationale Konkurrenz – strafpunktfrei anlässlich der Allrussischen Zuverlässigkeitsfahrt, die eine Strecke von 2.000 km auf kaum als Straßen zu bezeichnenden Pisten umfasste und höchste Anforderungen an Konstruktion und Material stellte.

1924 gelang NAG bei den 24 Stunden von Monza sogar ein Sieg gegen die 3-Liter-Modelle von Alfa-Romeo. Diesen Erfolg nahm man zum Anlass, die für Privatfahrer verfügbare, zahmere Sportversion NAG C4b mit dem Zusatz „Monza“ zu versehen.

Ein Originalfoto dieses 45 PS leistenden Serien-Sportwagens habe ich vor einiger Zeit als Fund des Monats präsentiert:

NAG C4b „Monza“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Entstanden ist diese Aufnahme im Anschluss an einen Sporteinsatz – leider sind Ort und Datum nicht bekannt.

Laut Literatur errangen Privatfahrer mit dem NAG C4b und dem leistungsgesteigerten Typ C4m Mitte der 1920er Jahre über 75 erste und zweite Plätze bei Sporteinsätzen.

Demnach muss es etliche solcher Sportversionen in Privathand gegeben haben.

Leider ist die genaue Zahl unbekannt, doch immerhin kann ich heute ein weiteres solches Exemplar in einem großstädtischen Umfeld zeigen, in dem die gutbetuchten Besitzer einst zuhause waren:

NAG C4b „Monza“; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Auf dieser Aufnahme ist zwar grundsätzlich derselbe NAG-Sporttyp zu sehen wie auf dem zuvor gezeigten Foto. Doch in einigen Details unterscheiden sich die Wagen:

  • Drahtspeichenräder mit Zentralverschluss statt Scheibenräder mit fünf Radbolzen,
  • der Radform folgende „Cycle-Wings“ statt weit nach hinten reichende Schutzbleche,
  • an der Unterseite des Rahmens nach hinten geführtes statt seitliches Auspuffrohr.

Beiden Fahrzeugen gemeinsam sind:

  • die seriennahe Ausführung des Kühlers,
  • die lange glattflächige Motorhaube,
  • die leicht schräggestellte gepfeilte Frontscheibe,
  • die winzige Tür sowie das darunter angebrachte Trittbrett,
  • und die viersitzige Ausführung mit leichtem Tourenwagenverdeck.

Kann jemand etwas zu den Unterschieden der beiden Fahrzeuge sagen? Haben wir es bei dem Wagen mit Scheibenrädern mit dem auf 50 PS leistungsgesteigerten NAG Sporttyp C4m zu tun, der im Unterschied zum NAG C4b Vorderradbremsen besaß?

Leider gibt die stark veraltete Literatur zu NAG trotz einiger interessanter Details nichts zu den Feinheiten dieser Sportmodelle (und zahlreicher anderer Typen) her.

Vielleicht erbarmt sich ja doch eines Tages noch ein Hüter von NAG-Archivmaterial und legt eine umfassende Darstellung dieser einst so bedeutenden Marke vor.

Meine mittlerweile recht zahlreichen Originalfotos von NAG-Wagen (siehe NAG-Galerie) stelle ich dafür gern zur Verfügung…

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In Deutschland ganz groß: US-Kleinwagen „Whippet“

Heute begegnen wir in meinem Blog für Vorkriegsautos wieder einem Modell, das heute zwar kaum noch jemand hierzulande kennt, das aber vor gut 90 Jahren in deutschen Landen ziemlich verbreitet war.

Die Rede ist vom „Whippet“ des US-Herstellers Overland, der nur von 1927 bis 1931 gebaut wurde, jedoch wie kaum ein anderes Fahrzeug für den Erfolg amerikanischer Großserienfahrzeuge in Deutschland steht.

Als Vorgeschmack ein Foto eines solchen Wagens aus dem Fundus eines Lesers, das ich hier bereits vor längerer Zeit vorgestellt habe:

Whippet von 1929; Foto aus Privatbesitz (dem Autor bekannt)

Bevor ich anhand weiterer Originalaufnahmen näher auf die Verbreitung von Fahrzeugen dieser Marke am deutschen Markt eingehe, sind vielleicht einige Zahlen aufschlussreich, die ich in einem zeitgenössischen Buch fand: „Die deutsche Automobilindustrie“ von Otto Meibes, Berlin 1928.

Demnach gab es in Deutschland im Jahr 1926 nur 1 Automobil auf 125 Einwohner. In Großbritannien und Frankreich dagegen war es bereits 1 Auto auf 60 bzw. 70 Einwohner. Selbst in Schweden war damals die Automobildichte bereits deutlich höher als hierzulande (1 Fahrzeug auf 95 Einwohner).

Noch drastischer fällt der Vergleich mit den USA aus. Dort kam 1926 ein Automobil auf sechs Einwohner, wobei Kinder und alte Leute eingerechnet sind. An dieser Kennziffer wird die Leistungsfähigkeit der US-Automobilindustrie jener Zeit deutlich.

Maßgeblich für die Fähigkeit, bezahlbare Fahrzeuge für jedermann in ausreichender Stückzahl zu produzieren, war die konsequente Ausrichtung auf Gewinnerzielung und damit zugleich Stärkung des Kapitals durch rationelle Serienfertigung.

Mangels wettbewerbsfähiger Anbieter am deutschen Markt wurde das rasante Wachstum des Fahrzeugbestands in Deutschland (im Schnitt annähernd 20-30 % pro Jahr) im wesentlichen durch ausländische Hersteller ermöglicht.

Die US-Produzenten exportierten gegen Ende der 1920er Jahre zwar nur rund 5 % ihres Fahrzeugausstoßes, das genügte aber, um den Markt in Europa quasi nebenher abzudecken (Quelle: Otto Meibes, wie oben angegeben).

Wie anders die Maßstäbe der amerikanischen Automobilindustrie gegenüber der hiesigen war, macht der „Whippet“ von Overland eindrucksvoll deutlich:

Whippet Limousine von 1929; Originalfoto aus Sammlung Michael Plag

Der Wagen auf diesem schönen Foto von Leser Michael Plag befand sich im Besitz von Vertretern des gehobenen Bürgertums. Dabei war das Ende der 1920 Jahre bloß das kleinste Auto, das von einem amerikanischen Hersteller in Serie produziert wurde.

Preislich war der Wagen in der Vierzylinderversion knapp unterhalb des Ford Model A angesiedelt, war aber auch mit einem Sechszylinderaggregat verfügbar. So gelang es Overland, mit dem Whippet nur ein Jahr nach Beginn der Fertigung bereits auf Platz drei der Autohersteller in den Vereinigten Staaten zu landen.

Was nach US-Maßstäben ein Kleinwagen war, stieß am deutschen Markt auf lebhafte Aufnahme bei denjenigen, die ein vergleichbares vollwertiges Familienauto in dieser Preisklasse bei inländischen Herstellern offenbar vergeblich suchten.

Im erwähnten Buch von Otto Meibes von 1928 klingt dieser Befund wie folgt: „Im Bau von billigen Personenkraftwagen ist das Ausland der deutschen Automobilindustrie immer noch weit voraus.“ Zudem hält er fest, dass sich die inländischen Hersteller zuwenig an wirtschaftlichen Erfordernissen orientierten.

Gleichzeitig deutet er an, dass sie sich zu sehr mit kostenträchtigen Sporteinsätzen beschäftigten und der Bildung von Kapital zwecks Investitionen in die Ausweitung des Geschäfts zu wenig Beachtung schenkten.

Dies wog umso schwerer, als die Produzenten in Deutschland ohnehin über eine nur relativ schwache Kapitalausstattung verfügten.

So konnte es sich die Firma Overland offenbar mühelos leisten, in Berlin eine eigene Produktion des Whippet aufzuziehen, während die damals noch zahlreichen lokalen Hersteller keine Konsolidierung zustandebrachten, die zu einer wesentlichen Steigerung der Stückzahlen und damit wirtschaftlichen Vorteilen geführt hätte.

Entsprechend häufig stößt man auf historischen Fotos auf PKWs der Marke Whippet mit deutschem Kennzeichen. Hier ein weiteres Exemplar des Jahrgangs 1929:

Whippet 98A Limousine; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Der Zahl der Luftschlitze nach zu urteilen handelt es sich hierbei um eine Sechszylinderversion. Datieren lässt sich der Wagen anhand der Gestaltung des Unterteils des Kühlergehäuses auf das Jahr 1929.

Diese Aufnahme entstand übrigens im Mai 1932 in Reichelsheim im Odenwald. Den Gasthof im Hintergrund mit dem schönen Namen „Zum Schwanen“ gibt es heute noch und das Umfeld hat sich nur wenig verändert.

Neben den soliden Limousinen aus dem Hause Overland scheinen sich hierzulande auch einige sportlich wirkende Varianten des Modells „Whippet“ verkauft zu haben. So bot der Hersteller auf verkürztem Radstand auch einen hübschen Zweisitzer an.

Dieser verfügte nicht nur über eine elegante Zweifarblackierung, sondern war auch mit Drahtspeichenrädern erhältlich.

Der Wagen auf dem folgenden Foto lässt sich anhand der Zahl der Luftschlitze und der Länge des Vorderwagens als Vierzylinderversion Model 96A von 1929 identifizieren:

Whippet Model 96A Roadster; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Lassen wir nach diesem Befund nochmals Otto Meibes zu Wort kommen. Er konstatierte 1928 in Europa reichlich Exportmöglichkeiten für Kraftfahrzeuge:

„Will sich die deutsche Automobilindustrie in erhöhtem Maße an dem Weltexport beteiligen, so ist die Voraussetzung dafür, sobald wie möglich die gleiche produktionstechnische Stufe wie die der ausländischen Konkurrenz zu erreicht.“

Wie wir heute wissen, gelang dies – doch erst nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Volkswagen seinen Siegeszug antrat.

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Glamouröser Auftritt im Hinterhof: Opel 8/40 PS

Die letzten Einträge in meinem Blog für Vorkriegsautos auf alten Fotos widmeten sich eher exotischen Gefährten. Zwar ist Material genug vorhanden, um in diesem Stil weiterzumachen – nicht zuletzt aufgrund vermehrter Einsendungen von Lesern.

Dennoch will ich nicht nur außergewöhnliche Fahrzeuge und Modelle zeigen, sondern das ganze automobile Spektrum im deutschen Sprachraum dokumentieren.

So kommt es, dass heute mal wieder ein Großserienhersteller an der Reihe ist: Opel. Wobei Großserie bei dem Typ, um den es geht, eigentlich eine Übertreibung ist.

Keine 20.000 Exemplare entstanden vom Sechszylindermodell Opel 8/40 PS in den Jahren 1928-30. Bei US-Massenproduzenten entsprach das einer Monatsproduktion und deshalb bestimmten sie damals auch in Deutschland das Geschäft.

Rückblende: Ende 1927 stellte Opel mit dem Modell 7/34 PS einen kleinen Sechszylinder (1,7 Liter Hubraum) vor, um neben dem teuren 12/50 PS Typ eine preisgünstigere Alternative bieten zu können (Porträt hier):

Opel 7/34 PS bzw. 8/40 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Das war trotz der eher mäßigen Motorisierung ein ausgewachsenes Auto mit viel Platz für die rückwärtigen Passagiere in Verbindung mit 6-Zylinder-Laufkultur.

Den entscheidenden Hinweis darauf, dass das obige Foto überhaupt einen Opel zeigt, liefert die charakteristische Form des verchromten Trittschutzblechs am Schweller unterhalb der Einstiegstüren.

Die Scheibenräder mit vier Radbolzen und die Proportionen erlauben die Abgrenzung vom größeren Schwestermodell Opel 10/50 PS.

Ab 1928 war dasselbe Auto nur noch als 8/40 PS Typ verfügbar.

So hatte man den Motor bei gleicher Grundkonstruktion (Seitenventiler) auf einen Hubraum von 1,9 Liter (statt zuvor 1,7 Liter) gebracht. Die Höchstgeschwindigkeit blieb zwar bei 90 km/h, doch hatte sich das Anzugsvermögen spürbar verbessert.

Äußerlich unterscheiden ließ sich der Opel 8/40 PS vom Vorgänger 7/34 PS praktisch kaum. Mitterweile vermute ich, dass der Typ 7/34 PS noch ohne Chromradkappen auskommen musste und die erwähnten Schutzbleche in traditioneller Form trug.

Der ab Frühjahr 1928 verfügbare Nachfolger scheint dann bereits Chromradkappen und anders gestaltete Schwellerschutzbleche besessen zu haben wie dieser hier:

Opel 7/34 PS oder 8/40 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Ausschließen können wir allerdings nicht, dass die Chromradkappen (und auch die  hier erkennbaren konzentrischen Zierlinien auf den Scheibenrädern) lediglich Kennzeichen einer Sonderausstattung waren.

Dafür würde auch der nicht serienmäßige Koffer am Heck sprechen. Festzuhalten sind außerdem zwei weitere Details:

  • Die seitlichen Luftschlitze in der Motorhaube sind Teil eines aufgenieteten Blechs
  • Am Windlauf –  die Partie zwischen hinterem Haubenende und Frontscheibe – sind keine Positionslampen montiert.

Auf der folgenden Aufnahme, die eindeutig ebenfalls einen Opel zeigt, stellen sich diese Details anders dar:

Opel 8/40 PS; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Die seitlichen Luftschlitze sind nun direkt in die Motorhaube eingeprägt, was sie deutlich dezenter wirken lässt.

Am Windlauf erkennt man Positionslichter mit Chromring.

Die Scheibenräder mit vier Radbolzen und Chromradkappe sowie konzentrischer Linierung sehen zwar identisch aus, doch finden sich an der Frontpartie zwei weitere Besonderheiten, die bei den bisherigen Aufnahmen nicht zu erkennen waren:

Hier haben wir eine abgerundete Kühleroberseite und eine entsprechend glattflächige Motorhaube, während die zuvor gezeigten Wagen einen vom US-Hersteller Packard kopierten, oben geschwungenen Kühler aufwiesen,  dessen Kontur sich in der Haube nach hinten fortsetzte.

Auf den ersten beiden Fotos ist in der Haube eine Einbuchtung zu erahnen, die verrät, dass diese Wagen noch den bis Herbst 1929 gebräuchlichen Packard-Kühler besaßen.

Neben der vereinfachten Kühlerform sind außerdem die schüssel- statt trommelförmigen Scheinwerfer untrügliche Merkmale des Opel 8/40 PS, wie er nur von Oktober 1929 bis September 1930 gefertigt wurde.

Die Positionsleuchten dürften ebenso wie der am Heck montierte Koffer Merkmale einer luxuriöser ausgestatteten Version gewesen sein, wie sie Opel anbot.

Leider gibt die spärliche Literatur zu den Opel-Wagen der 1920er Jahre in diesem Punkt nicht viel her. Auch zeitgenössische Prospekte sind diesbezüglich nur bedingt hilfreich, da sie nicht immer das zeigen, was tatsächlich im Werk gebaut wurde.

Umso interessanter (u.a. für Restaurateure) sind solche Originalfotos selbst bei vermeintlichen „Brot-und-Butter“-Wagen, da sie die einstige Wirklichkeit abbilden.

Für viele Liebhaber von Vorkriegswagen – mich eingeschlossen – sind aber die auf solchen Fotos abgebildeten Menschen und das Drumherum das Salz in der Suppe:

Auf dem Ausschnitt mit der Frontpartie des Opel waren im Hintergrund einige Ölfässer zu sehen – die Heckpartie wird profan von aufgehängter Wäsche eingerahmt.

Mehr großstädtische Hinterhofatmosphäre geht kaum noch. Und doch hatte man ausgerechnet dieses Ambiente für das Foto des Opel 8/40 PS auserkoren.

Der großzügige Sechszylinderwagen mag Anlass dieser Aufnahme gewesen sein – eventuell gehörte er dem modisch gekleideten Paar auf dem Trittbrett. Doch war er wohl nur Staffage für ein Erinnerungsfoto anlässlich eines Besuchs von Verwandten.

Datieren lässt sich die Aufnahme anhand der Kleidung der Damen auf 1929/30. Der Schnitt des Kleids der zweiten Dame von links ist typisch für die 1920er Jahre, als man im Streben nach Neuem die Gürtellinie auf Hüfthöhe rutschen ließ – keine gute Idee.

Der neuwertige Zustand des Opel würde zu dieser Datierung passen. Übrigens spricht auch die niedrige Schwellerpartie für ein Modell 8/40 PS ab 1929.

Sicher ist jedenfalls, dass der hier vorliegende Abzug fast 90 Jahre in einem Fotoalbum geschlummert hat und uns Nachgeborenen von vergangenem Leben und glücklichen Momenten mit einem Opel-Automobil erzählt…

© Michael Schlenger, 2019. All entries in this blog (including embedded photos) are copyrighted by the author, unless otherwise indicated. Excerpts and links may be used, provided that credit is given to Michael Schlenger and https://vorkriegs-klassiker-rundschau.blog with appropriate and specific direction to the original content.

Ledwinkas frühes Meisterwerk: Nesselsdorf Typ T

Mein heutiger Blog-Eintrag befasst sich zur Abwechslung wieder einmal mit einer „neuen“ Marke. Anlass dazu gibt die erst kürzlich gelungene Identifikation des Wagens auf einem Leserfoto.

Einsender Jason Palmer aus Australien hat bereits wiederholt mit Originalaufnahmen von Vorkriegswagen aus dem deutschsprachigen Raum spektakuläre Beiträge geleistet (Presto Spitzkühler und Komnick Tourer).

Das Auto, um das es diesmal geht, war ein schwieriger Fall – er illustriert, dass es mitunter einige Monate dauern kann, bis sich so ein Fotorätsel lösen lässt. Solche Aufnahmen schaue ich mir in Abständen immer wieder an, bis irgendwann der Groschen fällt.

Außer Kennern der tschechischen Marke Tatra wird der Markenname „Nesselsdorf“ kaum jemandem etwas sagen. Doch wie Tatra ist er mit einem der ganz großen Konstrukteurstalente aus dem deutschen Sprachraum verknüpft – Hans Ledwinka.

So führt uns das Auto, das ich heute präsentiere, nicht nur zu den Wurzeln der Nesselsdorfer Wagenbaufabrik in der gleichnamigen mährischen Stadt (heute: Koprivnice/Tschechien) , sondern erinnert zugleich an das frühe Wirken von Ledwinka.

Zunächst ein Überblick zur Geschichte der Firma:

  • 1850: Gründung der Nesselsdorfer Wagenbaufabrik Ignaz Schustala
  • 1882: Aufnahme des Baus von Eisenbahnwaggons
  • 1890: Umwandlung in eine AG „Nesselsdorfer Wagenbau-Fabriks-Gesellschaft“
  • 1898: Bau des ersten Automobils, angelehnt an eine Benz-Konstruktion

Bereits hier kommt Hans Ledwinka ins Spiel. Er war 1897 mit 19 Jahren in die Firma eingetreten und war an den Arbeiten zum ersten Nesselsdorf-Wagen beteiligt.

Dieses 5 PS-Auto – ein Einzelstück mit dem Namen „Präsident“ – ist heute noch im Technischen Museum Prag zu bewundern.

1899 entstand dann eine Kleinserie von Nesselsdorf-Wagen, an deren Konstruktion der gerade 21-jährige Ledwinka maßgeblich beteiligt war.

Nach Sporterfolgen wie dem Sieg beim Bergrennen von Nizza nach La Turbie im Jahr 1900 war Ledwinka unter Leitung von Leopold Svitak an der Konstruktion der neuen Nesselsdorf-Modelle A und B beteiligt, bevor er 1902 die Firma verließ.

Doch schon 1906 sehen wir Ledwinka wieder bei den Nesselsdorfer Wagenbau-Werken. Ausgestattet mit neuen Erfahrungen und voller Ideen schuf Ledwinka nun eine völlig neue Reihe von Automobilen, in deren Tradition dieses Prachtstück stand:

Nesselsdorf Typ T; Originalfoto aus Sammlung Jason Palmer

Man mag es kaum glauben, doch dieses schnittige Spitzkühlermodell ab 1914 basiert maßgeblich auf dem Neuentwurf von Ledwinka aus dem Jahr 1906.

So schuf Ledwinka damals für den Nesselsdorf Typ S einen 3,3 Liter-Vierzylindermotor mit hochmodernen Konstruktionsmerkmalen: 

Die Ventile waren nicht mehr seitlich neben den Zylindern angebracht, sondern hingen im 90-Grad-Winkel im Zylinderkopf, was einen deutlich verbesserten Gaswechsel und damit mehr Leistung bei gleichem Hubraum ermöglichte.

Betätigt wurden die hängenden Ventile übrigens durch eine ebenfalls im Zylinderkopf angebrachte Nockenwelle. Das war damals eigentlich Sportwagen vorbehalten.

Die Leistungsausbeute von 20, später 30 PS mutet heute bescheiden an, doch wir befinden uns noch im Jahr 1906, in der Kinderstube des Automobils. Übrigens galten noch 30 Jahre später 30 PS Leistung in Deutschland als solider Wert...

Ledwinka hatte den Motor des Typ S vorausschauend so angelegt, dass er zu einem Sechszylinder erweitert werden konnte, der ab 1910 verfügbar war. Dieses 5 Liter große und 40-50 PS leistende Aggregat besaß eine elastische Kraftentfaltung, von der wir bei gleichstarken Wagen mit Minimalhubraum heute nur träumen können.

So fuhr der Hutfabrikant und Automobilenthusiast Fritz Hückel mit einem solchen Nesselsdorf des Typs S6 im Jahr 1912 die über 1.000 km lange Strecke von Wien nach Stettin in knapp 24 Stunden – und zwar komplett im vierten Gang!

Das Getriebe war dazu im vierten Gang arretiert worden, sodass auch nach Tankstopps keine andere Gangstufe zur Verfügung stand.

Auf den damaligen, kaum befestigten und unbeleuchteten Landstraßen über eine derartige Distanz einen solchen Schnitt binnen 24 Stunden herauszufahren, stellt eine Leistung dar, vor der man nur den Hut ziehen kann.

Der Erfolg dieses Sechszylindermodells mündete vor dem 1. Weltkrieg im 65 (z.T. auch 70) PS leistenden Typ U. Äußerlich unterschied sich dieser von den Vorgängern vor allem durch die serienmäßigen Vierradbremsen.

Auch darin schlug sich Ledwinkas Weitsicht nieder, denn Vierradbremsen sollten bei Autos im deutschsprachigen Raum erst 10 Jahre später Standard werden.

Damit haben wir zugleich ein wichtiges Merkmal zur Identifikation des Nesselsdorf auf dem Foto von Jason Palmer:

Offfensichtlich waren hier keine Vierradbremsen montiert. Dass wir es mit einem Nesselsdorf ab 1914 zu tun haben, verrät der Spitzkühler mit dem zweiköpfigen Doppeladler, der für die österreichisch-ungarische Doppelmonarchie stand.

Fast dieselbe Frontpartie mit dem Emblem findet man auf dem Foto eines Nesselsdorf von 1915, der im Standardwerk „Österreichische Kraftfahrzeuge“ von Seper/Krackowizer/Busatti (Verlag Welsermühl, 1982) auf Seite 51 abgebildet ist.

Die Aufschrift „K.u.k. Autotruppe“ verweist übrigens auf die Verwendung des Nesselsdorf bei der Armee der Habsburger Doppelmonarchie im 1. Weltkrieg.

Aus den Proportionen des Vorderwagens und speziell dem Raum, den die seitlichen Luftschlitze in der Motorhaube einnehmen, ist abzuleiten, dass wir hier ein Vierzylindermodell des Typs T vor uns haben, der sich vom Vorgängertyp S unter anderem durch die in einem gemeinsamen Block gegossenen Zylinder unterschied.

In der Sechsyzlinderausführung S6 bzw. U war die Haube länger und die Luftschlitze beschränkten sich auf das hintere Drittel.

Ob die Insassen dieses Nesselsdorf im Militäreinsatz der österreichischen oder der ungarischen Armee angehörten, werden sachkundige Leser aufklären können:

Festgehalten seien an dieser Stelle nur folgende Details:

  • komplett fehlende (nicht lediglich nach vorn umgeklappte) Windschutzscheibe,
  • zwei mechanische Ballhupen in Griffweite neben dem Lenkrad,
  • Schalthebel und Handbremse außenliegend wie damals Standard,
  • Benzinkanister in typischer Dreiecksform, mit Riemen am Trittbrett befestigt,
  • Ersatzfelge mit Reifen, zweite bereifte Felge fehlt (siehe leere Halterung),
  • glatte Seitenpartie mit eingelassener Tür ohne außenliegenden Griff,
  • niedergelegtes, dünnes Verdeck – typisch für Tourenwagen ohne Seitenfenster.

Nichts davon ist marken- oder gar typspezifisch. Eine Identifikation solcher Wagen aus der Zeit vor 1925 ist meist nur anhand des Vorderwagens möglich, so auch hier.

Über Stückzahlen und etwaige überlebende Fahrzeuge der von Hans Ledwinka konstruierten Nesselsdorf-Typen S, T und U ist mir nichts bekannt.

Auch das Standardwerk von Wolfgang Schmarbeck zur „Geschichte der Tatra-Automobile“ (Verlag Uhle & Kleimann, 1989) schweigt sich dazu aus, obwohl die Vorgängerfirma Nesselsdorfer Wagenbau dort einigen Raum einnimmt.

Eines noch zum Abschluss: Die auf Hans Ledwinkas Konstruktionen von 1906 und 1910 basierenden Motoren trieben die Vier- bzw. Sechszylinder-Modelle T und U noch bis 1925 an, dann unter dem neuen Markennamen Tatra.

Hans Ledwinka war unterdessen zum zweiten Mal zu „seiner“ Firma zurückgekehrt und sollte dort noch zu großer Form auflaufen – doch das ist eine andere Geschichte…

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Landauline von Kathe am Nürburgring – Wanderer W11

Der Titel meines heutigen Blog-Eintrags klingt schon ein wenig merkwürdig. „Landauline von Kathe“ – das könnte glatt der Name einer adligen Dame aus einem Fontane-Roman sein, der auf einem Gut in der Mark Brandenburg spielt.

Zwar ist das letztlich „nur“ die Bezeichnung eines großbürgerlichen Vorkriegsautos. Doch dieses erweist sich als so außergewöhnlich, dass es eigentlich an Verschwendung grenzt, es gleich nach dem jüngsten „Fund des Monats“ zu bringen.

Das wurde mir aber erst klar, nachdem ich mich bereits für die Vorstellung des folgenden Fotos entschieden hatte:

Wanderer 10/50 PS (W11) Landauline; Originalfoto aus Sammlung Martin Möbus

Diese schöne Aufnahme verdanken wir Diplom-Restaurator Martin Möbus, der nebenbei in punkto Erhalt historischer Technik eine sehr kluge Auffassung vertritt:

„Restaurieren heißt nicht wieder neu machen, sondern das Vorhandene erhalten und nach besten Möglichkeiten zur Geltung zu bringen. So können auch typische Gebrauchsspuren erhalten werden, die dem Objekt erst ihre charakteristische Ausstrahlung verleihen. Spuren der Vernachlässigung (Rost, zerbrochene Teile) werden jedoch möglichst reduziert. Dadurch wird ein geschlossenes Gesamtbild erzielt.“

So schön das Foto auch ist, war mir wie gesagt zunächst nicht klar, was für eine Rarität es zeigt. Klar war nur, dass es sich um eine Aufnahme eines Wanderer des Sechszylindertyps 10/50 PS (Typ W11) von 1929/30 handelt.

Von diesem ersten luxuriösen Wagen der konservativen Marke aus Chemnitz habe ich hier schon einige reizvolle Fotos präsentiert. Diese werden uns bei der genauen Eingrenzung von Baujahr und letzlich Aufbau behilflich sein.

Außerdem ist doch so eine Sechsfenster-Limousine des Wanderer Typ W11 immer wieder ein Genuss, oder etwa nicht?

Wanderer 10/50 PS (W11); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Nach angemessener Würdigung des Fotomodells auf dem Trittbrett möge sich der Leser nun auf die formalen Merkmale dieses Wanderer-Wagens konzentrieren:

  • verchromte Kühlermaske mit lackierten Lamellen
  • vollverchromte Scheinwerfer mit kegelförmigem Gehäuse
  • Blinker auf den Vorderschutzblechen
  • Doppelstoßstangen nach amerikanischem Vorbild
  • tief geschüsselt ausgeführte Scheibenräder

So präsentierte sich die Limousine des 1928 vorgestellten Wanderer 10/50 PS (Typ W11) ab 1929.

Ebenfalls als eindrucksvolle Sechsfensterlimousine ausgeführt war dieses Exemplar:

Wanderer 10/50 PS (W11); Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Abgesehen von der charmanten Besatzung ist es hier das am Heck montierte Ersatzrad, auf das der Blick fällt. Dies war die standardmäßige Montageweise, was später noch von Bedeutung sein wird.

Die Identifikation dieses Wagens war übrigens gar nicht so einfach – denn der Aufbau mit Zweifarblackierung und gefällig gestalteten seitlichen Zierleisten hätte auch zu einem beliebigen US-Modell jener Zeit passen können.

Hinweise auf den Wanderer gaben letzlich die fehlende Fortsetzung der Zierleiste auf der Motorhaube, die fein ausgeführten und recht niedrigen Luftschlitze in derselben sowie das sich schemenhaft abzeichnende geflügelte „W“ auf dem Kühler.

Auf den ersten Blick dasselbe Farbschema sehen wir auf dem folgenden Foto von Leser Klaas Dierks, das eines von vielen Beispielen für den lässigen Umgang der einstigen Besitzer mit diesen teuren Fahrzeugen ist:

Wanderer 10/50 PS (W11); Originalfoto aus Sammlung Klaas Dierks

Auch hier springt der Verzicht auf eine seitliche Zierleiste auf der Haube ins Auge, die man bei zeitgenössischen amerikanischen Wagen erwartet hätte. Nun ist auch das erwähnte Wanderer-Emblem auf dem Kühler in wünschenswerter Schärfe zu sehen.

Wo aber sind die Wanderer-typischen Blinker auf den Vorderschutzblechen geblieben? Zwar verschwanden diese beim Wanderer 10/50 PS Typ W11 ab 1931, dies ging jedoch mit neu gestalteten Schutzblechen einher.

Hier haben wir aber noch die mit ausgeprägten Sicken und vorne abfallendem Profil versehenen Kotflügel, die bis 1930 verbaut wurden.

Die Erklärung ist wohl die, dass der Besitzer dieses Wanderer ab 1931 ebenfalls auf die dann üblichen Winker am A-Holm umrüstete, die man hier gut erkennen kann.

Denkbar, dass bei der Gelegenheit auch die Sonnenschute am vorderen Dachende passend zur Haube hell lackiert wurde. Normalerweise war diese nämlich in der Farbe des Dachs gehalten wie bei den zuvor gezeigten Bildern.

Gut lassen sich hier die konzentrischen Zierlinien auf den Scheibenfelgen studieren. Diese können in Zweifelsfällen bei der Identifikation ebenso helfen wie die horizontalen Sicken im Schwellerblech, die das Bauteil weniger kastig wirken lassen.

Nach diesen Vorstudien kehren wir mit geschärftem Blick zurück zum Ausgangsfoto von Martin Möbus:

Kein Zweifel: Das ist ebenfalls ein Wanderer 10/50 PS (Typ W11) ab 1929. Doch hier fallen einem jede Menge Abweichungen von den bisher gezeigten Fotos auf:

  • Die Kühlerlamellen sind nicht in Wagenfarbe lackiert – das kann ein Kundenwunsch gewesen sein,
  • Die Stahlspeichenräder wichen parallel zur Einführung der vollverchromten Stoßstangen und Scheinwerfern 1929 eigentlich den erwähnten Scheibenrädern – denkbar dass entweder Altbestände montiert wurden oder der Käufer es so wollte,
  • Gravierender ist die seitliche Montage des Ersatzrads, die man beim Werkstourer oder bei den von Ambi-Budd, Gläser und Reutter gelieferten Limousinenaufbauten nicht findet, jedenfalls nicht vor 1931 (Wegfall der Blinker und neue Kotflügel).
  • Völlig anders sind auch Gestaltung und Farbgebung der Zierleisten, ebenfalls ist die filigrane Ausführung der verstellbaren Sonnenschute.

Die markanteste Eigenheit ist aber das niedergelegte Verdeck am Heck. Wie passt das zu den festen Türrahmen einerseits und dem komplett offenen Dach andererseits?

Ein viertüriges Cabriolet ist das jedenfalls nicht, dort gäbe es statt der rundherumabschließenden Türrahmen nur oben endende Kurbelscheiben in schmalen Führungen. Auch ein Sedan-Cabriolet kommt nicht in Betracht.

Man könnte von einer Art Cabrio-Limousine sprechen, doch diese Mischform findet man bei sechsfenstrigen Aufbauten eigentlich nicht. Zudem würde dort das gefütterte Verdeck stärker auftragen.

Hier dagegen sitzen die Passagiere bei niedergelegtem Verdeck fast im Freien. Ist das dann nicht ein Landaulet? Nein, dann würde sich das Verdeck nur hinten öffnen lassen.

Ein Landaulet weist in der hinteren Dachpartie eine entsprechende Nahtstelle auf wie dieser Wanderer 10/50 PS (W11), der 2016 bei den Classic Days auf  Schloss Dyck zu bewundern war (Bericht mit Farbfotos hier):

Bei dem Wanderer W11 auf dem Foto von Martin Möbus dagegen reicht das Verdeck über die gesamte Dachlänge.

Den Schlüssel zur Lösung liefert schließlich das Standardwerk „Wanderer Automobile“ von Th. Erdmann/G. Westermann (Verlag Delius-Klasing).

Dort wird nämlich bei der Auflistung der wichtigsten Karosseriehersteller für den Wanderer W 10/50 PS (W11) ein Aufbau genannt, den ich bis dato nicht kannte. So lieferte die Firma Kathe aus Halle eine Karosserie mit der Bezeichnung „Landauline“.

Dabei handelt es sich gewissermaßen um ein Mittelding zwischen einem Landaulet und einer Cabrio-Limousine. Beispiele für solche Landauline-Aufbau von Kathe auf Wanderer-Basis sind im Coachbuild-Forum hier zu finden (weiter unten).

Doch selbst dort ist keine Landauline auf Grundlage einer Sechsfenster-Limousine  abgebildet. Für Horch bot Kathe aber genau so etwas an (siehe hier).

Nach der Lage der Dinge ist der Wanderer W11 aus dem Fundus von Martin Möbus bislang der einzige, der einen solchen Landauline-Aufbau in Kombination mit sechs Seitenfenstern besaß. Über weitere Beispiele freue ich mich natürlich!

Bleibt die Frage, wo der seltene Wanderer 10/50 PS einst seine gutgelaunten Insassen hintransportiert hatte, als die Aufnahme entstand. Nun, der Hintergrund verrät es:

Auch wenn sich das Umfeld im 21. Jh. nicht mehr so idyllisch zeigt, ist doch die Ansicht der Nürburg in der Eifel im wesentlichen dieselbe geblieben.

Wie es der Zufall will, habe ich vor längerer Zeit bereits ein Foto gezeigt, das zwar etwas früher entstanden war, aber aus sehr ähnlicher Perspektive aufgenommen wurde.

Auf diesem Foto hatte sich ein Hanomag 2/10 PS „Kommissbrot“ versteckt, inmitten einer Ansammlung von Autos der frühen 1920er Jahre, die einen heute in Freudentränen ausbrechen lassen würde.

Die Wagen standen damals einfach auf einer Wiese herum – der Anlass war die Eröffnung des Nürburgrings 1927!

Parkplatz am Nürburgring 1927; Originalfoto aus Sammlung Michael Schlenger

Wer sich nochmals mit dieser tollen Aufnahme befassen und auf die Suche nach dem winzigen Hanomag gehen möchte, kann das hier tun.

Klar ist damit jedenfalls, dass auch der Wanderer 10/50 PS mit Landauline-Aufbau von Kathe einst vor der Kulisse der Nürburg gehalten hatte und dort von einem der Mitreisenden fotografisch festgehalten wurde.

Dass diese schöne Aufnahme nach über 80 Jahren immer noch soviel Vergnügen bereiten und Anlass zu allerlei Recherchen geben kann, das hätten sich die Insassen sicher nicht gedacht.

Uns Nachgeborenen bleibt nur, danke zu sagen für diese unwiderbringliche Ansicht:

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